Muslime treffenTürkische Gespräche, römische Nachgedanken

Felix Körner SJ, Theologe und Islamwissenschaftler an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, hat viele Jahre in der Türkei verbracht. Dabei lernte er zahlreiche Muslime kennen, die sehr unterschiedlich mit ihrem Glauben, aber auch mit dem Glauben des christlichen Paters umgehen. P. Körner protokolliert die erstaunlichen Begegnungen und die Erkenntnisse, die er daraus gewonnen hat.

Mit zwei anderen Jesuiten habe ich ab dem Jahr 2002 für sechs Jahre die katholische Gemeinde von Ankara betreut. Jetzt wohne ich in Rom, besuche die alten Bekannten aber regelmäßig in der Türkei. Anfang des Jahrtausends war das Land in Aufbruchstimmung. Eine Versöhnung schien möglich zwischen West und Ost, Moderne und Tradition, zwischen säkularer Verfassung und religiöser Gesellschaft. Inzwischen gewinnen Angst und Abgrenzung wieder die Oberhand. Jedoch Vorsicht! Statt irgendeine Vergangenheit zu verklären, gilt es, heutige Chancen zu erkennen. Wem aus EU-Blickwinkel nichts einfällt als die Verteufelung Erdoğans, vertieft nur die Gräben und die Anhänglichkeit türkischstämmiger Deutscher an den, den sie dann umso pathetischer zu „ihrem“ Präsidenten erklären. Unrecht gehört klar benannt; aber genauso wichtig ist es, Freundschaften mit Menschen zu pflegen, die anders denken als die Populisten, aber auch anders als ich selbst. In der Erinnerung gehe ich meinen früher fast täglichen Weg nach: von der Kirche zur islamisch-theologischen Fakultät; nicht in Wehmut, sondern auf der Suche nach Ansatzpunkten für ein freies, verantwortungsvolles Miteinander.

Ali

Neben unserer Kirche ist eine Fabrik, ganz klein, in Wohnzimmergröße. Es ist Alis Fabrik. Er hat eine Maschine erfunden, mit der man Wachsmalstifte gießen kann. Ali ist nicht gerade schlank und auch nicht gerade religiös. Es ist ein Novembermorgen im Jahr 2006. Ali sitzt vor seiner Fabrik und gibt mir das Zeichen, dass er mir etwas mitteilen will. „Felix“, sagt er, als ich vor ihm stehe. „Heute kommt ja euer Papst.“ Stimmt. Papst Benedikt ist angekündigt. Zwei Monate zuvor hatte Benedikt seine berüchtigte Regensburger Rede gehalten. In ihr hatte er das Christentum als die Religion der Rationalität dargestellt und ihr mit einem mittelalterlichen Zitat den Islam als Religion der Aggressivität entgegengestellt. „Felix, heute kommt ja euer Papst“, sagt Ali also, und fährt fort: „Den knallen wir ab!“ Was soll ich da sagen? Irgendwie fällt mir die richtige Antwort ein: „Den knallt ihr ab? Das habt ihr doch schon beim letzten versucht; hat ja auch nicht geklappt!“ Das war natürlich eine Anspielung auf Papst Johannes Paul II., den 1981 Mehmet Ali Ağca erschießen wollte, ein psychisch kranker Türke, wohl vom russischen Militärnachrichtendienst beauftragt. Wie reagiert Ali auf meine Antwort? Er lacht sich kaputt, bietet mir das Give-me-five-Zeichen, unsere Hände klatschen aneinander, er fragt noch, ob ich einen Tee will, ich muss aber weiter.

