Rezensionen: Wissenschaft & Bildung

Ursula Baatz - Richard Münch - Ingolf Dalferth - Thorsten Arens

Baatz, Ursula: Spiritualität, Religion, Weltanschauung. Landkarten für systemisches Arbeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 219 S. Kt. 24,–.

Systemische Therapeuten wissen oft wenig von Religion und Spiritualität, werden aber durch ihre Klienten mit solchen Phänomenen konfrontiert. Spirituelle Erfahrungen sind Ressourcen, die für therapeutisches Wirken nutzbar sind. Ursula Baatz schreibt hier – nicht nur für Therapeuten – ein kleines Handbuch, das Wissensdefizite in diesem Feld beheben und zu einem positiven Umgang mit religiösen Phänomenen verhelfen will.

Das nicht immer leicht zu lesende Buch bietet auf hohem reflexivem Niveau eine „Landkarte“ religiöser Phänomene, es bettet sie in die Geistesgeschichte ein und deutet sie aus. Wissenschaftlich erklärt wird weniger theologisch, eher philosophisch und kulturgeschichtlich, auch naturwissenschaftlich und psychologisch. Der Blick auf Religion und Spiritualität kommt gleichsam von außen, mit einem wenig wertenden, sondern vor allem erklärenden Blick. Gegen Ende gibt es praktische Hinweise. Aus der dichten Fülle der Gedanken einige mir wichtige Einsichten:

Sinnkrisen und existentielle Krisen führen zu Desorientierung; bisweilen liegen sie nahe an der Depression. Um sie zu bearbeiten, braucht es Wissen und Entscheidung. Die Achtsamkeit, heute ein Modewort buddhistischer Herkunft, ist wesentlich für alle Spiritualität – übrigens eine große Parallele zur jesuitischen „Unterscheidung der Geister“. Das schwierige Thema der Macht wird benannt, mit dem Hinweis auf möglichen Missbrauch durch religiöse Gurus und durch Therapeuten. Das fünfte Kapitel bietet eine konzentrierte Geschichte der religiösen Weltanschauungen, ab der Neuzeit mit dem Fokus auf Philosophie (Descartes u.a.), Naturwissenschaft und Psychologie. Im Kapitel über Spiritualität wird der heute suchende Mensch mit dem schönen Bild des spirituellen Wanderers beschrieben, der Heilung und Befreiung sucht.

Anregend sind der interdisziplinäre Ansatz und die breite Belesenheit der Autorin – auch kundige Leser werden viel Neues entdecken. Anregend ist auch der schon erwähnte „Blick von außen“ – die Distanz hilft vieles zu klären. Doch hier liegen auch Grenzen des Ansatzes: „Von innen“ her würde man etwa „Spiritualität“ und „Kultur“ nochmals anders bestimmen: nicht nur als Ressourcen, die zur Gesundung helfen, sondern zum einen als gelebter Glaube, der in die Beziehung zum Du Gottes einführt, zum anderen als verantwortete Lebensgestalt, die soziale Strukturen, Rituale, Ethik, Recht, Ästhetik usw. beinhaltet. Bisweilen wünscht man sich, nicht nur aus Neugier, sondern auch als Verstehenshilfe etwas mehr Bekenntnis zur religiösen Verortung der Autorin. Doch für Therapeuten gehört sich dies gerade nicht – der Wert des Buches liegt auch in dieser Sachlichkeit und Neutralität.

Stefan Kiechle SJ

 

Münch, Richard: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim: Beltz 2018. 392 S. Kt. 27,95.

Einer der führenden Soziologen, Richard Münch, analysiert die Steuerung des Bildungswesens durch den globalen Markt nicht nur, wie er es noch in „Globale Eliten, Lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey&Co.“ (Berlin 2009) tut. Jetzt nimmt er Stellung und wertet: Es bedarf einer Kritischen Theorie mit den Mitteln empirisch-analytischer Soziologie (26), im Gegensatz zu nur empirischer Bildungsforschung. Diese sei selbst Teil des bildungsindustriellen Komplexes, der als ganzer einer öffentlichen, kritischen Debatte bedürfe.

