Ziviler UngehorsamEine philosophische Reflexion

Ist der zivile Ungehorsam der Letzten Generation demokratietheoretisch gerechtfertigt? Die Aktivistinnen drängen auf politische Veränderung angesichts der katastrophalen Folgen des Klimawandels. Damit rütteln sie an einem von Ignoranz und Ohnmacht geprägten autoritär-legalistischen Staatsverständnis. Wenn nun der Rechtsstaat zivilen Ungehorsam gewaltsam unterbinden will, „dann schützt er damit nicht souverän seinen liberalen Charakter, sondern unterminiert in unsouveräner Weise das Fundament, auf dem er aufruht“. Patrick Zoll SJ ist Professor für Metaphysik an der Hoch-schule für Philosophie in München. Vincent Schäfer ist seine wissenschaftliche Hilfskraft und Mitglied der Letzten Generation.

Mitglieder klimaaktivistischer Bewegungen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion bezeichnen ihre gesetzeswidrigen Proteste als „zivilen Widerstand“ oder „zivilen Ungehorsam“. Sie bestreiten also nicht den rechtswidrigen Charakter ihrer Aktionen. Vielmehr argumentieren sie, dass Aktionen wie das Blockieren von Straßen aufgrund der Klimakrise legitime Formen des Protests sind, nämlich eben Aktionen zivilen Ungehorsams, d.h. Handlungen, die nicht legal, aber legitim sind. In der oft emotional aufgeheizten und wenig differenzierenden öffentlichen Debatte wird dieser Anspruch von Legitimität vor allem mit zwei Argumenten kritisiert. Erstens wird eingewandt, dass das Blockieren von Straßen nicht friedlich und gewaltlos sei und deshalb ein wichtiges Kriterium zivilen Ungehorsams nicht erfüllt sei. Zweitens wird vorgebracht, dass selbst wenn es sich bei den Aktionen der Letzten Generation um eine Form des zivilen Ungehorsams handele, ein derartiger Ungehorsam aus demokratietheoretischen Gründen abzulehnen sei.

Im Folgenden soll aus philosophischer Perspektive erörtert werden, ob und in welchem Maße diese Einwände entkräftet werden können. Beginnen wir mit der Frage, was ziviler Ungehorsam ist. Jürgen Habermas definiert ihn wie folgt: „Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der [...] in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“1

Als Ungehorsam hat ziviler Ungehorsam mit anderen Arten von Ungehorsam gegenüber geltendem Recht gemeinsam, dass er das Brechen eines Gesetzes involviert.2 Dies grenzt zivilen Ungehorsam von anderen Protestformen wie z.B. Demonstrationen ab. Bei direktem zivilem Ungehorsam wird das Gesetz gebrochen, gegen welches sich der Protest richtet. Rosa Parks etwa saß im Bus auf Plätzen, die per Gesetz Menschen mit heller Hautfarbe vorbehalten waren. Bei indirektem zivilem Ungehorsam hingegen wird ein Gesetz gebrochen (z.B. Eigentumsgesetze oder Gesetze der Straßenverkehrsordnung), welches ansonsten akzeptiert wird, um damit Protest gegen ein anderes Gesetz oder politische Maßnahme auszudrücken. Was zivilen Ungehorsam von anderen (beispielsweise kriminellen) Gesetzesbrüchen unterscheidet, ist, dass es sich um eine ethisch motivierte und moralisch begründete Symbolhandlung handelt, die Protest gegen einen schwerwiegenden moralischen Missstand zum Ausdruck bringen soll.

