Lorenz MartiGeöffnetes Fenster

Dietrich Bonhoeffer hat den Satz geprägt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Dieser Satz ist eine Provokation – und womöglich eine Überforderung. Sonst hätte er mehr ausgelöst als bloß ein freundliches Kopfnicken unter aufgeklärten Theologen. So richtig er auch ist, bewirkt hat er wenig. Nach wie vor wird vielerorts ein Gott gepredigt, den es durchaus gibt, als Person, ausgestattet mit einer ganzen Reihe von Eigenschaften. Das Unbedingte wird zu etwas Bedingtem, geformt nach menschlichen Vorstellungen.

Wer damit nichts anzufangen weiß oder sich sogar darüber ärgert, befindet sich in guter Gesellschaft: Die jüdisch-christliche Tradition kennt seit ihren Anfängen den Protest gegen feste Gottesbilder und die Kritik an Sätzen, welche das Unbedingte verdinglichen, indem sie es in Begriffe sperren. Proteste, Einwände und Fragen sind keine Störungen, im Gegenteil: Sie sind notwendig, damit die Suche nach dem Unbedingten nicht ständig bei Dingen aufläuft. In Opposition zum bürgerlichen Kirchenchristentum seiner Zeit setzt der Dichterphilosoph Novalis ganz auf die Kraft der Poesie. Der Sinn für Poesie ist der Sinn für das Unbekannte und Undarstellbare. Poesie ist der Weg, um die Welt in ihrer Tiefe auszuloten, ohne dabei das Unbedingte zu verdinglichen. Sie öffnet Fenster zum Unsichtbaren. Wer hinausschaut, sieht nichts – und ahnt vieles.

Lorenz Marti in: „Türen auf!“ (Herder, Freiburg 2019)

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