Glauben im AlltagMeine Trostformel

Liebe deine Feinde! An Jesu radikaler Ethik kann man im Alltag nur scheitern. Doch das ist kein Grund, daran zu verzweifeln.

Die kleine Provokation eines Freundes, man könne doch heute nicht mehr „ernsthaft“ Theologie treiben, parierte ich mit der Losung: „Krummes Holz – aufrechter Gang“. Sie nahm nicht nur dem Freund etwas Wind aus den Segeln, wir lachten auch herzhaft und fragten uns, ob die Antwort nur eine Pointe war oder schon das Glaubensbekenntnis. Nun, zunächst ist es vor allem ein Buchtitel. Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer fügte vor 50 Jahren zwei Metaphern aneinander. Krummes Holz – so nannte Immanuel Kant den Menschen. Der Aufklärer aus Königsberg veranschaulichte damit die Schwere des Menschseins; die unsichere Position als Natur- und Kulturwesen. Kant war überzeugt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Der Philosoph und Neomarxist Ernst Bloch hingegen, der mit seinem ab 1954 veröffentlichten Werk „Prinzip Hoffnung“ Aufsehen erregte, stellte den aufrechten Gang des Menschen in den Mittelpunkt – als Beschreibung genauso wie als Ziel. Der Mensch sei kein Kriechtier, er solle sich im aufrechten Gang üben und so seine Würde, sein Fortschreiten und auch seine Standhaftigkeit ausdrücken.

Die Losung „Krummes Holz – aufrechter Gang“ begleitet mich seit der ersten Begegnung mit Gollwitzers Buch in den 1980er Jahren. Es ist eine Denkfigur und zugleich eine Trostformel. Gerne greife ich auf sie zurück, wenn ich mich „unerhörten“ Texten annähere. „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen“, heißt es im Sonntagsevangelium. Und: „Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück“ (vgl. Lk 6,27–38). Diese Zurufe gehören zu den härtesten Stücken aus Jesu Lehre, unzählige Male wurden sie kommentiert, angemahnt, verworfen. Für unseren Alltag scheinen sie kaum tauglich. Den Feind lieben, ihm Gutes tun, die andere Wange hinhalten – wie soll das gehen, psychologisch wie praktisch? Und beinhaltet das Leihen in jedem funktionierenden System nicht die berechtigte Erwartung einer Rückgabe? So haben wir uns wohl einzugestehen, dass solche Forderungen unser krummes Menschsein nicht erreichen. Wenn wir ihnen im Gottesdienst begegnen, hören wir andächtig zu. Praktisch bleiben sie eher ein Heiliger Gral denn gelebter Alltag.

Doch womöglich beginnt der aufrechte Gang genau an dieser Stelle. Auch wenn wir wissen, dass wir den „Feind“ nicht lieben können und das Geliehene gerne zurückhaben möchten, ist uns klar, dass alles Wichtige mit Großzügigkeit, Verzeihen, mit Humor sich selbst gegenüber seinen Anfang nimmt. Es ist kein Zufall, dass es die Erzählungen vom barmherzigen Vater, von Zachäus und dem helfenden Samariter sind, die uns am tiefsten berühren, die wir – hohe Theologie hin oder her – als Kernstücke der Evangelien verstehen. Sie bilden den lebbaren Teil der Lehre am Berg. Der Vater kommt dem Sohn, der nach mancherlei Dummheiten „ganz unten“ ist, mit offenen Armen entgegen. Zachäus, der ungeliebte Zöllner, darf von seinem hohen Baum herabsteigen und wird ein ehrliches Leben anfangen. Der Außenseiter aus Samarien greift in der Not beherzt ein und wird von dem galiläischen Gottesboten als ein Vorbild gepriesen. So sollte es sein, das wissen wir, auch wenn der Alltag von vielen ungeduldigen Momenten und eher von grauen denn glänzenden Entscheidungen geprägt ist. Der aufrechte Gang aber verweist auf das Gehen, auf den weiten Horizont, auf einen Weg. Wer geht, kennt den Weg niemals ganz. Es kann gut gehen oder schieflaufen, es können neue Wege in den Blick kommen, die unsere Sichten auf Himmel und Erde überraschend weiten. Nur loslaufen, das müssen wir schon. Jesu Zurufe sind unerhört, doch nicht hoffnungslos. Auch wir, aus krummem Holz geschnitzt, können mehr Liebe, Gebet und Segen wagen.

Anzeige: Meine Hoffnung übersteigt alle Grenzen. Ein Gespräch über Leben und Glauben. Von Philippa Rath und Burkhard Hose

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