Halten wir kurz inne; für drei Gedanken. Erstens: Was ich bisher erzählt habe und jetzt noch erzähle, klingt vielleicht manchmal ein bisschen romanhaft. Aber es ist alles so passiert. Zweitens: Ali ist kein frommer Mann. Er würde sich auch darüber wundern, dass er an erster Stelle vorkommt, wenn ich Begegnungen mit Muslimen schildere. Wir müssen uns tatsächlich davor hüten, jeden Menschen in nur eine Gruppe einzusortieren. Man könnte das die Gefahr der Mono-Kategorisierung nennen. Ein solches Framing ist schnell ein Othering: Den anderen Menschen empfinde ich deshalb als wirklich anders, weil ich ihn einer Gruppe zuordne, zu der ich selbst nicht gehöre. Jeder gehört aber doch zu verschiedenen Gruppen zugleich; und in dem, was sein Leben am meisten prägt, ist er mir möglicherweise nah. Jedoch kann sich auch eine sonst nebensächliche Zugehörigkeit plötzlich in den Vordergrund drängen. Wenn der Papst den Propheten beleidigt, ist auch der kaum gläubige Wachsmalstiftefabrikant mit einem Mal Muslim und verletzt. Drittens: Als Ali gesagt hatte: „Den knallen wir ab!“, stand alles auf der Kippe: Der Tag stand auf der Kippe, unsere Beziehung, sogar: die Bedeutung seiner Bemerkung. Wenn ich sie ernst genommen hätte, wäre sie auch ernst gemeint gewesen. Aber mir kam der Geistesblitz, sein Wort als Witz zu nehmen. Es kippte in die richtige Richtung; und sogar Ali schien beruhigt. Er war vorher offenbar selbst nicht ganz sicher, wie er es gemeint hatte. Der Papstbesuch wurde dann auch ein Erfolg. Benedikt brachte zwar nochmals ein mittelalterliches Zitat – und wir zitterten, was er nun wieder hervorziehen würde. Aber es war die schöne Formel aus dem Jahr 1076: Ihr Muslime und wir, sagt Papst Gregor VII., „wir glauben und bekennen denselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise“ (28. November 2006).

Hasan und Hulusi

Nun weiter auf meinem Weg durch Ankara. Gleich an der Ecke haben Hasan und Hulusi ihr Geschäft. Sie verkaufen alles Mögliche: Sonnenbrillen, muslimische Rosenkränze, Taschenlampen. Hulusi ist 25 Jahre alt. Vor einem Jahr hat er seine Frau verloren, als sie mit dem ersten Kind schwanger war: beide tot. Wenn er mich sieht, macht er aber keinen traurigen Eindruck. Wir haben schon mehrfach über Glaubensfragen gesprochen. Der junge Witwer und sein großer Bruder gehören zu einer islamisch-geistlichen Bewegung: Nurcus sind sie, lesen immer wieder die Vorträge und Briefe des Gründers Said Nursî († 1960). Hasan und Hulusi haben etwas Reines, Mildes. Man spürt, wie sie in dem ständigen Bewusstsein leben: Das Diesseits ist nur eine Probezeit für die Ewigkeit. Sie haben auch für alle Lebenslagen ein weises Wort auf Lager. Jetzt ist Ramaān. Den Tag über essen sie also nichts, trinken nichts, lutschen nicht einmal ein Bonbon, tragen aber die Herausforderung des Fastens mit einer freudigen Würde; und sie erklären mir: „Fasten ist Schule der Dankbarkeit.“

Einen Wunsch aber haben sie heute: Ich soll sie diesen Abend besuchen. Sie wollen das Fastenbrechen mit mir feiern. Wäre ja schön, sage ich, aber ich habe doch selber diese Tage Besuch, meine Islamwissenschaftsprofessorin aus Deutschland ist da. Ich will mich um sie kümmern. „Felix“ – beschließen Hasan und Hulusi sofort – „die bringst du einfach mit!“ Die deutsche Professorin kann tadellos Türkisch; und als ich es mit ihr bespreche, lässt sie sich tatsächlich darauf ein – solange wir die wenigen Abende zusammen verbringen, können wir auch gemeinsam einen Besuch machen. Die Brüder holen Frau Professor Wielandt und mich an der Kirche ab, und wir fahren in eine ärmere Wohngegend. Hier stehen keine komfortablen Mehrfamilienhäuser, wie sie die meisten türkischsprachigen Christen bewohnen.

Wir sehen, die Brüder leben zwar in einem kleinen Haus, aber es ist ein Mehr-Generationen-Haushalt. Die Großfamilie begrüßt uns mit neugieriger Freude. Die Frauen tragen Kopftuch. So hatte ich mir das auch vorgestellt. Ich strecke ihnen also nicht die Hand entgegen, sondern verneige mich, die Hand vor dem Herzen. Aber dann geschieht etwas Unerwartetes. „Frau Wielandt, bitteschön“, wird ihr bedeutet, Sie gehen mit den Frauen, Sie essen hier; und wir Männer, wir gehen ins andere Zimmer. Oh Schreck! Hulusi sieht meine Sorge, ich protestiere. Er will mich beruhigen: „Ach, Frauen, die reden doch sowieso nichts Interessantes.“ Peinlich! Die Brüder führen mich ins Wohnzimmer, an der Wand steht ein Sofa, wir setzen uns aber auf den Boden. Das lieben viele Familien in der Türkei. Ich glaube, sie fühlen sich dann wie ihre Vorväter: wie die türkischen Nomaden, aber auch wie die Beduinen zur Zeit Muammads. Die Familie verrichtet nun ihr Abendgebet, aber sie tut es in verschiedenen Schichten, damit die Gäste nie allein sind. Dann brechen sie das Fasten dieses Tages mit einer Dattel und einer Tasse heißer Suppe.