Kap. 1 beschreibt die Schule als Kampfplatz des globalen Wettbewerbs. Der bildungsindustrielle Komplex mache Kennziffern zu einer Kontrollinstanz, der sich niemand entziehen könne. Die Akteure könnten nur noch über sie in Kontakt treten. Das verändere alle Beziehungen. Die Definition, Produktion und Interpretation von Kennziffern werde zum Hauptgeschäft, hinter dem Bildung verschwinde. Ein Hilfsmittel mache sich selbständig und reiße die Macht über den Bildungsprozess an sich (20 f.).

Kap. 2 beschreibt die traditionelle, arbeitsteilige Steuerung der Schule durch demokratische Zielsetzung, bürokratische Verwaltung und pädagogische Professionalität. Diese Steuerung durch Input werde von der Marktsteuerung verdrängt, der allein den Output bewerte. Letztere erfordere einen Dienstleistungsmarkt, den ein globaler Komplex dominiere, koordiniert von der OECD. Konzerne wie Pearson gestalteten den PISA-Test und verkauften weltweit Lehrmittel, die auf ihn vorbereiteten. Bildungsökonomen wie E. Hanushek formulierten die Ideologie: PISA-Erfolg garantiere Wirtschaftswachstum, individuelle Lehrerleistung den Schulerfolg. Kleine Klassen seien nutzlos, Schulen zu privatisieren. McKinsey & Co. legten Regierungen Ideologie und Lehrmittel nahe. Alle verdienten prächtig; McKinsey beziffere den globalen Bildungsmarkt auf knapp 8 Billionen Euro.

Kap. 3 untersucht die Ergebnisse dieses Machtwechsels am Pionierfall der USA, die ihr Bildungswesen seit 1958 durch Tests steuern. Eine nationale Kommission hatte diese Steuerung 2002-2011 zu bewerten: Trotz enormen Aufwands habe sie keine nennenswerten Fortschritte erzielt (232).

Kap. 4 resümiert: Der Wettbewerb zwischen Schulen um Testwerte steigere weder die Leistung, noch reduziere er die Kluft zwischen arm und reich. Stattdessen belohne er subalterne Konformität und ersticke alle Ansätze zu diskursiver Gedankenentwicklung, Kreativität und Innovation: extreme Verarmung der Bildung. Vergleichsstudien über „Fehlleistungen“ der Schulen, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden könnten, erzeugten Misstrauen, wo es auf Vertrauen ankomme. Sie hätten ein Zwangsregime errichtet, das Schule und Unterricht stranguliere, pädagogische Arbeit und Bildungsprozess ersticke (343). Das zentralisierte Teaching to the test hat mit dem explorativen und experimentellen Lernen J. Deweys nichts mehr gemein: Die Tester ruinierten auch die amerikanische Pädagogik.

Angesichts der enormen Fülle verarbeiteter Untersuchungen wäre mehr Leserführung sinnvoll. Keine Distanz nimmt Münch vom Kompetenzbegriff, der zum Sprachfeld des Testens, der Diktatur des Außenblicks gehört. Eine Kompetenz muss ja immer wieder neu getestet und von außen zugesprochen werden. Seines Wissens aber und seiner Fähigkeit ist ein Jemand gewiss; sie machen ihn selbstbewusst.

Münch legt die gewichtigste Kritik der wirtschaftsförmigen Bildung seit J. Krautz Publikation „Ware Bildung“ (München 2006) vor. Sie schlägt den Glauben an Ziffern mit seinen eigenen Waffen. Nicht einmal unter dem Aspekt der unmittelbaren Nützlichkeit bewährt sich die Reduktion des sich bildenden Menschen auf Ziffern. Der massive Vertrauensschaden durch die Outputsteuerung ist durch nichts zur rechtfertigen. Hoffentlich nehmen Bildungspolitik und Kultusbehörden diese empirische Widerlegung wahr und befreien das Bildungswesen aus der durch nichts legitimierten Steuerung durch den bildungsindustriellen Komplex.

