Fazit
Bei allen Chancen, die Homeoffice bereithält, um die Arbeit an die Bedürfnisse der Beschäftigten besser anzupassen, darf man mögliche Risiken wie Überforderung und Selbstausbeutung nicht übersehen. Homeoffice kann insbesondere die Illusion fördern, man könne, auf sich allein gestellt, der Arbeit die größeren Selbstentfaltungspotenziale entlocken. Deshalb ist vielfältige Unterstützung unverzichtbar.
Noch reichen die Erfahrungen im Umgang mit dieser Arbeitsform nicht aus, um die möglichen Folgen für den Einzelnen, die Unternehmen, unsere Solidarsysteme abschätzen zu können. Die aktuelle Debatte ist von Widersprüchen geprägt – wissenschaftliche Beobachter und diverse Interessenvertretungen ringen um die Deutungshoheit: Auf der einen Seite verbindet man mit ihr die Verheißung von Flexibilität – „Work-Life-Balance“, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, kein Pendeln zur Arbeitsstätte, mehr Effizienz –, ja von Selbstentfaltung und Freiheit. Auf der anderen Seite wird vor Überforderungen gewarnt – vor psychischen Erkrankungen (Burnout), Einsamkeit, Entsolidarisierung. Überhaupt sei Homeoffice nicht für alle möglich und fördere neue Spaltungstendenzen.
Wandel der Arbeitsgesellschaft
Diese Einschätzungen erinnern an eine schon etwas ältere Debatte über die „Flexibilisierung“ unserer Arbeitswelt. Sie erinnern auch an die Diskussionen über Moderne und Postmoderne, sofern sich Gleichförmigkeit, Homogenität, Regelmäßigkeit einerseits und Einzigartigkeit und Singularität andererseits im Verständnis und in der Organisation unserer Arbeitswelt niederschlagen. Ob schließlich die Tendenz zum Homeoffice, unabhängig von der Corona-Pandemie, von der Digitalisierung angetrieben wird oder eher als Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses zu deuten ist, ist unklar – jedenfalls spielen die technischen Möglichkeiten eine große Rolle.
In der vormodernen Gesellschaft waren Arbeit und Familie noch Schöpnicht getrennt, „Heimarbeit“ – die deutsche Sprache kennt auch diese Bezeichnung – ist also die ursprünglichere Form. Im Zuge gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Industrialisierung löste sich diese Einheit allmählich auf, auch wenn die Heimarbeit keineswegs völlig verschwand. Eines der zentralen Merkmale der Erwerbsarbeit in Industriegesellschaften, die noch heute die Arbeitswelt prägen, ist ihre räumliche Konzentration in einer entsprechenden Produktionsstätte oder einem Betrieb, verbunden mit einer Rationalisierung über präzise Vorgaben über die zu erbringende Leistung (Taylorisierung). Man spricht auch von einem „Vollzeit-Normal-Arbeitsverhältnis“, sofern es sich um eine abhängige, unbefristete, sozialversicherungspflichtige, den Lebensunterhalt sichernde und, wie gesagt, in einem bestimmten Betrieb ausgeübte Tätigkeit handelt.
Wenn heute von „Homeoffice“ die Rede ist, geht es zunächst um den räumlichen Aspekt von Arbeit, um die Arbeit, die aus dem privaten Umfeld, von zuhause aus erledigt werden kann. Auch hier, wie in anderen Lebensbereichen, hat die Digitalisierung den Trend durch die Relativierung von Zeit und Raum verstärkt – mit „Homeoffice“ ist in der Regel ein mit (digitaler) Kommunikationstechnik ausgestatteter Arbeitsplatz gemeint, der Kommunikation zu allen Tages- und Nachtzeiten möglich macht. Eine Folge dieser Relativierung ist ihre „Wiederentdeckung“.
Greift man auf die in den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen üblichen Kategorien zurück, kann Homeoffice als Ausdruck einer umfassenden Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt verstanden werden, eines Prozesses, der sich in Verbindung und durch Wechselwirkung mit anderen neuen, durch die Digitalisierung ermöglichten Formen von Arbeit weiter verstärkt – man denke an die sogenannte Plattformökonomie, an Solo-Selbständigkeit, Gig Economy, Crowdwork u.a. Außerdem liegt es nahe, Homeoffice als Teil einer „Entgrenzungsdynamik“ zu begreifen, die die Grenzen zwischen Ökonomie und anderen Lebensbereichen verschwimmen lässt; mit Jürgen Habermas könnte man auch und metaphorisch von einer „Kolonialisierung“ der Privatwelt sprechen. Zudem wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es vor allem die gut Qualifizierten sind, die in den „Genuss“ von Homeoffice kommen können, weil deren Tätigkeitsbereiche Handlungsspielräume bereithalten und mehr Mitverantwortung erwarten. Nicht zuletzt aus diesem Grund verbinden sich für viele mit dieser Arbeitsform besondere Selbstverwirklichungshoffnungen – über die generelle Wertschätzung hinaus, die die Erwerbsarbeit als Mittel zur Sozialisation und Identitätsstiftung für den modernen Menschen bedeutet.
