Ein Exeget ortet seine WissenschaftNorbert Lohfink SJ zum 90. Geburtstag

Norbert Lohfink SJ machte sich bereits in der Zeit um das Zweite Vatikanische Konzil in den Bibelwissenschaften verdient, als sich die historisch-kritische Exegese gerade etablierte. Jahrzehntelang lehrte er Altes Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Professor für Altes Testament an der Universität Wien, würdigt sein Lebenswerk.

Norbert Lohfink ist ein Glücksfall für die Alttestamentliche Bibelwissenschaft. Seine fachliche Kompetenz und seine persönliche Glaubwürdigkeit sind allseits anerkannt. Seine mutigen und innovativen Theorien haben Generationen von Bibelwissenschaftlern inspiriert und weit über die Grenzen des Faches hinaus lebhafte Diskussionen hervorgerufen. Er hat Begriffe geprägt, die als kognitive Metaphern Erkenntnisprozesse angestoßen und Theoriebildungen in Gang gesetzt haben. Seine Bücher zu lesen, ist ein Genuss. Im recht verstandenen Sinn war und ist unser Jubilar ein Querdenker, der eingefahrene Ansichten des Faches mit originellen Beobachtungen infrage gestellt hat. Lohfink, so ist auch von evangelischen Kollegen zu hören, muss man lesen.

Öffentliche Theologie

Norbert Lohfink ist nicht nur ein allseits anerkannter Fachwissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Kommunikator. Aus der Mitte seines Faches heraus betreibt er das, was wir heute öffentliche Theologie nennen. Sich mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Öffentlichkeit zu stellen und ihre Reaktionen mit in den Prozess der exegetischen Arbeit und der theologischen Erkenntnisgewinnung einzubeziehen, verstand Norbert Lohfink wie kaum ein anderer Exeget seiner Generation. Aufgrund ihres wissenschaftlichen Standards und ihrer Grundausrichtung auf historische Forschung fällt es der Exegese nicht leicht, sich verständlich und gleichwohl qualifiziert in öffentliche Diskussionen einzuschalten. Nicht jeder Exeget bringt die Begabung und das Interesse mit, sich aus der Mitte seines Faches heraus dem Areopag öffentlicher Meinungen zu stellen. Unser Jubilar brachte beides mit: die Begabung und den Willen, sich als Exeget niveauvoll in theologische, kirchen- und gesellschaftspolitische Diskussionen einzuschalten. Norbert Lohfink war immer bereit, jener Bitte nachzukommen, welche die Bewohner Athens dem Apostel Paulus antrugen: „Du bringst uns recht befremdliche Dinge zu Gehör. Wir wüssten gern, worum es sich handelt“ (Apg 17,20).

Norbert Lohfink weist der Öffentlichkeit sogar eine Kontrollfunktion bei der Generierung theologischer und exegetischer Einsichten zu. Die Kontrolle durch das kirchliche Lehramt ist für ihn lediglich eine Notmaßnahme im allerletzten Moment. In der für ihn typischen prägnanten und bildreichen Sprache klingt das so:

„Navigation auf See, in der Luft und im Weltraum bedarf ständiger Ortung und Peilung. Ein hochentwickeltes Instrumentarium ist dafür da. Auch die immer differenziertere und immer schneller sich wandelnde Theologie muss ihren Kurs kontrollieren [...] Doch welche Instrumente hat sie zur Ortung? Hochoffizielle Eingriffe des kirchlichen Lehramtes – Anathema, Lehrverbote, Druckverbote, Leseverbote – können aus der Natur der Sache nicht eine ständig tickende Kontrolluhr sein. Sie gleichen eher dem Schleudersitz, der einem Piloten noch das Leben retten kann, wenn seine Maschine schon stürzt. Den Schleudersitz betätigt man aber nur im Ernstfall. Er dient nicht der Ortung.“Das normale Kontrollinstrument der Theologie ist die öffentliche wissenschaftliche Diskussion. In einer dynamisch gewordenen Wissenschaft ist sie das sicherste Mittel der Selbstkorrektur. Sie setzt die Freiheit der wissenschaftlichen Äußerung voraus. Andere Mittel der Ortung treten hinzu. Vor allem zwei sind zu nennen: die Reflexion jedes Wissenschaftlers über die von ihm angewendeten Methoden und die Kommunikation jedes Wissenschaftlers mit einem breiteren Publikum [...] Die Kommunikation des Wissenschaftlers mit einem breiteren Publikum, als Technik der Ortung genannt, mag überraschen. Tatsächlich ist diese Technik nicht bei jeder Wissenschaft angebracht. Bei manchen wäre sie verderblich. Aber zur Theologie gehört sie. Denn die Theologie ist zwar in ihrem Zentrum Auslegung der Bibel, aber zugleich ist sie Auslegung des Glaubens der Kirche – also aller Gläubigen [...] Vorträge vor Nichttheologen zu halten, in einer ihnen geöffneten Sprache aus der Arbeit der Theologie zu berichten, sich von ihnen Themen und Fragen stellen zu lassen, die quer zu allem liegen, was im internen Wissenschaftsbetrieb gerade im Schwange ist – das alles zusammen ist nicht nur ‚Vulgarisation‘. Es kann mindestens zu einem Stück des Theologietreibens selbst werden, wenn es nämlich Selbstkontrolle und Selbstkorrektur wird in der Begegnung mit der konkreten Kirche, deren Glauben ja auszulegen und neu zur Sprache zu bringen ist.“2

Das Konzil und die Bibelwissenschaft

Der erste Band von Lohfinks gesammelten Aufsätzen enthält Beiträge aus den Jahren 1962-1964, also aus der Zeit unmittelbar vor und während des Zweiten Vatikanischen Konzils (10/1963-12/1965). Der Titel: „Das Siegeslied am Schilfmeer“3 scheint neben seinem biblischen Referenztext zusätzlich einen biografischen und kirchenpolitischen Bezug aufzuweisen. Mit dem Abschluss der Dissertation und der erfolgreichen und berühmt gewordenen Verteidigung seiner Doktorarbeit über „Das Hauptgebot“ während der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils schien der „Kampf um das Deuteronomium“ fürs erste gewonnen und zugleich der endgültige Durchbruch der modernen, historisch-kritisch ausgerichteten Bibelwissenschaft innerhalb der Katholischen Kirche gelungen zu sein. Zu Beginn des Konzils, im Herbst 1962, fand im Zusammenhang mit einer Textvorlage zu den „Quellen der Offenbarung“ eine Auseinandersetzung statt, über die in der Presse unter dem Schlagwort „Schlacht um die Bibel“ berichtet wurde. Diese Schlacht war nun ganz im Sinne der großen Mehrheit sowohl der Konzilsväter als auch der Bibelwissenschaftler gewonnen. Ein neuer Bibelfrühling innerhalb der Katholischen Kirche kündigte sich an. Norbert Lohfink hat diese Entwicklung begrüßt und sie an vorderster Front unterstützt und begleitet. Im Rückblick auf das Konzil sagte er im Juli 1966 im Hessischen Rundfunk: „Die Bibelbewegung wird weiter wachsen. Die Zuwendung des einzelnen Katholiken zur Bibel wird allgemeiner und intensiver werden. Man glaubt, den Anfang davon schon zu spüren.“4