Damit ziviler Ungehorsam als „zivil“ gelten kann, müssen mindestens vier Bedingungen erfüllt sein.3 Erstens müssen Akte zivilen Ungehorsams auf Kommunikation abzielen. Sie haben einen Adressatenkreis, nämlich die Mehrheit der Bevölkerung, die sie auf ein großes Unrecht hinweisen und für eine Änderung oder Reform zur Beseitigung des Übels gewinnen wollen. Zweitens sind bewusste, ethisch motivierte und auf Kommunikation angelegte Gesetzesbrüche nur dann Akte zivilen Ungehorsams, wenn sie öffentlich sind. Dies besagt unter anderem, dass sie ihre Akteure nicht anonym sind, sie angekündigt werden und Verantwortung für sie übernommen wird. Ein drittes Kriterium ist Gesetzestreue. Dies mutet etwas paradox an, da das bewusste Brechen eines Gesetzes doch Teil der Definition zivilen Ungehorsams ist. Zivilen Ungehorsam zeichnet aber aus, dass er aus Respekt vor dem Gesetz das Gesetz bricht. Dieser Respekt kommt darin zum Ausdruck, dass man die Bestrafungen für die Gesetzesbrüche durch den Gesetzgeber grundsätzlich akzeptiert. Damit unterscheiden sich Klimaaktivsten von Reichsbürgern oder Anarchisten. Es geht nicht um einen grundlegenden Umsturz der demokratischen Ordnung oder eine grundsätzliche Ablehnung des Staates und seiner gesetzgeberischen Autorität.

Eine vierte und letzte Bedingung ist die Gewaltfreiheit, und die Gretchenfrage ist, ob diese Bedingung bei Straßenblockaden erfüllt ist. Während Aktivisten auf ihr rein passives und aus ihrer Sicht vollkommen gewaltfreies Verhalten verweisen, werfen ihnen ihre Kritiker vor, dass die mögliche Inkaufnahme indirekter Schädigung (z.B. das Verpassen eines wichtigen Termins) oder die Ausübung von nicht-physischem Zwang eine Art von Gewaltausübung darstellt.

Die Diskussion um die Frage nach der Gewaltförmigkeit passiven Widerstands ist keine neue. Vor allem in juristischen Debatten wurde in Folge des Laepple-Urteils4 1969 unter dem Stichwort der Vergeistigung des Gewaltbegriffs Kritik an der Verwässerung und fehlenden begrifflichen Trennschärfe einzelner Gewaltphänomene laut. So klassifizierte der BGH in diesem Urteil das symbolische Blockieren einer Straßenbahn aus Protest gegen geplante Tariferhöhungen als gewalttätige Handlung im Sinne einer Gewaltnötigung (§ 240 StGB) mit der Begründung, dass die Beklagten „mit geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess in Lauf setzten“5. Damit hob der BGH die psychische Zwangseinwirkung auf eine begriffliche Ebene mit der zuvor gängigen Gewaltinterpretation im Sinne des Nötigungsparagrafen der „Inbewegungsetzung des körperlichen (physischen), äußeren (mechanischen) Zwanges gegen Personen“6. Gleichzeitig hielt der BGH an der (damaligen) durch die Erweiterung des Gewaltbegriffs nun äußerst fragwürdig gewordenen Auslegung des § 240 Abs. 2 StGB fest und bekräftigte, dass „die Gewaltanwendung praktisch indiziell für die Verwerflichkeit der Nötigung“7 sei. Damit wurde jede Berücksichtigung eventueller Fernziele und Protestzwecke aus der Verwerflichkeitsprüfung in die Strafzumessung abgeschoben.

Auf die Problematik einer solchen Ausweitung des Gewaltbegriffs wies in der damaligen Debatte der Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg hin: „Wenn Passivität als Entfaltung von Gewaltsamkeit und Streiks oder Sitzstreiks als gewaltsame Nötigung interpretiert werden, wenn auch das Unterlassen jeglicher physischen oder psychischen Zwangseinwirkung auf andere Personen bereits als passive Gewalt gelten kann, dann führt die Verpflichtung auf gewaltlose Protestmittel geradewegs zur Verpflichtung, auf jeglichen Protest zu verzichten, der als politisch motiviertes Dasein den Unmut anderer hervorrufen oder die Bewegungsfreiheit anderer auch nur unwesentlich beeinträchtigen könnte.“8