Thomas Philipp

 

Dalferth, Ingolf: Die Kunst des Verstehens. Grundzüge einer Hermeneutik der Kommunikation durch Texte. Tübingen: Mohr Siebeck 2018. 546 S. Kt. 69,–.

Mit der Wendung „Die Kunst des Verstehens“ greift der protestantische Religionsphilosoph und Theologe Ingolf U. Dalferth die Bestimmung einer Hermeneutik durch Schleiermacher auf (vgl. 135). Doch zunächst setzt er fundamental an und beleuchtet die verschiedenen Facetten des Verstehens. Daraus erarbeitet er im ersten Kapitel eine „Philosophische Hermeneutik“ (1-165), die sich dem Phänomen des Verstehens aus unterschiedlichen Perspektiven nähert. Wie kann Verstehen bestimmt werden, in welchen Bereichen wird es angewandt und wie gelingt es?

Dalferth geht dabei von einer lebenspraktischen Dimension aus, denn aufgrund von Krisen muss immer wieder neu verstanden werden, um verlorene Orientierung wiederzuerlangen. Umfassend beleuchtet er die verschiedenen Kontexte von Verstehen und zeichnet deren geschichtliche Entwicklungen nach. Da die Möglichkeit des Verstehens aber entscheidend durch ihre Konkretion bestimmt wird, gilt es zwischen verschiedenen Formen zu unterscheiden, die die jeweilige Kultur und die Prozesse, durch welche sich das Verstehen vollzieht, reflektieren. So können schließlich verschiedene „Typen der Hermeneutik“ (145-152), „Leitideen des Verstehens“ (152-162) und „Praxisfelder der Hermeneutik“ (162-165) aufgezeigt werden.

Im zweiten Kapitel legt Dalferth eine „Text-Hermeneutik“ (167-321) vor. In Abgrenzung zu anderen möglichen Konzeptionen, die letztlich in ihrer unterschiedlichen Auffassung von Sprache gründen, bestimmt er diese näher. Ausführlich werden in diesem Zusammenhang Entwicklungen und Diskussionen – etwa der strukturalen und prozessualen Semiotik – dargestellt und kommentiert. Dalferths eigener Ansatz beruht dabei auf einem Text-Begriff, der sehr global zu fassen ist: „Als Text (lat. textum: Gewebe) im weiten Sinn kann jedes zeichenkonstituierte Sinngebilde (Syntagma) gelten, das sich aufgrund seiner internen Struktur von seiner jeweiligen Situation und seinen verschiedenen Kontexten als komplexe Sinneinheit unterscheidet.“ (227) Davon ausgehend exemplifiziert Dalferth, wie sich beispielsweise die Konzeption einer Textwissenschaft oder einer Textinterpretation definieren lässt.

In einem weiteren Kapitel wird eine Daseinshermeneutik vorgestellt (323-424). Neben Ausführungen zu den zentralen Begriffen der Menschenwürde und der Freiheit findet sich eine längere Abhandlung zur Bedeutung von Mythen, die in ihrer Funktion kritisch gewürdigt werden.

Im abschließenden vierten Kapitel werden vorausgehende Überlegungen für eine Hermeneutik des christlichen Glaubens fruchtbar gemacht (425-518), wobei die Theologie und Themen des Glaubens bereits zuvor wichtige Bezugsgrößen darstellen. Dadurch gelingt es Dalferth, detaillierte und voraussetzungsreiche Darstellungen in ihren Auswirkungen zu veranschaulichen.

