Physik und MetaphysikBedroht der Naturalismus unser Welt- und Selbstverständnis?

Einige Denker glauben, mit den Naturwissenschaften – insbesondere mit der Physik – die Welt und ihre „Natur“ vollständig erschließen und erklären zu können. Heinrich Watzka SJ, Philosophie-Professor an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, zeigt auf, wo Gott in dieser naturalistisch-wissenschaftlichen Weltsicht seinen Platz hat: vor und in allen Dingen. Religion und empirische Erforschung der Schöpfung schließen sich nicht aus.

Nach einer Phase von Niedergang und Kritik erlebt das Fach Metaphysik derzeit eine Blüte. Als Jürgen Habermas vor dreißig Jahren die Situation des gegenwärtigen Philosophierens als „nachmetaphysisch“ charakterisierte, hatte er die idealistische Theorietradition von Platon bis Hegel, nicht die weitaus ältere Tradition des antiken Materialismus im Blick.1 Ihren Wiederaufschwung verdanken Metaphysik und Philosophie des Geistes der erfolgreichen Durchsetzung des Weltbilds der Naturwissenschaften, wobei zwischen Naturwissenschaft und philosophischem Naturalismus zu unterscheiden ist.2 Nicht jede Naturwissenschaftlerin, die etwas auf ihre Arbeit hält, ist Naturalistin. Es sind eher Philosophinnen und Philosophen, die „aufgrund mangelnder Vertrautheit mit den Naturwissenschaften […] zur Überschätzung der Erklärungsleistung naturwissenschaftlicher Theorien“ neigen, so Geert Keil.3 Der heute vertretene Naturalismus ist „weniger ein Ismus der Natur als ein Ismus der Naturwissenschaften“,4 das heißt eine philosophische Theorie, die den Naturwissenschaften, vor allem der Physik, einen umfassenden und erschöpfenden Erklärungsanspruch zuweist. In den „Dimensionen der Beschreibung und Erklärung der Welt“, so der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Wilfrid Sellars, „ist die Wissenschaft das Maß aller Dinge, der seienden Dinge, dass sie sind, der nichtseienden Dinge, dass sie nicht sind“.5 Der Naturalismus gewinnt an Schärfe, wenn er als ontologische These vertreten wird, also als These über das, was existiert und was nicht existiert.6

Moderne Naturalisten können sich die Klärung des Naturbegriffs schenken. „Natürlich“ ist das, was einer naturwissenschaftlichen Erklärung (im Prinzip) zugänglich ist, das heißt: Auch vieles von dem, was wir lebensweltlich nicht unter die natürlichen Dinge rechnen wie beispielsweise Personen, Artefakte, Kunstwerke, fällt unter die „Natur“ des Naturalismus. Naturalisten sind entschlossen, solchen Phänomenen, die sich einer naturwissenschaftlichen Erklärung verweigern, den Status des „Natürlichen“ abzusprechen. Dies hat die paradoxe Konsequenz, dass nicht nur die immateriellen Substanzen der alten Metaphysik, Gott, Engel und körperlose Seelen, sondern auch die subjektiven (phänomenalen) Aspekte unseres Denkens, Erlebens und Handelns als „übernatürlich“ gelten. Einige Naturalisten ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass Erlebnisqualitäten (Qualia) und Erlebnissubjekte, unter ihnen Wesen mit einer Erste-Person-Perspektive (Personen), nicht existieren. Nicht alle Naturalisten gehen so weit, das Subjektive und Erstpersonale aus ihrem Bild der Welt zu eliminieren.7