Das Problem eines vergeistigten Gewaltbegriffes ist also, dass er die Hürden für gewaltfreien Protest so hoch ansetzt, dass mit ihm letztlich fast jede Form von Protest gewalttätig delegitimiert werden kann. Mit ihm lässt sich jegliche, auch noch so kleine Störung hervorrufende Versammlung bereits als gewalttätig kennzeichnen. Er kann demnach leicht dazu missbraucht werden, unliebsame Protestformen dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG vorzuenthalten. Dieser erlaubt es allen, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Doch die Rechtsprechung ist in den letzten Jahrzehnten nicht stehengeblieben. Das BVerfG unternahm 1995 den Versuch, den Gewaltbegriff wieder zu begrenzen und wies darauf hin, dass „durchaus Fälle denkbar [seien], in denen ein Sitzen auf der Straße nicht als Gewalt im Sinne des § 240 StGB gewertet werden müsse.“9 Doch der BGH ließ es dabei nicht bewenden. Er akzeptierte den nun wieder engeren Gewaltbegriff des BVerfG und gestand zu, dass bei blockierten Autofahrern in erster Reihe keine Gewalt im Sinne des § 240 StGB vorliegt, da die menschliche Barriere nur ein psychisches und kein physisches Hindernis darstellt. Für alle folgenden Fahrzeuge sei die Barriere allerdings physischer Natur, da die sie umgebenden Fahrzeuge ein unüberwindbares und durch die Blockierer in Kauf genommenes Hindernis darstellen, die Fahrzeugführer also physisch und nicht nur psychisch an der Weiterfahrt gehindert sind.10 Die sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ entspricht der aktuellen juristischen Praxis. Das Problem der juristischen Rubrizierung von Straßenblockaden als Gewalt(förmig) besteht also weiterhin fort, nur jetzt mit dem Verweis auf ihre physische anstatt ihre psychische Natur.

Eine solche Rechtspraxis ist problematisch, da sie Straßenblockaden als Gewaltnötigung interpretiert und durch diese Benennung einer (Medien-)Öffentlichkeit vermittelt, jene Aktionen der Letzten Generation als legitime Protestmittel dem Begriff des zivilen Ungehorsams, welcher sich auf gewaltfreie Mittel beschränkt, entziehen zu können. Denn die entschiedene Abgrenzung, die der zivile Ungehorsam gegen widerständige Kampfhandlungen vornimmt, ist bei Straßenblockaden, die sich nur als symbolischer Protest verstehen können, klar gegeben.

Gewaltvolle Reaktionen

Aus philosophischer Sicht ist es jedoch dringlich geboten, auch auf die Gewalt zu reflektieren, mit der auf klimaaktivistische Aktionen wie der der Letzten Generation von Seiten der Polizei,der Justiz aber auch der einzelnen (Landes-)Regierungen reagiert wird. Gezielte Schmerzgriffe, Razzien, mehrwöchiger Präventivgewahrsam oder lange Haftstrafen gegen Aktivisten, die höchstens Bagatelldelikte begehen, sind unverhältnismäßig und involvieren z.T. eine massive Gewaltausübung von Seiten des Staates.

In Walter Benjamins vielbeachteten und kontrovers diskutierten Essay Zur Kritik der Gewalt lassen sich Anknüpfungspunkte zur Analyse dieses Phänomens finden. Er stellt fest, dass jedes Rechtsregime durch seinen initialen Akt der Rechtsetzung gewaltsam einen normativen Rahmen festlegt, aus dem heraus es erst seine eigene Legitimität – selbstverständlich in Abgrenzung zu einem Außerhalb des Rechts – beziehen und erhalten kann. Im Akt der Rechtserhaltung perpetuiert es die Gewalt seiner Setzung unaufhörlich, da es sich nur in stetiger Entgegensetzung zum Außerrechtlichen konstituieren kann. Benjamin folgert daraus, „daß das Interesse des Rechts an der Monopolisierung der Gewalt gegenüber der Einzelperson sich nicht durch die Absicht erkläre, die Rechtszwecke, sondern vielmehr durch die, das Recht selbst zu wahren. Daß die Gewalt, wo sie nicht in den Händen des jeweiligen Rechtes liegt, ihm Gefahr droht, nicht durch die Zwecke, welche sie erstreben mag, sondern durch ihr bloßes Dasein außerhalb des Rechts.“11 Folgt man dieser Analyse, muss ein starres Rechtsregime Akte des zivilen Ungehorsams trotz geteilter Zwecke als gewalttätige Bedrohung deklarieren, selbst wenn sich jene gewaltloser und friedlicher Mittel bedienen.