Der Alttestamentler weiß natürlich, dass dem Gottesvolk nach dem Siegeslied am Schilfmeer eine vierzigjährige Wüstenwanderung bevorstand. Dabei ist fast die ganze Auszugsgeneration umgekommen. Nach dem Zug durch das Rote Meer drohten der katholischen Bibelwissenschaft neue Gefahren, nicht mehr durch Feinde von außen, sondern von innen. Wie Mose am Ende des Deuteronomiums, so sah auch Norbert Lohfink beide Möglichkeiten voraus, den Segen und den Fluch: „Ja, wir gehen biblischen Zeiten entgegen – aber gerade deshalb ist vielleicht ein Wort der Besinnung am Platz. Nicht um zu stören oder um zu bremsen, wohl aber, um vor Illusionen zu warnen, die auf Dauer zu Enttäuschungen führen müssten.“5

Die moderne Bibelwissenschaft hat sowohl im Judentum als auch in den verschiedenen Konfessionen des Christentums zu teils schweren Verwerfungen geführt. Dem Jubilar kommt das große Verdienst zu, sich entschieden für die neue Methode eingesetzt und sie zugleich in das größere Ganze der katholischen Schrifthermeneutik integriert zu haben. Dabei waren einige Klippen zu überwinden. Die Methode, die Lohfink bei der Überwindung der Klippen anwendet, ist die der Entlarvung falscher Freunde. Wenn wir eine neue Sprache erlernen, müssen wir aufpassen, dass wir nicht falschen Freunden auf den Leim gehen. Falsche Freunde sind Wortpaare aus verschiedenen Sprachen, die sich äußerlich stark ähneln und von denen man meinen könnte, dass sie zusammengehören und die gleiche Bedeutung aufweisen, die in Wirklichkeit aber semantisch nichts miteinander gemein haben; etwa das englische Wort gift entspricht nicht dem deutschen Wort Gift. Auch in der Bibelwissenschaft gab und gibt es falsche Freunde. Die traditionelle Lehre von der Irrtumslosigkeit der Schrift war mit einer über Jahrhunderte hin tradierten Vorstellung von der Entstehung der Bibel eine enge Verbindung eingegangen, von der viele meinten, sie sei naturgegeben und notwendig.

Nun geriet mit der modernen historisch-kritischen Exegese das traditionelle Wissen um die Entstehung der Bibel in eine radikale Krise. Die Zahl der biblischen Autoren, mit denen man inzwischen rechnete, vermehrte sich um ein Vielfaches. Dies betraf insbesondere das Alte Testament. War bisher Mose allein für den Pentateuch verantwortlich, so löste sich unter dem Seziermesser historischer Kritik der ursprüngliche eine Autor in eine Vielzahl von Autoren, Redaktoren und Kompilatoren auf. Mose erlitt das Schicksal einer postmodernen multiplen Persönlichkeit: „Ich bin viele“. Was bedeutet dies für den Begriff der Irrtumslosigkeit, wenn dieser, wie bis dato üblich, eng mit dem klar zu identifizierenden Hagiographen verbunden war? In diesem Dilemma begingen die Konservativen ebenso wie die Progressiven – wenn diese plakative Zuschreibung hier einmal erlaubt sein mag – spiegelbildlich den gleichen Fehler. Die Konservativen versuchten krampfhaft, die neu gewonnenen Einsichten der historisch-kritischen Exegese zu leugnen, die Progressiven nahmen die neuen Erkenntnisse ernst, gaben dabei aber den Begriff der Irrtumslosigkeit der Schrift auf.

Lohfink analysiert messerscharf, dass der Begriff der Irrtumslosigkeit der Schrift neu durchdacht werden muss. Er tut dies in einem frühen Aufsatz aus dem Jahre 1964, erschienen in den „Stimmen der Zeit“,6 in beeindruckend klarer und gültiger Weise. Im Kern finden sich darin alle Elemente einer Schrifthermeneutik, die sich die durchschnittlich Begabten in unserer Scientific Community erst über die Jahre hin mühsam erarbeiten mussten. Lohfink rückt – im wahrsten Sinne des Wortes – den Begriff der Irrtumslosigkeit der Schrift zurecht. Er verschiebt ihn – in gut patristischer Tradition – vom einzelnen Hagiografen hin zur Schrift als ganzer. Bereits innerhalb der Bibel selbst, so Lohfink, lässt sich beobachten, „dass man kein Buch der Bibel anders las als in analogia scripturae, in der Sinneinheit der ganzen Schrift“7. Daraus folgt für ihn, dass jeder Text und jedes Wort der Bibel letztlich nur dann Irrtumslosigkeit beanspruchen kann, wenn es aus dem Gesamtgefüge der Heiligen Schrift heraus verstanden wird.

