Letzter Vorbehalt

Immer wenn gesellschaftliche Konflikte die juristische Ebene erreichen, wird die Fragestellung verengt: Handelt es sich bei der Letzten Generation um eine „kriminelle Vereinigung“ im Sinne von §129 StGB? Juristisch gesehen besteht Interpretationsspielraum. Um den Tatbestand der Kriminalität zu erfüllen, müssen „Zweck oder Tätigkeit“ der Vereinigung „auf die Begehung von Straftaten gerichtet“ sein. Die Blockaden der Letzten Generation – die übrigens, was die Aktionsform betrifft, vergleichbar mit den Straßenblockaden von Bauernprotesten sind – haben aber erklärtermaßen ein anderes Ziel, nämlich die Klimakatastrophe zu verhindern. Man mag zwar darüber streiten, ob die Aktionen diesem Ziel effektiv dienen oder ob sie dem Anliegen vielleicht sogar eher schaden - wie ich persönlich meine. Aber das bedeutet nicht, dass man den Aktivistinnen
und Aktivisten der Letzten Generation unterstellen kann, sie würden einen anderen Zweck verfolgen als den, den sie angeben.

Nun gilt die Errichtung von Straßenblockaden in der aktuellen Rechtsprechung als „strafbare Nötigung“. Und der Zweck heiligt auch nicht die Mittel, nicht der Zweck der Verhinderung der Klimakatastrophe. Darauf berufen sich jedenfalls diejenigen, die von den strafbaren Handlungen auf die Kriminalität der Vereinigung schließen. Doch das ist zu kurz gegriffen. Die Rechtsprechung hat auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu achten, zumal der Anfangsverdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mit erheblichen Ermittlungsbefugnissen verbunden ist. Nicht jede Straftat legitimiert einen so schwerwiegenden Anfangsverdacht. Neben der strafbaren Nötigung müsste etwa eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit festgestellt werden. Doch ob diese im Falle der Letzten Generation besteht, darf man mit guten Gründen bestreiten. Es bleibt also Ermessensspielraum. Die Gefahren des Klimawandels müssen gesellschaftlich diskutiert werden. Unterschiedliche Einschätzungen der Lage müssen möglich bleiben. Dazu ist es ratsam, sprachlich abzurüsten, auf beiden Seiten: Weder sind die Sitzblockierer „Kriminelle“, noch machen sich demokratisch gewählte Politiker des „Mordes“ an künftigen Generationen schuldig, wenn sie, auch mit Kompromissen, Verantwortung übernehmen.

Schon im Frühjahr wurden Stimmen laut, die der Letzten Generation „Parallelen zu einer Sekte“ bescheinigten (Michael Utsch, Domradio, 11.2.2023). In einer neueren Publikation über geistlichen Missbrauch wird die Gruppierung als „geschlossenes System“ bezeichnet; ihre Mitglieder dächten und lebten in einer Hermetik, die typisch für Vereinigungen sei, in denen die Gefahr des emotionalen Machtmissbrauchs lauert: „Heilige Wissenschaft“ (Jay Lifton), hoher Loyalitätsdruck nach innen, Reinheitsdenken, Schwarz-Weiß-Weltbild, Bereitschaft zur Selbstaufopferung, u.a. (vgl. Stephanie Butenkemper: Toxische Gemeinschaften. Rezension in diesem Heft: S. 638 f.). Solche Einschätzungen liegen auch auf der Linie der Sorgen und Ängste aus Familien- und Freundeskreisen von Aktivisten, die sich bei staatlichen Sekten-Infos oder bei kirchlichen Sektenbeauftragen melden.

Ist der Sektenvorwurf noch diskussionswürdige Kritik, oder ist er schon Diffamierung? Hier steht eine Unterscheidung der Geister an. Kategorien der Abwägung und des Kompromisses verfangen bei den Aktivistinnen und Aktivisten tatsächlich nicht. Argumente auf dieser Ebene sagen ihnen nichts, was sie nicht schon längst wüssten und bedacht hätten. Sie machen weiter, trotz aller Gegenargumente und Anfeindungen. Dafür berufen sie sich auf die Traditionen des Widerstandes. Sie wollen mit Zeichenhandlungen öffentliches Bewusstsein für die Katastrophe wecken, in prophetischer Tradition. Das gelingt ihnen auch, um so effektiver, je mehr Empörung sie auslösen. In ihrem Selbstverständnis schwingt dabei, grenzend an religiöse Sprache, ein Element von Berufung mit.

Wenn Argumente der Abwägung und des politischen Kompromisses nicht mehr verfangen, bleibt als Alternative zum Sektenvorwurf nur übrig, zuzugestehen, dass die Aktivistinnen und Aktivisten bei einem Punkt angekommen sind, an dem sie aus ihrer eigenen, inneren Logik heraus nicht mehr anders können, als trotz aller Bedenken dem eigenen Gewissen oder „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“ (vgl. Apg 5,29). Doch woran erkennt man, dass solche und vergleichbare Gruppierungen diesen Ausnahmezustand für sich im Guten und nicht im missbräuchlichen, sektiererischen Geiste reklamieren? Daran, wie sie ihrerseits zu denjenigen Personen stehen, die in derselben Sache, aufgrund von Abwägung, anders, ja gegenteilig denken. „Denn es kann sein, dass derselbe göttliche Geist mich dazu (zu der einen Position) aus den einen Gründen bewegt und andere aus anderen zum Gegenteil (zu der gegenteiligen Position) bewegt“ (Ignatius von Loyola, Brief an Franz von Borgia, 5.7.1552.) Wenn beide Positionen vom guten Geist sind, dann kann daraus auch Gutes werden, das keine der beiden Seiten jetzt bereits sehen kann. Nur Gott ist der Herr der ganzen Geschichte. In theologischer Sprache wird dieser Vorbehalt „eschatologisch“ genannt. Er bewahrt vor Letzten Irrtümern.

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