Christoph Menke nimmt in seiner Arbeit zur Entstehung der modernen, bürgerlichen Rechte diese grundsätzliche Analyse Benjamins auf und entwickelt sie weiter. Das moderne Recht, das im Modus der Selbstreflexion operiert, begrenzt seine eigene Gewalt, indem es das „Nichtrechtliche (oder Natürliche) legalisier[t]“12. Dadurch ist es im Letzten verdammt darauf, sich auf die Sicherung des Privaten gegen die Gewalt der Willkür oder der Teilhabe zu beschränken. In der gesetzlichen Ermächtigung „privater Ansprüche, die es als gegeben voraussetzt“13, also der positiven Verrechtlichung vorrechtlicher und damit natürlicher Verhältnisse, sieht Menke die ungerechte beziehungsweise – mit der Terminologie Benjamins gesprochen – gewaltsame initiale Machtsetzung bürgerlichen Rechts. Damit zahlt es den Preis für die Fähigkeit, zwischen der Gewalt der Verletzung und der Gewalt der Veränderung differenzieren zu können. Menke kommt daher zu dem Schluss: „Deshalb – weil sie die Veränderung dessen ausschließt, was sie legalisiert – ist die rechtliche Sicherung des Eigenen ununterscheidbar von der Bewahrung des Bestehenden. Darin erweist sich das bürgerliche Grundprogramm der Sicherheit als das antipolitische Programm schlechthin. Die rechtliche Sicherung des Eigenen entzieht es der Veränderung.“14

Selbstentmächtigung der Politik

Dies ist die Selbstentmächtigung der Politik, da sie durch die Erklärung bürgerlicher Rechte das Natürliche legalisiert und eben durch die unbestimmte rechtliche Sicherung ihrer eigenen politischen Durchdringung entzieht. Während Menke deshalb für die Notwendigkeit einer Art von „Gegenrechten“ plädiert, sehen Étienne Balibar und Jacques Rancière in der Erklärung der Menschenrechte die Schaffung einer „neue[n] Art gesetzlicher Ordnung: eine Ordnung, der die ‚Insurrektion‘ gegen die Ordnung in der Form eines (Menschen-)Rechts eingeschrieben ist.“15

Die Analysen dieser Philosophen sind überaus hilfreich, um die Vehemenz zu verstehen, mit welcher sich eine Gesellschaft der Notwendigkeit der Veränderung versperrt und deren Einforderung nur undifferenziert als Gewalt rubriziert. Genau diese Notwendigkeit zur Veränderung wird uns jedoch durch die physikalische Realität der Klimakrise längst diktiert und von störenden Aktivisten gegenüber einem ständig verdrängenden Kollektiv immer wieder unignorierbar eingefordert. In Akten des zivilen Ungehorsams, die sich symbolisch gegen Formen individuellen Handelns richten, die zwar rechtlich zugebilligt, aber kollektiv – aufgrund ihrer verheerenden Auswirkungen – nicht hinzunehmen sind, formuliert sich die Forderung nach der Repolitisierung des legalisierten Natürlichen auf radikale Weise. Es ist der entschiedene Einspruch gegen die Form subjektiver Rechte, die zum Egoismus berechtigt.