„Sobald ein Wort, ein Satz, ein Buch aus dem Ganzen der Schrift herausgenommen und in sich isoliert wird [...], ist keine Garantie der Irrtumslosigkeit mehr da. Wer mit den Mitteln historischer Auslegung eine ältere biblische Sinnschicht herauspräpariert und bewusst darauf verzichtet, sie vom Christusereignis her an ihre rechte Stelle in der Gesamtaussage der Schrift zu rücken, leistet vielleicht glänzende und im Rahmen der Gesamtauslegung unentbehrliche Arbeit, darf aber nicht ohne weiteres für die resultierende Aussage Irrtumslosigkeit beanspruchen.“8

Historisch-kritische Exegese

In seinen zahlreichen Vorträgen sei ihm keine Frage häufiger gestellt worden als die nach der „historisch-kritischen Methode“, schreibt unser Jubilar in seinem zweiten großen Aufsatzband.9 Hier sind Beiträge aus den Jahren 1965-1966 versammelt, also aus der Zeit unmittelbar nach dem Konzil. „Die katholische Bibelauslegung ist im Wandel“ lautet einer ihrer Schlüsselsätze. „Doch“, so fügt der Autor sogleich hinzu, „wenn man dieses Wort schon ausspricht, [...] dann ist man auch verpflichtet, genau zuzusehen, was sich nun wirklich wandelt und was in allem Wandel bleibt, ja neu und stärker aufleuchtet“10. Dieses „genaue Zusehen“ ist ein Markenzeichen unseres Jubilars.

Norbert Lohfink gehört zu jenen nicht sehr zahlreichen Exegeten des 20. Jahrhunderts, die von Anfang an sehr klar sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der historisch-kritischen Exegese erkannt haben. Er hält diese Methode für notwendig, hat aber nie den hermeneutisch naiven Optimismus jener geteilt, die meinten, mit dieser Methode die Bibelwissenschaft auf eine völlig neue Grundlage stellen zu müssen. Lohfink räumt mit einem Mythos auf. Auch die traditionelle Schriftauslegung kannte selbstverständlich die historische Frage, sie wandte ihr aber kein besonderes Interesse zu, sondern beantwortete sie in den traditionellen, vom Judentum her vorgegebenen Bahnen. Dies sollte sich in der Neuzeit grundlegend ändern. Lohfink hat diesen Wechsel von Anfang an begrüßt und selbst intensiv daran mitgearbeitet, so dass ihm innerhalb der Kirche eine breite Rezeption zuteil wurde.

Die für Lohfink typische philologisch präzise und im Hinblick auf historische Fragen durchaus hypothesenfreundliche Anwendung historisch-kritischer Forschung haben ihn allerdings nie in die Falle des Historizismus tappen lassen. Sehr nüchtern nimmt er bereits in einem Vortrag aus dem Jahre 1965 die Grenzen historischer Forschung in den Blick. Allerdings landet er dabei nicht in einem verbreiteten Skeptizismus oder gar Agnostizismus, sondern er legt gerade im Wissen um die Grenzen historischen Erkennens jene Dynamik frei, auf die die Bibel letztlich zielt:

„Der sekundäre Charakter der historischen Frage im Rahmen der Bibelwissenschaft macht das bleibend Fragmentarische und stets von Dunkel Durchsetzte der historischen Forschung leichter ertragbar. Nicht, dass es die Auslegung des Textes nicht miterfasste. Wohl aber, weil es in dem auslegenden Gespräch letztlich nicht um die historischen Fakten, sondern um den ausgesagten Sinn, ja um die personale Kontaktnahme mit dem geht, der im Text eine Aussage macht, vordergründig mit dem Menschen oder der Menschengruppe, von der der Text stammt, letztlich mit Gott, als dessen Wort die Bibelwissenschaft den Text nimmt.“11

Beeindruckend ist nach wie vor, wie klar und nüchtern Lohfink die Dinge schon vor über fünfzig Jahren gesehen hat. Im Grunde war bei ihm bereits alles da, es musste nur noch zur Entfaltung kommen. Vielleicht besteht hier eine Analogie zu seiner Sicht der Entstehung Israels. Verbreitet ist in unserer Zunft ein evolutives Verständnis der Entstehung des biblischen Monotheismus: Aus einem ursprünglichen Polytheismus habe sich zunächst die Monolatrie, wie sie im Hauptgebot des Dekalogs zum Ausdruck kommt, und schließlich in nachexilischer Zeit der biblische Monotheismus herausgebildet. Norbert Lohfink hat diese evolutive Sicht nie geteilt. Erich Zenger meinte einmal: Norbert stellt sich die Entstehung Israels so vor wie die Entstehung des Jesuitenordens. Das entscheidende Stichwort lautet: kleine Trägerkreise. Im Anfang war bereits alles im Keim angelegt: Um Ignatius von Loyola herum neun Gefährten, die wussten, was sie wollten, und die bereit und in der Lage waren, diesen Willen, den sie für den Willen Gottes hielten, in die Tat umzusetzen. Ähnlich ist die vorstaatliche Zeit Israels für Lohfink nicht Folge eines politisch-sozialen Unvermögens, sondern klarer Ausdruck eines politischen Willens. Nicht dass Israel noch kein Staat sein konnte, sondern dass es kein Staat mit einem irdischen König sein wollte und dass dieser Wille mit dem Bekenntnis zu seinem Gott unmittelbar zusammenhing, ist die Botschaft der einschlägigen Texte. Deshalb spricht Norbert Lohfink auch nicht von der vorstaatlichen, sondern von der antistaatlichen Zeit Israels.12

Unser Jubilar ist mit einer Gabe ausgezeichnet, die ein anderer berühmter Sohn dieser Stadt die Gabe der Einbildungskraft genannt hat. Einbildungskraft meint dabei nicht ein vages Herumphantasieren über Dinge, „die zu hoch und zu wunderbar für uns sind“, sondern die intuitive Kraft, das Wesen einer Sache zu erfassen und ihr poetische Gestalt zu verleihen – nach Goethe das belebende Prinzip allen Erkennens schlechthin. Freilich wurde auch schon zu Goethes Zeiten die Frage diskutiert, ob der Einbildungskraft nicht auch die Zügel der Vernunft anzulegen seien. Goethe spricht in diesem Zusammenhang vom Aperçu. „Alles“, so Goethe, „kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Aperçu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt.“13 Auf einmal sieht man die Dinge neu, sieht mit anderen Augen in die Welt. Oft hat Norbert Lohfink zu einem solch neuen Sehen verholfen. Und es dürfte kein Zufall sein, dass Goethe seine Gedanken zum Aperçu mit dem Phänomen religiöser Offenbarung in Verbindung bringt.