Wie kann man diesen Prozess bewerten, der Homeoffice nahelegt, befördert oder zur Pflicht macht? Das Interesse der nun folgenden sozialethischen Überlegungen besteht vor allem darin, vor falschen Idealisierungen und überzogenen Erwartungen zu warnen.
Christliche Sozialethik und Arbeit
Für die christliche Sozialethik hat Arbeit einen sehr hohen Stellenwert. Im Gemeinsamen Wort der beiden Kirchen in Deutschland heißt es etwa, sie diene der sozialen Integration, der Existenzsicherung und der persönlichen Entfaltung. Diese Bestimmung reiht sich ein in die Tradition katholischer Sozialverkündigung: Spätestens mit der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von 1891 steht die Arbeit im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.
Aus christlicher Sicht kann Arbeit als ein „Instrument der Befreiung“ bestimmt werden. Aber Freiheit gibt es nicht bedingungslos. Der Glaube daran, dass Gott es ist, der Freiheit schenkt, dass Freiheit eine Gabe Gottes ist, will daran erinnern, dass es keine Freiheit ohne Bindung geben kann. Freiheit ist in diesem Sinne „nicht in erster Linie eine negative Freiheit“, sondern eine positive Freiheit, die wir gemeinsam schaffen müssen; sie ist „Freiheit zur Nächstenliebe“. Der Glaube befreit von der Last, unmittelbar durch sich selbst sein zu müssen. Und es kommt noch etwas hinzu: Weil Arbeit aus christlicher Sicht nicht nur Teilhabe am Schöpfungswert Gottes ist, sondern auch Ausdruck seiner Sündhaftigkeit – Zwang, Mühe, Last bedeutet –, kann und soll der Mensch nicht in der Arbeit aufgehen. Beides, ihre Hochschätzung als Mittel zur Selbstentfaltung und die Warnung vor ihrer Überbewertung, sind zentrale Motive einer Theologie der Arbeit. Eine solche Sicht auf die Arbeit kann sie nicht ethikfrei denken, weil es die konkreten Arbeitsbedingungen sind, die Freiheit vermitteln und insofern mit einer bestimmten Verhaltensaufforderung verbunden sind – der Einsatz digitaler Geräte verändert diese Bedingungen; sie erweitern oder beschränken Freiheitsräume.
Nicht zuletzt deshalb richtet die christliche Sozialethik ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Prozesse, die dazu neigen, den Menschen zu manipulieren. Der Glaube kann helfen, die dafür nötige Distanz zu wahren – sich nicht mitreißen zu lassen von Versprechungen, die mit der Digitalisierung verbunden sind, nicht alles von der Arbeit zu erwarten und gerade dadurch den nötigen Spielraum für verantwortliche Gestaltung zu gewinnen. Sie geht kritisch den Illusionen nach, die sich zwangsläufig bilden, wenn gesellschaftliche Veränderungen um sich greifen oder gar „Hype-Charakter“ annehmen, wie im Umgang mit der Digitalisierung zu beobachten ist. Deshalb treten die beiden großen Kirchen in Deutschland sowohl für ein Menschenrecht auf Arbeit als auch für die Relativierung der Erwerbsarbeit ein.
Subjektivierung der Arbeit
Dieser kritische und gleichwohl nüchterne Blick auf die Freiheitspotenziale der Arbeit findet sein begriffliches „Widerlager“ im Strukturbegriff „Subjektivierung“, so lautet die These. Bedeutet die Entgrenzung der Arbeit mit ihrer Relativierung der räumlichen Trennung von Beruf und Privatleben eine „Subjektivierung“ der Arbeit? Diese Frage wird in der wissenschaftlichen Debatte schon länger gestellt und bezieht sich zunächst auf Organisationskonzepte im Betrieb, die auf mehr Eigenverantwortung der Beschäftigten setzen (flache Hierarchien, Teamarbeit, Projektarbeit u.a.). Wird diese Entwicklung durch Homeoffice nur mehr verstärkt? Für die Sozialethik sind diese Fragen deshalb von besonderem Interesse, weil es um Bedingungen von Selbstentfaltung und Freiheit geht.