Aktionen des zivilen Ungehorsams stellen den Rechtsstaat vor eine Herausforderung, da sie klar den Rahmen der Legalität verlassen. In unserer Verfassung gibt es kein Recht auf zivilen Ungehorsam. Er ist etwas dezidiert anderes als das in Art. 20 Abs. 4 GG geregelte Widerstandsrecht und kann daher im Allgemeinen seine Legitimität nicht direkt aus unserer Verfassung begründen. Sein außerrechtlicher Charakter ergibt sich schon aus der begrifflichen Bestimmung des zivilen Ungehorsams. Versuche, zivilen Ungehorsam zu legalisieren, würden zum einen seine moralisch-appellative Wirkung, die in der Bereitschaft besteht, für seinen Protest massive rechtliche Konsequenzen zu tragen, untergraben und sich außerdem in rechtstheoretischen Widersprüchen verstricken. Eine Rechtsordnung, die in Fällen schwerwiegender Ungerechtigkeit einen moralisch begründeten Protest in Form von Gesetzesübertritten rechtlich zugebilligt, würde ihr eigenes Versagen im Verfahren demokratisch gesicherter und institutionell gewährleisteter Revisionsmöglichkeiten eingestehen und infolge eines solchen Versagens seinen eigenen bindenden Ordnungscharakter zur freien Disposition stellen.

Trotz seines außerrechtlichen Charakters hat sich ziviler Ungehorsam aber keineswegs vom Recht verabschiedet. Er kann mit dem Verweis auf seine moralisch begründete Motivation keinen Dispens vom Recht für sich reklamieren, sondern versteht sich in einer reifen politischen Gesellschaft immer wieder an dieses rück- und letztlich in paradoxer Weise eingebunden. Habermas bringt diesen Zwischencharakter in folgender Formulierung auf den Punkt. Bei zivilem Ungehorsam handelt es sich um „Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt werden.“16 Die Berufung auf gemeinsam anerkannte Legitimationsgrundlagen ist zentral und sollte noch einmal hervorgehoben werden, um zu verdeutlichen, dass sich ziviler Ungehorsam nicht aus dem Rückgriff auf eine wie auch immer geartete Privatmoral begründet, sondern sich universellen Grundrechten sowie demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet fühlt. Der Blick auf die Entwicklung universalistischer Verfassungsgrundsätze oder Grundrechte zeigt einen diskontinuierlichen und von Rückschlägen gekennzeichneten Prozess, dessen Fortentwicklung häufig gegen große Widerstände erstritten werden musste, heute jedoch als selbstverständlich gilt. Es wäre Hybris zu meinen, dieser Lernprozess sei abgeschlossen.

Schon aus den Grundprinzipien einer liberalen Demokratie ergibt sich die Pflicht, differenziert mit Formen zivilen Ungehorsams umzugehen. Der demokratische Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er sich in seiner Legalordnung eben nicht vollends erschöpft. Dies wird mit dem Verweis auf das berühmte Böckenförde-Diktum (Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann) deutlich. Der liberale Staat kann im Letzten keinen absoluten, sondern immer nur einen qualifizierten Gehorsam einfordern. Darin zeigt sich jenes Wagnis, das der liberale Staat eingehen und sich als seine eigene Möglichkeitsbedingung voraussetzen muss, jedoch ohne dass er diese garantieren könnte, da er ansonsten seine eigene Möglichkeitsbedingung wiederum selbst negieren würde.

Aus philosophischer und demokratietheoretischer Sicht ist eine oft vorgetragene „Gesetz-ist-Gesetz“-Mentalität und der Ruf nach härteren Strafen insofern als kritisch zu beurteilen, da er kaum von einem autoritären Legalismus unterschieden werden kann, der die Bedingung der Möglichkeit eines liberalen Staates unterminiert. Eine liberale Rechtsordnung kann ihre Legitimität eben nicht ausschließlich in ihrer Legalität begründen. Wenn der Rechtsstaat aktuell so auf den zivilen Ungehorsam von Klimaaktivisten reagiert, dass er anstrebt, sie zu Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung im Sinne von § 129 StGB zu erklären oder sie in mehrwöchigen polizeirechtlichen Präventivgewahrsam nimmt, dann schützt er damit nicht souverän seinen liberalen Charakter, sondern unterminiert in unsouveräner Weise das Fundament, auf dem er aufruht und stellt sich nach Habermas in eine fragwürdig-geschichtsvergessene Tradition des sturen Klammerns an scheinbare Eindeutigkeiten: „[D]er zivile Ungehorsam im Rechtsstaat verhält sich zum aktiven Widerstand gegen den Unrechtsstaat wie der autoritäre Legalismus im Rechtsstaat zur pseudolegalen Repression des Unrechtsstaates. […] Der autoritäre Legalismus verleugnet die humane Substanz des Nicht-Eindeutigen genau dort, wo der demokratische Rechtsstaat von dieser Substanz zehrt.“17

Was, wenn das alle täten?