Wir reden kaum. Der Fernseher läuft. Das ist für einen nahöstlichen Haushalt keine Rücksichtslosigkeit. Der Fernseher ist das Lagerfeuer. Er knistert und flimmert, und man sitzt schweigend darum herum. Es läuft gesungene Koranrezitation, dann ein Glaubensgespräch. Wir essen still. Meine Gedanken gehen immer wieder zu meiner Professorin: Sie wird sich bestimmt ärgern, dass wir getrennt wurden; die Gedanken von Hasan und Hulusi sind offenbar auch nicht hier, nicht bei dem frommen Ramaān-Fernsehprogramm, sind auch nicht bei mir, dem deutschen Gast. Sie freuen sich sichtlich, dass ich da bin, aber sie wollen nicht reden. Sie scheinen sich eher ins Paradies hineinzuversetzen, auf das sie sich vorbereiten. Nach zwei Stunden geschmackvollem, aber fast wortlosem Essen gebe ich das Zeichen, das sie selbst als Gastgeber nie geben würden: Ich sage: „Mit eurer Erlaubnis“ – was so viel bedeutet wie: „Aufbruch“. Ich bin aufgeregt, weil ich ja jetzt meine Professorin wiedersehe, sicher sauer. Aber keineswegs! Sie strahlt und flüstert auf Deutsch: „Das war hochinteressant! Über Religionsfreiheit haben wir gesprochen. Das sind richtig kluge Frauen!“

Halten wir wieder kurz inne. Vielleicht kann ich auch aus dieser Begegnung dreierlei lernen: Die Jenseits-Sehnsucht kann ein enormer Trost bei schlimmen Schicksalsschlägen sein; und in dieser Gelassenheit kann man dennoch ein erfolgreicher Mensch im Diesseits werden. Einfache Lebensverhältnisse und Kopftuch bedeuten nicht: Hier denken die Frauen nicht nach; nein, sie können wachen Auges auf die Gegenwart schauen. Schließlich: Muslime, die sich ihres eigenen Glaubens sicher sind, sehen uns als Gottgläubige, mit denen sie ihr Glaubensleben teilen, nicht als Andersgläubige, von denen sie sich abgrenzen müssen.

Adem

An der Hasan-und-Hulusi-Ecke biege ich rechts ein. Hier verkaufen fast alle Geschäfte dasselbe: Kinderwagen. Vor dem ersten Geschäft steht Adem. Er ist ziemlich klein gewachsen. Vielleicht führt er deshalb gern seinen eindrucksvollen Bizeps vor. Er verwandte anfangs öfter ein Wort, das ich nicht verstand. Bis ich lernte, wer „Schweinsteiger“ ist. Adem ist Fußballfan; und er ist mir gegenüber hin- und hergerissen. Einerseits fasziniert ihn dieser große Deutsche; andererseits vermutet er, dass ich ihm seinen Glauben nehmen will. Ich mache mit ihm deshalb häufig kleine Islam-Tests, die alle Umstehenden natürlich aufmerksam verfolgen. Los ging es so, an einem Freitagnachmittag: „Und, warst du im Predigtgottesdienst?“, frage ich. Klingt unmöglich, aber er soll sich ja vor mir auch als treuer Muslim zeigen dürfen. Er bejaht. „Und, was hat der Imam gepredigt?“, schulmeistere ich weiter. Adem schaut in die Runde. Es haben sich schon vier, fünf belustigte Zuhörer versammelt. Auch Adem lacht. Er empfindet wohl: Es ist eigentlich daneben, dass ausgerechnet Felix das fragt, und es ist Adem peinlich; aber er muss auch Zeit gewinnen, um sich zu besinnen. Ah, dann fällt es ihm ein: „Dass wir uns um Behinderte kümmern sollen, hat er gepredigt.“ Adem wird geradezu einen Kopf größer. Prüfung bestanden.