Dalferth kann vielfach auf seine Arbeiten zu verschiedenen Teilaspekten der Hermeneutik zurückgreifen und ordnet diese in ihrer Materialfülle gekonnt. Im Hinblick auf die Gesamtkonzeption des Buches droht jedoch mitunter der rote Faden verloren zu gehen, da einige Abschnitte aus sprachlicher wie aus inhaltlicher Sicht redundant sind. Wer jedoch die Ausdauer für das in vielerlei Hinsicht umfangreiche Werk aufbringt, wird in der Lektüre viele Einsichten, pointierte Stellungnahmen und Anregungen finden, die selbst wesentlich zu einem besseren Verstehen beitragen können.

Jörg Nies SJ

 

Arens, Thorsten: Christliches Profil und muslimisches Personal. Katholische und muslimische Ärzte in Caritas-Krankenhäusern (Diakonie 20). Stuttgart: Kohlhammer 2018. 352 S. Kt. 39,–.

Thorsten Arens liefert eine ambitionierte Arbeit um Fragen wie: „Was ist überhaupt ein christliches Profil katholischer Krankenhäuser? Wie erleben [katholische und muslimische Ärzte] das christliche Profil? Was bedeutet die Beschäftigung von Muslimen für das christliche Profil? Ist das Profil katholischer Krankenhäuser bedroht?“ (21 f.) Im ersten von drei Teilen entwirft Arens unter der Überschrift „Anspruch“ ein Modell des christlichen Profils. Dieses wird im zweiten Teil „Alltag“ durch qualitative Interviews mit sechs katholischen und sechs muslimischen Ärzten beleuchtet. Abschließend werden im dritten Teil die Ergebnisse diskutiert und Schlussfolgerungen gezogen.

Laut Arens umfasst ein christliches Profil drei Ebenen: Auf der ersten Ebene wird ausgehend von biblischen Erfahrungen das christliche Gottes-, Menschen- und Werteverständnis leicht verständlich und kompakt analysiert, bevor anschließend Kirche als Glaubens- und Arbeitsorganisation unter die Lupe genommen wird. Die dritte Ebene schließlich beschreibt die Relevanz der kirchlichen Grundvollzüge Diakonia, Koinonia, Martyria und Liturgia für eine glaubwürdige christliche Kultur.

Die im Originalton aufgeführten Interviewaussagen im zweiten Teil sind mehr oder weniger harmonisch in den Textfluss eingefügt. Sie beschreiben intellektuell und emotional nachvollziehbar den Alltag katholischer und muslimischer Ärzte in Caritas-Krankenhäusern und verdeutlichen, dass der christliche Anspruch durch Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheitssystems kaum erfüllt werden kann.

In der Gegenüberstellung von katholischen und muslimischen Ärztinnen (mit und ohne Kopftuch) und Ärzten wiesen befragte Muslime bei der Frage nach dem christlichen Gottes- und Menschenbild mehr Sprachfähigkeit auf. Arens’ These ist somit, „dass muslimische Mitarbeitende […] aufgrund ihrer religiösen Beheimatung im Islam und ihrer Anstellung bei der katholischen Kirche im Krankenhausalltag Irritationen hervorrufen, die im alltäglichen Miteinander durchaus zu einer Schärfung des christlichen Profils beitragen können“ (23 f.). Folgerichtig fordert er, dass es gezielt Räume zur Auseinandersetzung mit eben diesen Fragen braucht. Dabei nimmt der Autor die Verantwortungsträger in die Pflicht, diese Fundierung selbstbewusst zu erneuern.

Mit dem Buch wird ein schlüssiges Modell vorgelegt, anhand dessen die Identität und das Profil katholischer Einrichtungen reflektiert und geschärft werden kann. Darauf basierend wird eine qualitative Analyse durchgeführt, die das bisher kaum erforschte Feld von Katholiken und Muslimen in katholischen Krankenhäusern zum Gegenstand macht. Das letzte Kapitel liefert alltagspraktische Schlussfolgerungen zur Orientierung bei der Anstellung von muslimischem Personal ebenso wie zur Stärkung eines christlichen Profils in Einrichtungen, die immer weniger von Ordensleuten geprägt werden. Eine sehr lesenswerte Publikation.              

Martin Föhn SJ

 

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