Der deutsche Philosoph Ansgar Beckermann, der bis 2010 in Bielefeld lehrte, kann zwischen dem „manifesten“ und dem „wissenschaftlichen“ Bild der Welt weder einen Gegensatz noch ein Konkurrenzverhältnis erkennen. Er ist vielmehr überzeugt, dass das wissenschaftliche Weltbild unsere „Alltagsontologie“ weitgehend intakt lässt.8 Die von Sellars eingeführte Unterscheidung von „manifestem“ und „wissenschaftlichen“ Bild der Welt bestimmt bis heute die Diskussion über die Frage, ob der Naturalismus unser Welt- und Selbstbild, das sich über Jahrtausende hinweg in Religion, Kunst und Philosophie artikuliert hat, unberührt lässt oder zu einer Revision zwingt. Im Folgenden werde ich mit wenigen Strichen Sellars‘ Unterscheidung skizzieren, anschließend Beckermanns Verteidigung des Naturalismus referieren und schließlich eine Alternative zur naturalistischen Ontologie andeuten.

Wissenschaftlich oder manifest?

In dem 1962 erschienen Aufsatz „Philososphy and the Scientific Image of Man“ umreißt der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Wilfrid Sellars die unauflösbare Spannung zwischen „manifestem“ und „wissenschaftlichem“ Bild der Welt.9 Ein Bild im Sinne Sellars ist eine Konzeption von Welt, also ein grundlegender Deutungsrahmen, der uns eine Begrifflichkeit an die Hand gibt, mit dessen Hilfe wir die Phänomene ordnen und beschreiben können. Es wäre kein vollständiges Bild, wenn es nicht die Stellung des Menschen in der Welt mitthematisierte. Das wissenschaftliche Bild ist nicht einfach eine Weiterentwicklung des manifesten Bildes, es bricht vielmehr mit dessen Ontologie und setzt eine andere an deren Stelle. Das manifeste Bild weist Personen einen privilegierten Status zu. Damit ist nicht gemeint, dass sämtliche Gegenstände – belebte wie unbelebte – Personen wären, dass jedoch alles, was existiert, in Analogie zu menschlichem Verhalten etwas tut, und zwar in habitueller und von daher erwartbarer und vorhersagbarer Weise.

In historischer Perspektive war das manifeste Bild der „Rahmen“, innerhalb dessen der Mensch Bewusstsein von sich erlangte und Mensch wurde.10 Der manifeste Rahmen war gegenüber Kritik und Korrektur niemals immun. In den großen Synthesen der klassischen Philosophie und der vormodernen Naturwissenschaft, die auf dem Weg der „korrelativen Induktion“ Erscheinungen mithilfe von Erscheinungen erklärte, erfuhr er eine Rationalisierung und Versachlichung.11 Für Sellars steht außer Frage, dass der Mensch, wie er sich bisher versteht, „wesenhaft dasjenige Seiende ist, das sich in dem Bild der Welt, das von der zeitlos gültigen Philosophie artikuliert und bestätigt wurde, erkennen kann“.12

Der Übergang vom manifesten zum wissenschaftlichen Bild der Welt vollzog sich als Ablösung der „korrelativen Induktion“ der vormodernen Wissenschaft durch die „postulatorische Methode“, bei der man das Verhalten wahrnehmbarer Dinge nicht länger durch Bezugnahme auf das korrelierbare Verhalten anderer wahrnehmbarer Dinge, sondern durch Bezugnahme auf nicht-wahrnehmbare („postulierte“) Entitäten und deren Prinzipien erklärt.13 Die Methode formierte sich zu einem Bild der Welt, als man damit begann, die vielen wissenschaftlichen Bilder des Menschen, das verhaltenswissenschaftliche, das neurophysiologische, das biochemische und das physikalische Bild, in einem wissenschaftlichen Bild zusammenzuführen.14 Dieser Prozess ist von der Idee beseelt, dass die Physik die grundlegende Wissenschaft darstellt und dass Gegenstände der speziellen Wissenschaften (Chemie, Biologie, Neurophysiologie, Verhaltenswissenschaft) mit komplexen Mustern der Gegenstände der theoretischen Physik identisch sind.