Schwieriger sind Adems Prüfungen mit den Frauen. Er schaut ihnen sehr begierig hinterher. Nun hatten wir bei uns in der Kirche für ein paar Tage die blonde Tochter des deutschen evangelischen Pfarrers von Istanbul einquartiert, Anne. Und Adem fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. „Adem, hör mal,“ sagte ich: „Du musst hier jetzt Abilik machen.“ Das heißt, du bist Annes großer Bruder; du bist mitverantwortlich dafür, dass ihre Würde und die Ehre der Familie gewahrt werden. Wieder wird Adem einen Kopf größer und verrichtet seinen Großer-Bruder-Dienst die nächsten Tage mit ausgesuchter Höflichkeit.

Dann bahnte sich, nach einigen Jahren und einigen gescheiterten Versuchen, seine Ehe an. In unseren Breiten hätte einer wie Adem kaum so früh geheiratet, aber in dieser eher schlichten Gegend Ankaras macht die Familie Vorschläge und erzeugt einen Erwartungsdruck, der sich in Adems Fall als heilsam erwies. Ich habe seine Frau zwar nie zu Gesicht bekommen, aber er wollte mit mir besprechen, wie er seinen ersten Sohn nennen soll. Er hatte das Plakat mit den „99 schönsten Namen Gottes“ von der Wand genommen. Es hängt in vielen Wohnzimmern und Geschäften. Muslime zählen ja die Eigenschaften Gottes aus dem Koran wie eine Litanei auf, oft in Gegensatzpaaren. Ein Name hatte es ihm besonders angetan. Es gibt das Gegensatzpaar „a -āhir al-Bā in“. Al-Bāin fand Adem super. Seinen Sohn wollte er deshalb gern ʿAbdalbāin nennen. Das klinge so schön, sagte er; aber er wisse nicht, was es bedeutet. Ich erklärte es ihm: a -āhir heißt „(Gott ist) der Offenbare“ – al-Bā in „(Gott ist) der Verborgene“. ʿAbdalbāin wäre also „Der Diener des Verborgenen“. Das hat Adem dann doch nicht genommen. Vor allem seine Frau war dagegen.

Wie lässt sich die Adem-Geschichte lesen? Das eine ist: Wir haben zwar eine gute, lebendige, witzige Beziehung; aber seine Gefühle changieren zwischen Vertrauen und Misstrauen, Bewunderung und Verurteilung. Und das macht nichts. Gefühlslagen sind eben gemischt. Das andere ist dies: Wir gewannen beide, mit unseren Unsicherheiten, voreinander unser Profil. Er konnte sich als regeltreuer Muslim zeigen; und ich wurde, ohne es je geplant zu haben, zu dem Geistlichen, der das Frömmigkeitsleben von Adem väterlich überwacht und berät.

Hamit

Jetzt aber nach links eingebogen, zu Hamit. Er ist mein bester Freund in der Gegend. Er steht bei Wind und Wetter an seinem Stand, denn er will seine Frau und seine beiden Kinder ernähren. Er ist ein erstaunlich stabiler Typ, gesund an Körper und Seele. Und aus einem schmalen Stand, an dem es erst einmal nur Strümpfe gab, ist im Laufe der Jahre ein meterlanger Straßenverkauf auch von Mützen und Schuhen geworden. Wenn ich jetzt aus Rom wieder an seinem Stand vorbeikomme, dann kann sich folgende Szene abspielen: Ich klaue im Vorübergehen ein Paar Badelatschen. Hamit merkt es, freut sich, dass ich endlich mal wieder im Lande bin, und ruft: „Haltet den Dieb!“ Alle Nachbarn schauen entsetzt auf, verstehen aber sofort und freuen sich zu sehen, wie Hamit und ich uns feierlich begrüßen und Wiedersehen feiern.

Hamit hat immer praktische Ratschläge auf Lager, und ich brachte ihm die englischen Zahlen bei, für die wenigen Touristen, die ja auch mal Strümpfe kaufen könnten. Ich habe Hamit immer daran erinnert, dass das Wichtigste, was er seinen Kindern bieten muss, gute Bildung ist. Und tatsächlich studieren Tochter und Sohn inzwischen, finanziert hauptsächlich durch den Verkauf von Mützen, Latschen und Strümpfen. Für Hamit ist Erdoğan der ideale Politiker: Dass unter ihm über 150 Journalisten ins Gefängnis gekommen sind, hält Hamit für notwendig; ihm ist es wichtiger, dass Erdoğan die Religion zurück in die Öffentlichkeit, und in Hamits Geldtasche mehr Inhalt gebracht hat. Das überzeugt ihn.