Kommen wir abschließend noch kurz zu einem zweiten einflussreichen demokratietheoretischen Einwand, der in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ vereinfacht wie folgt formuliert werden kann: „Du kannst nicht vernünftigerweise wollen, dass das jeder macht“. Demokratietheoretisch gewendet: „Wenn ziviler Ungehorsam (z.B. in der Form von klimaaktivistisch motivierten Straßenblocken) als legitimes Mittel politischen Protests anerkannt wird, dann könnte ja jeder in einer Demokratie zukünftig Straßen blockieren, um seinerseits eine politische Agenda durchzusetzen“.

Der Einwand beruht auf der richtigen Intuition, dass ziviler Ungehorsam mit der Gefahr einer Destabilisierung der Gesellschaft einhergeht und deshalb nicht einfach inflationär als gewöhnliches Mittel der Durchsetzung politischer Interessen gebraucht werden sollte. Was dieser Einwand allerdings unberücksichtigt lässt, ist, dass die Anerkennung klimaaktivistischen zivilen Ungehorsams als legitime politische Protestform nicht notwendigerweise die Anerkennung jeglicher Form zivilen Ungehorsams als legitime politische Protestform impliziert.

Mit John Rawls etwa kann man zwischen gerechtfertigtem und ungerechtfertigtem zivilem Ungehorsam unterscheiden.18 Ziviler Ungehorsam ist dann gerechtfertigt und folglich eine legitime Protestform, wenn er ein inhaltliches und ein formales Kriterium erfüllt. Laut Rawls darf ziviler Ungehorsam nicht für jedes politische Ziel oder Thema eingesetzt werden. Vielmehr ist das Begehen von Gesetzesbrüchen aus demokratietheoretischer Sicht nur dann legitim, wenn die Politik dazu bewegt werden soll, eine grundlegende und schwerwiegende Ungerechtigkeit in der Verfasstheit der Gesellschaft oder ihrer Ordnung zu beseitigen. Nur wenn es um Fragen grundlegender Gerechtigkeit geht, also beispielsweise um Fragen grundlegender Rechte oder um Fragen des Zugangs zu und der Verteilung von grundlegenden Gütern, darf aus demokratietheoretischer Sicht die mit zivilem Ungehorsam verbundene Gefahr einer Destabilisierung der Gesellschaft in Kauf genommen werden. Und in formaler Hinsicht ist ziviler Ungehorsam nur dann gerechtfertigt und folglich legitim, wenn er das letzte Mittel, die ultima ratio darstellt.

Kann also jeder in einer Demokratie zukünftig Straßen blockieren, um seinerseits eine politische Agenda durchzusetzen, wenn man klimaaktivistisch motivierte Straßenblockaden als legitimes Mittel politischen Protests anerkennt? Nein, denn nicht jedes politische Ziel oder Thema ist ein Thema grundlegender Gerechtigkeit, bei dem schon alle Mittel der politischen Willensbildung oder Durchsetzung erschöpft sind.

Ist der klimaaktivistische zivile Ungehorsam der Letzten Generation demokratietheoretisch gerechtfertigt? Mittels einer ausführlichen Reflexion auf den Gewaltbegriff haben wir dafür argumentiert, dass der Vorwurf, Aktionen wie Straßenblockaden seien nicht gewaltfrei und fielen deshalb nicht unter den Begriff zivilen Ungehorsams, unterkomplex und problematisch ist. Ferner haben wir gezeigt, dass gängige demokratietheoretische Einwände gegen klimaaktivistisch motivierte Straßenblocken entkräftet werden können, indem man z.B. zwischen gerechtfertigtem und ungerechtfertigtem zivilem Ungehorsam unterscheidet.

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