Die theoretische Identifikation der Gegenstände der speziellen Wissenschaften mit den von der Physik postulierten Entitäten hat nicht zur Folge, dass die Physik die speziellen Wissenschaften vollständig ersetzen könnte. Diese üben eine Art Brückenfunktion aus, indem sie ihre jeweiligen theoretischen Entitäten mittels unterschiedlicher Methoden und Messverfahren mit den intersubjektiv wahrnehmbaren Merkmalen der manifesten Welt in Verbindung bringen.

Für Sellars ist es logisch unmöglich, dass wir Wesen, denen wir Willensfreiheit, Empfänglichkeit für Gründe und Verantwortlichkeit zuschreiben, als physikalische Systeme rekonstruieren, die in Übereinstimmung mit statistischen oder nicht-statistischen Gesetzen evolvieren. Immer dann, wenn wir von einer Person sagen, sie wünschte, A zu tun, in der Annahme, dass es ihre Pflicht sei, B zu tun, obwohl sie gezwungen war, C zu tun, sehen wir sie nicht als Untersuchungsobjekt, sondern Mitsubjekt, das in ein „Netz von Rechten und Pflichten“ eingebunden ist, das heißt wir rekonstruieren ihr Verhalten in der Begrifflichkeit einer Gemeinschaft moralisch handelnder und rational argumentierender Wesen (vgl. Kants „Reich der Zwecke“). Indem wir so urteilen, betrachten wir uns selber als Mitglied dieser Gemeinschaft. Die Nichtreduzierbarkeit des Personalen ist die Nichtreduzierbarkeit des „Sollens“ auf das „Sein“.15 Wie Kant sieht uns Sellars als „Bürger zweier Welten“.16

Verteidigung des ontologischen Naturalismus

Ein unter Philosophen verbreitetes Missverständnis lautet, so Beckermann, dass die „Natur“ der Naturwissenschaften nur einen Teil oder einen Aspekt der umfassenden Natur darstelle, da die Naturwissenschaften nur das in den Blick nehmen könnten, was „mit naturwissenschaftlichen Methoden“ erfassbar sei.17 Beckermann bestreitet, dass Naturalisten darauf festgelegt seien, die Physik als das allgemeingültige Paradigma einer naturwissenschaftlichen Erklärung anzusehen. Was für ihn noch wichtiger ist: Das wissenschaftliche Vorgehen schließt nichts aus. So spreche nichts dagegen, mit wissenschaftlichen Methoden der Frage nachzugehen, „ob Wunderheiler tatsächlich erfolgreich sind“, oder der Frage, „ob die Gestirne einen Einfluss auf unseren Charakter haben“, oder der Frage, „ob Nahtoderlebnisse für die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele sprechen“. Es verhält es sich dann so, dass man de facto in der Regel nichts findet, was für die Existenz übernatürlicher Phänomen spricht. „Wenn man die Welt unvoreingenommen beobachtet, zeigen sich in ihr weder Götter noch Geister, noch andere übernatürliche Mächte und Kräfte.“18

Beckermann wendet sich nun dem Hauptgrund für die Annahme zu, es bestehe eine unauflösbare Spannung zwischen manifestem und wissenschaftlichem Bild der Welt. Im manifesten Bild sind Menschen Wesen, die sich in ihrem Denken und Tun an Gründen orientieren, über Gründe Rechenschaft verlangen und Verantwortung übernehmen. Können Menschen tatsächlich solche Fähigkeiten haben, wenn sie rein natürliche Wesen sind, also Wesen, die aus Atomen und Molekülen bestehen und deren Bewegungen physikalisch verursacht sind? Naturalisten wie Beckermann sind der Auffassung, dass die Menschen die genannten Fähigkeiten haben, selbst dann, wenn sie Wesen sind, die „nur aus Atomen bestehen“.19 Nicht-Naturalisten sind überzeugt, dass die Menschen die genannten Fähigkeiten nicht besitzen können, wenn sie „durch und durch natürliche Wesen im Sinne der modernen Naturwissenschaften“ sind.20