Das Phänomen der Subjektivierung wird vor allem in der Soziologie der Arbeit aufgegriffen. So beobachtet beispielsweise Axel Honneth eine umfassende, durch die Digitalisierung noch einmal verstärkte Deregulierung und Individualisierung des Arbeitsmarktes. Hartmut Rosa, um einen weiteren prominenten Diagnostiker der Moderne zu Wort kommen zu lassen, deutet ganz ähnlich, wenn er feststellt, wir seien in einer „atomistisch-monadistischen“ Gesellschaft angekommen. An die Stelle „der älteren Ideen, wonach Chancengleichheit, Arbeitsplatzverbesserungen und Mitbestimmung erforderlich seien, um die normativen Versprechungen des Arbeitsmarktes zu erfüllen“, sind, so Honneth kritisch, „längst Programme der allseitigen Selbstaktivierung getreten, die mit blankem Zynismus suggerieren, jeder sei für sein Erwerbsschicksal ausschließlich allein verantwortlich.“ Als Belege für diese Diagnose führt er unter anderem an, dass man den eigenen Arbeitgeber kaum noch zu Gesicht bekomme, Leistungsanforderungen „individuell zu verinnerlichen“ seien und „kollektive Abwehrreaktionen“ kaum noch beobachtet werden könnten, von Mitbestimmung ganz zu schweigen.
Die Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft verlagert sich also, weg von den strukturellen und organisatorischen Bedingungen und hin zur Selbstverantwortung des einzelnen Beschäftigten – mit der nicht unproblematischen Folge, dass der Einzelne Kontrolle und Regelhaftigkeit von Arbeit verstärkt aus sich heraus schaffen muss. Solidarisches Bewusstsein zu entwickeln, ob im Betrieb oder überbetrieblich (etwa durch Gewerkschaften), dürfte ebenfalls schwerer werden. Ob damit auch die sozialen Risiken wie bei der sogenannten „Solo-Selbständigkeit“ (oder Scheinselbständigkeit) schleichend individualisiert werden, ist zumindest die Frage.
Für Armin Nassehi, um ein letztes Beispiel für eine solche Diagnose zu nennen, führt die Entgrenzung der Arbeit im Zuge der Digitalisierung zu Distanzverlust – das „arbeitende Subjekt“ kann „selbst keine Distanz mehr zu seiner Arbeit aufbauen“. Distanzverlust bedeutet, nur scheinbar paradox, Entpersönlichung, Verlust von Spielraum, Kreativität und Selbstentfaltung. Die Auflösung der etablierten Arbeitsstrukturen, so die Sorge, wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück und lässt ihn allein. Nassehi ist zu Recht davon überzeugt, dass der Arbeitende „Spielräume“ braucht, „Distanzierungsmöglichkeiten“, „einen unorganisierten und unorganisierbaren Rest, um wirklich selbst zu arbeiten und nicht im Arbeitsprozess selbst aufzugehen“. Auf den ersten Blick und für „Selbstorganisationsvirtuosen“, die die nötige Selbstdisziplin aufbringen, mag diese Bedingung durch Homeoffice gegeben sein. Für viele bleibt sie jedoch eine (nur) abstrakte Möglichkeit, solange die dafür nötigen Hilfen fehlen. Solche Szenarien, das ist das Perfide, können eine Illusion erzeugen, die glauben lässt, mehr Selbstentfaltung könne gerade in der Abwendung von den Zwängen der (Arbeits-)Welt realisiert werden, eben durch Rückzug ins Private. (Die von einigen vorgetragene Sorge, dass Homeoffice zur Ausbeutung der Firma durch den Mitarbeitenden führen könnte, scheint sich nicht zu bestätigen). Wie die Erfahrung lehrt, ist es sehr schwer, gerade dort „Distanz“ zur Arbeit aufzubauen.
Homeoffice gestalten
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Homeoffice für viele möglich ist. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass diese Organisationsform auch in Zukunft zum festen Bestandteil von Arbeit gehören wird. Die Herausforderung besteht darin, nüchtern zu analysieren (es braucht mehr Wissen über die Wirkungen) und diese Form der Arbeit ethisch richtig zu gestalten. Diese Aufgabe kann nicht allein Ökonomen und Juristen überlassen werden. Durch vielfältige Unterstützung auf individueller, organisatorischer und systemischer Ebene kann der Gefahr der Überforderung und Selbstausbeutung begegnet werden: durch eine Anpassung des Arbeitsrechts, durch Hilfen für die Organisation daheim (Kurse zum Zeit- und Selbstmanagement) und die Unterstützung technischer und räumlicher Ausstattung, durch entsprechende Gestaltung der digitalen Kommunikation zwischen Betrieb und Mitarbeitenden (klare und transparente Regeln), durch die Ermöglichung von Solidarisierung der Beschäftigten. Wahrscheinlich wird sich der Anteil der ausschließlich im Homeoffice Arbeitenden auch weiterhin in Grenzen halten. Auch aus ethischer Sicht sind „hybride“ Formen naheliegender, also eine Kombination von Anwesenheitszeiten im Betrieb und Arbeiten von zuhause – eine solche Option von Flexibilisierung könnte tatsächlich den individuellen Bedürfnissen entgegenkommen, vorausgesetzt, die Beschäftigten bekämen die Chance, entsprechende Vereinbarungen mitzubestimmen