Wenn wir uns morgens sehen, hat Hamit schon die Zeitung gelesen, und dann kommentiert er die Nachrichten. Ich erinnere mich an seine Schmerzen, als er mir die Fotos von Greueltaten US-amerikanischer Soldaten aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghaib zeigte. Er fragte zitternd: „Ist das der christliche Westen?“ Ich konnte nur wiederholen, was Johannes Paul II. am 13. Januar 2003 zum Irak-Einmarsch gesagt hatte: Jeder Krieg ist eine Niederlage der Menschheit, der Menschlichkeit.

Ich erinnere mich auch, wie Hamit im Mai 2003 morgens die Zeitung in der Hand hielt und auf die Nachricht vom Erdbeben in Bingöl deutete: 177 Tote. Dann sagte Hamit: „Allah’tan – das ist von Gott“. Das ist leicht misszuverstehen. Es bedeutet nicht, dass der Gott der Muslime böswillig ist und Erdbeben schickt. Hamit sagt damit vielmehr: Wir können den Sinn des Erdbebens nicht erkennen; aber auch dieses Schlimme ist von Gottes Willen umfangen. Ich gebe, sagt Hamit also, deswegen meinen Glauben an Gott nicht auf, sondern vertraue, dass er es schon richtig macht.

Hamit ist ein tief gläubiger Muslim; er findet es zwar verkehrt, dass ich Christ und Pater bin, aber er akzeptiert es. Hamit ist eigentlich immer an seinem Stand. Nur freitags zur Mittagsgebetszeit nicht. Da ist er im Predigtgottesdienst, und Hatice, seine Frau, übernimmt den Verkauf. Sie ist deutlich missionarischer als ihr Mann. Sie spricht mich dann schon auch theologisch an. „Pater“, hat sie einmal gesagt: „Wir nehmen ja Jesus als Propheten an. Wieso nehmt ihr denn Muhammad nicht auch als Propheten an? Muhammad hat doch Gottes letzte Offenbarung gebracht!“ Das ist weder ein Angriff – noch ist es Einladung zum Gedankenaustausch über den Glauben. Hatice meint vielmehr, mir etwas mitteilen zu müssen, was ich noch nicht wusste. Ihr leuchtet einfach nicht ein, wie man den Koran nicht als Offenbarung annehmen kann. Das hört man von muslimischer Seite häufig: Wir erkennen Jesus an, also erkennt doch ihr auch Muammad an.

Ich habe lange gebraucht, darauf eine gute Antwort zu finden – gut, das heißt richtig und verständlich. Ich sage jetzt: Jesus hat uns die Gemeinschaft mit Gott eröffnet (vgl. 1 Johannes 1,3). Der Koran sagt das nicht. Daher können wir seinen Verkünder, Muammad, nicht einfach so als weiteren Propheten anerkennen; und daher erkennen wir auch Jesus nicht einfach als weiteren Propheten an, sondern eben: Er hat uns die Gemeinschaft mit Gott eröffnet.

Über die Freundschaft mit dem Strumpfhändler Hamit bin ich glücklich. Wir sind das, was ich auch bei wissenschaftlichen Delegationen im Vatikan sage: „friends in difference“ – Freunde; und deswegen nicht einfach gleich. Meine Erfahrung ist: Wir werden durch die Begegnung mit Muslimen bessere Christen; wenn wir ihre vorbildliche Demut sehen, vor allem aber wenn wir ihr Zeugnis annehmen als Frage an unseren Glauben, auch an unsere Theologie.