Für Beckermann ist die moderne Atomtheorie eine außerordentlich gut bestätigte empirische Theorie, die besagt, dass „alles um uns herum aus Atomen bzw. Molekülen besteht [und] dass sich die Eigenschaften von makroskopischen Gegenständen allein durch die Bezugnahme auf die Eigenschaften der Atome bzw. Moleküle, aus denen sie bestehen, und deren Anordnung erklären lassen“21. Diese Sichtweise wird in der Biologie durch die Erkenntnis ergänzt, dass die Zelle die elementare Einheit aller Lebewesen darstellt und dass auch Zellen „kleine chemische Fabriken“ sind, das heißt Ansammlungen komplexer Makromoleküle, die auf vielfältige Weise interagieren. Generell gilt, dass der Versuch der Wissenschaften, „die Eigenschaften der Dinge, die uns umgeben, reduktiv – das heißt durch Bezugnahme auf ihre Teile und deren Anordnung – zu erklären, […] außerordentlich erfolgreich“ war.22

Aber auch wenn letztlich alles aus Atomen besteht, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es emergente Eigenschaften gibt. Emergente Eigenschaften sind Eigenschaften komplexer materieller Systeme, die durch Bezugnahme auf die Teile dieser Systeme und deren Anordnung oder deren Zusammenwirken allein nicht erklärbar sind. Als Beispiele emergenter Eigenschaften werden immer wieder die selbstreplizierenden Eigenschaften einiger Kohlenwasserstoffverbindungen sowie Empfindungsfähigkeit, Bewusstsein und Geist komplexer Organismen angeführt. Mit den emergenten Eigenschaften kommen neue Naturgesetze, neue Ebenen der Organisation, neue kausale Kräfte ins Spiel. Für Beckermann ist ein „starker Naturalismus“, das heißt ein Naturalismus, der die Existenz emergenter Eigenschaften bestreitet, „attraktiver“ als ein Naturalismus, der mit der Existenz emergenter Eigenschaften rechnet.23

Naturalisten gehen davon aus, dass die Makroeigenschaften komplexer materieller Systeme in gesetzmäßiger Weise von den Mikroeigenschaften dieser Systeme, also von den Eigenschaften ihrer Teile und deren Anordnung abhängen.24 Eine Makroeigenschaft eines komplexen Systems gilt als reduktiv erklärt, wenn sie aus der Kenntnis der Eigenschaften der Teile, die diese isoliert oder in anderen Anordnungen besitzen, ableitbar ist. Eine bestimmte Makroeigenschaft abzuleiten heißt, zu zeigen, dass ein System mit einer bestimmten Mikrostruktur genau diese Eigenschaft exemplifiziert. So ist ein charakteristischer Schmerz, den eine Versuchsperson, Peter, zu einem bestimmten Zeitpunkt empfindet, zwar nicht identisch mit einem bestimmten Erregungsmuster der Neuronen in Peters Nervensystem zu diesem Zeitpunkt. Dennoch superveniert Peters Schmerz über dem Feuern seiner Neuronen: Peter hätte keinen oder nicht diesen Schmerz, würden die Neuronen in Peters Nervensystem nicht in dieser Weise feuern.

Wir sagen damit nicht, dass das Feuern der Neuronen in Peters Nervensystem mit Peters Schmerz identisch sei; wir sagen stattdessen, dass das Feuern der Neuronen die kausale Rolle des Schmerzes erfüllt. Wir erkennen damit an, dass einige psychologische Wörter in unserem Leben durchaus eine Rolle spielen, ohne zuzugeben, dass die Eigenschaften, auf die Bezug genommen wird, eigenständig existieren, da in ihrem Fall den physikalischen Eigenschaften keine weiteren Eigenschaften hinzugefügt werden. Sie gelten als „physikalistisch akzeptierbar“25. Emergente Eigenschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie ebenso wie reduktiv erklärbare Eigenschaften in gesetzmäßiger Weise von den Mikrostrukturen der Systeme abhängen, aber nicht einmal im Prinzip aus der vollständigen Kenntnis der Eigenschaften der Teile abgeleitet werden können, die diese Teile isoliert oder in anderen Anordnungen besitzen. Durch sie werden den physikalischen Eigenschaften neue Eigenschaften hinzugefügt, die den Lauf der Dinge in einer Weise beeinflussen, wie es die physikalischen Eigenschaften nicht tun würden. Physikalisten veranschaulichen diesen Zusammenhang gern mithilfe einer theologischen Metapher:

„Nachdem Gott die physikalische Welt erschaffen und die grundlegenden Gesetze dieser Welt in Kraft gesetzt hatte, brauchte er sich um die [realisierten] Eigenschaften nicht mehr zu kümmern. Sie ergaben sich von allein. Die emergenten Eigenschaften bedurften jedoch eines eigenen Schöpfungsaktes. Gott musste erstens diese Eigenschaften erschaffen, und er musste zweitens all die Gesetze eigens in Kraft setzen, die physikalische Mikrostrukturen mit emergenten Eigenschaften verbinden.“26

Die Existenz eigenständiger Eigenschaften hat zur Folge, dass die grundlegenden Naturgesetze nicht allgemein gelten und dass in der Welt „etwas nicht mit rechten Dingen zugeht“27. Es ist nicht verwunderlich, dass Naturalisten eine „intuitive Abneigung gegen emergente Eigenschaften“ hegen. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass die grundlegenden Naturgesetze nicht allgemein gelten, und dementsprechend ist es möglich, dass es emergente Eigenschaften gibt, auch wenn dies „in einem gewissen Sinne sehr unschön wäre“28.

Als Befürworter eines „starken Naturalismus“29 muss Beckermann an dem Nachweis interessiert sein, dass zentrale menschliche Fähigkeiten wie zum Beispiel die Fähigkeiten, (1) selbstbestimmt zu handeln, (2) aus Gründen zu handeln, (3) ein Ich- oder Selbstbewusstsein auszubilden, ohne Bezugnahme auf ein Ich oder Selbst und ohne Bezugnahme auf eine besondere Art von Kausalität, die so genannte „Akteurskausalität“, erklärbar sind.30 Von „Akteurskausalität“ spricht man, wenn eine Person von selbst eine Kausalreihe beginnen kann. Für Naturalisten ist die Akteurskausalität nicht weniger mysteriös als die Tätigkeit des Ersten Unbewegten Bewegers der alten Metaphysik. Mit der Akteurskausalität ist der Begriff der libertarisch verstandenen Willensfreiheit verwoben. Ich bin im libertarischen Sinne frei, wenn aus der Tatsache, dass ich A tat, nicht folgt, dass ich nicht anders hätte entscheiden können. Beckermann bestreitet, dass es sich bei dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten um eine notwendige Bedingung der Freiheit handelt. Es genügt, dass es von „meinen Handlungen und Entscheidungen abhängt, ob das Ereignis stattfindet oder nicht“, und diese Bedingung ist bereits erfüllt, wenn meine Entscheidungen auf einem „geeigneten inneren Steuerungsmechanismus beruhen“31. Wie gelingt es dem kognitiven System, einen Begriff von sich zu entwickeln? An dieser Stelle erzählt Beckermann eine komplizierte Geschichte, die davon handelt, wie es dem Gehirn gelingt, eine Vielzahl „akteurszentrierter“ und objektzentrierter Repräsentationen in einer Weise zu verknüpfen, dass dem System klar wird, dass es sich auf „sich selbst“ bezieht.32 Für Beckermann ist auch vorstellbar, dass neuronale Prozesse „auf Gründe reagieren“, wie das Beispiel computationaler Prozesse zeige.33 Ich bezweifle, dass der Nachweis, dass zentrale Eigenschaften von Personen in materiellen Systemen realisierbar sind, gelungen ist.