So sind bereits in Norbert Lohfinks frühen Aufsätzen alle grundlegenden bibelhermeneutischen Einsichten angelegt, die im Laufe der Zeit zur Entfaltung kommen sollten. Seine hohe Sensibilität für die Qualität literarischer Texte eignete er sich bereits in früher Jugend an – nicht zuletzt in den langen Zeiten des Wartens als jugendlicher Luftwaffenhelfer, bei Tag und bei Nacht. Im Abiturjahr 1946 bekam die Schulklasse einen Brentanoforscher des Freien Deutschen Hochstifts als neuen Deutschlehrer. Er machte die Schüler mit den neuesten Entwicklungen in den Literaturwissenschaften bekannt. In der Ordensausbildung beschäftigte sich der junge Jesuit ein Jahr lang intensiv mit Rilkes Duineser Elegien. Als Student vertiefte er sich in Henri de Lubacs Exégèse Médiévale. Für mich nach wie vor beeindruckend ist sein klares und ausgewogenes Urteil aus dem Jahre 1962 bezüglich einer kontroversen Diskussion um die Möglichkeit einer typologischen Schriftauslegung, wie sie in der liturgischen Verwendung biblischer Texte gang und gäbe war und ist. Deren Legitimität wurde damals durch die neu aufkommende historisch-kritische Exegese bestritten. Das Siegeslied am Schilfmeer ist für Lohfink ein Beispiel dafür, dass eine christlich-typologische Auslegung durchaus berechtigt ist, da die Ansätze dazu im Text selbst bereits angelegt sind:

„Entscheidend ist für uns auf jeden Fall, dass von einer wirklich zu Ende geführten modernen Exegese her gegen die typologische Verwendung des Mosesliedes in unserer Osternachtliturgie nichts mehr eingewendet werden kann. Der Text fordert vielmehr zur geistlichen Deutung heraus.“14

Unser Jubilar will allerdings auch „keiner billigen Allegorese das Wort reden“15, und er äußert Verständnis für die moderne Kritik an einer überbordenden und textlich nicht mehr zu rechtfertigenden allegorischen Auslegung biblischer Texte, wenn er schreibt:

„Eine Exegese, die sich mit der Auffindung des typologischen Sinns im Alten Testament schwer tut, weil sie ehrlich und nüchtern ist und oft nicht sieht, wie sie zu so etwas kommen könnte, muss heute geehrt und geachtet werden. Aber umgekehrt wäre eine Exegese, die von vornherein erklärt, sie wolle niemals etwas mit Typologie zu tun haben, engstirnig. Woher weiß sie denn, ob nicht gerade die historische Methode sie zwingen wird, zur Typologie zurückzukehren?“16

Auch heute ist das Klischee verbreitet, die historisch-kritische Exegese habe alle grundlegenden Prinzipien der ihr zeitlich vorangehenden Form der Schriftauslegung falsifiziert – ein Vorurteil, das nur schwer auszurotten ist. Schon damals hat unser Jubilar klar gesehen, dass eine „Integration des Historisch-Kritischen in die traditionelle katholische Inspirationslehre“ nicht nur möglich, sondern theologisch notwendig ist. Mit der kanonischen Exegese hat sich in unseren Tagen ein hermeneutisches Modell etabliert, das diesem Anspruch gerecht zu werden versucht. Von daher ist es nur konsequent, wenn Lohfink viele Jahre später, im Rückblick auf den frühen Aufsatz zur Irrtumslosigkeit und Einheit der Schrift aus dem Jahre 1964, schreibt, dass „vieles an dem Artikel [...] eine Vorwegnahme des Programms“ ist, „das später mit dem Namen ‚kanonische Schriftauslegung‘ entworfen wurde“17.

Christlich-jüdischer Dialog

Früh schon bekam Norbert Lohfink den christlich-jüdischen Dialog in den Blick. Allerdings näherte er sich ihm nicht aus kirchenpolitischer, sondern aus exegetischer Sicht. Für einen Alttestamentler ist das geradezu unumgänglich, ist doch das von Christen sogenannte Alte Testament zugleich Heilige Schrift des Judentums. So wichtig die historischen und psychologischen Aspekte dieses Themas sind, Lohfink interessieren zunächst die exegetischen Herausforderungen, die mit der Thematik verbunden sind. Uneingeschränkt teilt er die in der Konzilserklärung Nostra aetate ausgesprochene Forderung, jeder Form von Antisemitismus und Antijudaismus entgegenzutreten. Scharfsinnig jedoch weist er auf ein Problem hin, dem sich eine christliche Theologie und Exegese stellen muss. Dabei geht er von der sechsten Seelisberger These aus. Sie lautet: „Es ist zu vermeiden, das Wort ‚Juden‘ in der ausschließlichen Bedeutung ‚Feinde Jesu‘ zu gebrauchen [...]“18 Dazu bemerkt Lohfink, dass das Johannesevangelium genau das tut:

„Über das Johannesevangelium wird Schweigen gelegt. Schweigen auch über Matthäus [...] Dieses Schweigen umgibt nicht nur die Seelisberger Thesen, sondern ist immer wieder anzutreffen, gerade wenn Christen guten Willens von ihrem Glauben her über das jüdische Volk zu denken und zu sprechen versuchen. Schämt man sich irgendwo des Neuen Testaments? Auch die ‚Declaratio‘ des Konzils ist in ihrer Schriftverwertung selektiv. Sie wählt aus. Das soll kein Vorwurf sein. Sie ist ein gezieltes Dokument, kein theologischer Traktat.“19

Das Problem besteht nach Lohfink darin, „dass ein Historiker vor den Evangelien warnt, weil diese die historische Perspektive verfälschen, worauf dann Christen beginnen, eine den Evangelien nicht entsprechende Sprachregelung einzuführen, über die andersartige Sprache der Evangelien aber den Mantel des Schweigens legen“.20

In den vergangenen sechzig Jahren hat sich im christlich-jüdischen Dialog enorm viel getan. Lohfink selbst hat sich ausdrücklich in seiner Schrift „Der niemals gekündigte Bund. Exegetische Gedanken zum christlich-jüdischen Dialog“ (Freiburg 1989), mit dem Thema befasst. Einige seiner kritischen Anfragen sind von katholischer Seite in der Verlautbarung der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ vom 24. Mai 2001 aufgegriffen worden.

In einer etwas anders ausgerichteten Form hat sich unser Jubilar dem Thema in dem Sammelband „Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension“ (Freiburg 1987), zugewandt. Hier wird eine Thematik angesprochen, die sich in gewisser Weise wie ein roter Faden durch das Œuvre des Meisters zieht. Es geht ihm um die dem jüdischen Glauben immanente Welthaftigkeit, die zugleich ein Spezifikum des Alten Testaments darstellt. Dem bürgerlichen Verständnis des Christentums ist diese Dimension abhandengekommen. Sie gilt es wiederzugewinnen. „Nach der Bibel,“ so Lohfink, „ist Glaube selbst Stiftung von Gesellschaft. Er ist originär selber schon Drang, Materie zu formen und Welt zu verwandeln. Er fordert dies nicht erst sekundär als notwendige Verpflichtung nach außen. Wo er lebt, muss, damit er selber sei, neue Welt entstehen.“21

Nur ein kleiner Ausschnitt aus dem beeindruckenden Lebenswerk des Jubilars konnte hier vorgestellt werden. Seine großen wissenschaftlichen Werke insbesondere zum Deuteronomium, zu den Psalmen und zum Buch Kohelet seien wenigstens noch erwähnt. Sie stellen Meilensteine der Forschungsgeschichte dar. Große Verdienste hat sich der Jubilar durch seine langjährige Arbeit in der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Liturgiekommissionen (IAG) erworben. Seine hohe Sensibilität für Fragen der Textkritik qualifizierten ihn für Konzeption und Durchführung des internationalen Hebrew Old Testament Text Projects (HOTTP) mit den international führenden Vertretern des Faches. Wer seine Vorträge und Vorlesungen hörte, konnte mit dem alttestamentlichen Weisheitslehrer sagen: „Nur kurz hörte ich hin und schon fand ich Belehrung in Fülle“ (Sir 51,16).

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