Özkan

Gleich hinter Hamits Strümpfe-Verkauf ist der Taxistand. Wenn ich in die Islamisch-Theologische Fakultät fahre, bin ich meist aufgeregt. Ich habe dann eine türkische Vorlesung im Kopf, die ich erst am Vorabend ausarbeiten konnte. Ich habe die Krawatte schon um und muss sie nur noch vor dem Spiegel im Auto festziehen; ich bin eigentlich schon in der akademischen Welt, wenn ich ins Taxi steige. Ich gerate dann zum Beispiel an Özkan. Er ist glücklich, dass er mich fahren kann; und ich freue mich auch. Ich frage ihn auch noch schnell, wie es seinem Auge geht, das sieht nämlich nach der Operation immer noch schlimm aus. Er steuert sein Taxi trotzdem schon wieder; und den Weg zur Fakultät kennt er sowieso auswendig. Özkan sieht vielleicht nicht so gut, aber eine schöne Stimme hat er. Und wenn er merkt, dass ich nervös bin, dann singt er mir unterwegs etwas vor. Die Texte seiner Lieder stammen meist von dem islamisch-geistlichen Volksdichter, den jeder Türke kennt: Yunus Emre (gestorben 1321). Eines seiner schönsten Gedichte ist dieses:

 

Hak cihana doludur                 Die Welt ist voll von Gott.

Gelin tanış olalım                      Kommt! Wir wollen einander kennenlernen.

İşi kolay kılalım                          Wir wollen einander die Arbeit erleichtern.

Sevelim sevilelim                      Liebende wollen wir sein und Geliebte.

Dünya kimseye kalmaz           Das Diesseits bleibt keinem erhalten.

 

Beyza

Wir fahren bekanntlich zur Theologischen Fakultät. Dort hat das Yunus-Emre-Gedicht, das Özkan mir zur Beruhigung vorsingt, eine ganz eigene Geschichte. Sie beginnt in den 1960er-Jahren. Unter den vielen Männern, die damals Theologie studierten, um Imame und islamische Religionslehrer zu werden, ist auch eine Frau, Beyza. Sie trägt kein Kopftuch, was normal ist für jene Zeit. Beyza bewirbt sich auf ein Stipendium für Jordanien, um besser Arabisch zu lernen. Obwohl ihre Noten ausgezeichnet sind, befindet die Jury: Solche wichtigen Stipendien sollten lieber die Männer bekommen. Aber – bieten sie ihr an – es gibt noch ein Stipendium, für das sich kein Interessent gefunden hat: Deutschland. Beyza nimmt es an und kommt nach Eichstätt. Dort fragt sie sich, wie das die Christen machen: Wie sie den Kindern den Glauben erschließen. Sie beginnt, sich in den katholischen Religionsunterricht zu setzen, und sie spürt: Dahinter ist Methode. Sie entdeckt, dass es ein Fach „Religionspädagogik“ gibt! Als sie in die Türkei zurückkehrt, wird sie die Begründerin dieser theologischen Disziplin in Ankara. Heute hat sie einen großen Schülerkreis; die meisten daraus sind inzwischen selbst Professoren – und Professorinnen. Sie tritt regelmäßig im Fernsehen auf: „Tante Beyza erklärt den Koran“ heißt etwa im Ramaān das Motto.

Beyza mag Jesus und sagt, Erziehung geht nur mit Liebe. Sie erzählt mir auch, wie es ihr erging, als sie den Passionsfilm von Mel Gibson sah: „Die wichtigste Szene ist, wie Jesus auf dem Kreuzweg vor seiner Mutter stürzt, sich erinnert, wie er schon einmal, als Kind, so vor ihr hingefallen war; und wie er dann sagt: Siehe, ich mache alles neu.“

Beyza ist fasziniert von den Lehrschreiben der römischen Kirche. Seit den 60er-Jahren ist darin immer wieder vom Dialog die Rede. Sie sagt sich, so einen Dialog wollen wir auch in Ankara. Mit dem Nuntius und anderen Persönlichkeiten gründet sie einen Gesprächskreis. Sie nennt ihn Tanış olalım: „Wir wollen einander kennenlernen.“ Das ist die Liedzeile aus dem 14. Jahrhundert, die Özkan mir im Taxi vorsingt.

Aus Beyzas Gesprächsprojekt in Ankara wurde langsam etwas Internationales. Denn mit dem Nuntius zusammen schreibt Beyza an den Papst – es ist Johannes Paul II.: Du redest von Dialog. Wir wollen diesen Dialog; schick uns Gesprächspartner. Der Papst gibt den Auftrag an seine römische Jesuitenuniversität weiter, die Gregoriana. Dass ich jetzt neben Özkan im Taxi sitze, ist eine Frucht aus der Saat dieses Projektes: Tanış olalım: Wir wollen einander kennenlernen.

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