Eine nicht-naturalistische Alternative

Die implizite Ontologie vieler Naturalisten ist die Mereologie, also die Lehre von der Relation der Teile zu einem Ganzen und der Teile untereinander. Naturalisten gehen davon aus, dass es nur zwei Arten von Dingen gibt, mereologische Atome oder Summen – Dinge, die keine genuinen Teile haben – und deren Aggregate. Der mereologische Substanzbegriff fügt sich nahtlos in die Grundüberzeugung vieler Physikalisten ein, für die der britische Philosoph Galen Strawson den Ausdruck „smallism“ geprägt hat. „Smallism“ ist die Überzeugung, dass „alle Tatsachen durch die Tatsachen, die mit den kleinsten Dingen, den Dingen auf der untersten Ebene der Ontologie, zu tun haben, determiniert werden“34. Sollte es emergente Eigenschaften geben, ist die Idee der Mikrodetermination aller Dinge und Ereignisse durch Dinge und Ereignisse auf der untersten (physikalischen) Ebene gescheitert. Aber auch die Anhänger emergenter Eigenschaften sind Naturalisten. Denn sie gehen davon aus, dass (1) der ontologische Physikalismus wahr ist, also die Theorie, dass es nur eine Art von Substanzen gibt, die als Träger von Eigenschaften infrage kommen, nämlich materielle Substanzen, und dass (2) auch die emergenten Eigenschaften komplexer materieller Systeme über den Eigenschaften ihrer Teile, also den Substanzen, supervenieren, das heißt, dass jedem Unterschied auf der Makroebene ein Unterschied auf der Mikroebene entspricht, die als grundlegend angesehen wird.

Um an diesem Bild der Welt eine Korrektur vornehmen zu können, benötigen wir einen angemessenen Substanzbegriff, der in der Philosophie des Aristoteles vorgebildet ist. Die paradigmatischen Substanzen sind für Aristoteles die Lebewesen, die als „Materie“ einen organischen Körper haben. Wie alle Substanzen sind Lebewesen Materie-Form-Einheiten. Moderne Hylemorphisten wie William Jaworski übersetzen „Form“ mit „Struktur“.35 Substanzen bestehen aus „Material“, also aus Atomen, Molekülen und Zellen, die in unterschiedlicher Weise organisiert oder strukturiert sind. Die Struktur ist dafür verantwortlich, dass etwas einer bestimmten natürlichen Art angehört und die Kräfte und Fähigkeiten besitzt, die für diese Art charakteristisch sind. Die Eigenschaften strukturierter Individuen supervenieren gegenüber ihren Teilen und deren Anordnung, ohne durch sie determiniert zu sein.

Ich schlage vor, einen Schritt weiter zu gehen und die strukturierten Individuen als emergente Individuen aufzufassen. Wer die Existenz emergenter Eigenschaften anerkennt, sollte auch bereit sein, die Möglichkeit der

Existenz emergenter Individuen anzuerkennen. Emergenztheoretiker wie Philip Clayton36 und Timothy O‘Connor37 vollziehen diesen Schritt. Personen als emergente Individuen sind Ausgangspunkte effizienter Kausalität, „Agentia, Entitäten, die etwas bewirken können und auch tatsächlich bewirken“ – das ist die antik-mittelalterliche Funktionsbestimmung der Substanz. Hinzugekommen ist in der Neuzeit ein weiterer Aspekt. Substanzen sind Träger des Bewusstseins, Subjekte der Erfahrung: „Entitäten, die denken können und auch tatsächlich denken“, wobei „denken“ hier in der weiten Bedeutung verstanden werden muss, die Descartes ihr beigelegt hatte, unter Einschluss von Empfindungen und Gefühlen.38 Es gibt also gute Gründe, den ontologischen Naturalismus, also die These, dass alles, was existiert, mit den kleinsten Bestandteilen der Materie identisch und oder durch deren Anordnung realisiert ist, zurückzuweisen.

Bedroht der Naturalismus unser Welt- und Selbstverhältnis? Die Antwort lautet: nein. Der Naturalismus konnte bisher keines seiner Reproduktionsprogramme erfolgreich durchführen. Das könnte daran liegen, dass seine Ontologie verfehlt ist. 

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