Wie eine Befragung von Jungen den Alltag veränderteNeun Muggelsteine für ein Fußballturnier

Ohne zu fragen in den Garten gehen können, mit Stöcken kämpfen, in einem Fußballspiel gegen Eltern antreten – das möchten die Jungen einer Kita in Eppersthausen für sich erreichen. Sie gründen eine Arbeitsgruppe und werden in eigener Sache aktiv.

Neun Muggelsteine für ein Fußballturnier
© Katrin Born, Münster

Jungen spielen mit Autos, Mädchen mit Puppen. So weit, so klischeehaft. Meine Erfahrung ist: Jungen und Mädchen haben unterschiedliche Interessen und unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Spielwelten, nicht so sehr in Bezug auf ihr Spielverhalten. In unserer Kita ist mir Folgendes wiederholt aufgefallen:

  • Jungen bevorzugen im Vergleich zu Mädchen geschlechtsrollentypische Spiele.
  • Das Bauen ist das geschlechtstypischste Spiel von Jungen.
  • Jungen spielen häufiger medienbezogen.
  • Jungen toben häufiger und lauter.
  • Sie spielen raumgreifender, eher draußen als drin und sind weniger mit feinmotorischen Tätigkeiten an Tischen beschäftigt.
  • Jungen entfernen sich weiter aus der Aufsicht der Erzieher/-innen.
  • Insbesondere ältere Jungen setzen sich von Mädchen ab und ziehen es vor, unter sich zu bleiben.
  • Unter- und miteinander spielen Jungen häufiger in größeren Gruppen als Mädchen.

Die Jungen in unserer Einrichtung hatten einen großen Bewegungsdrang und konnten diesen oft nicht ausleben. Sie kritisierten, dass ihre beliebten Bereiche wie die Bauecke, das Werkhäuschen, der Turnraum und der Garten an manchen Tagen belegt oder geschlossen waren. Es kam häufig vor, dass die Jungen von zu Hause Bücher zum Vorlesen, wie beispielsweise die Zeichentrickserie „Ninjago“ oder „Wickie“, mitbrachten. Ebenso spielten sie gern mit Pfeil und Bogen und anderen Waffen oder sie bastelten sie aus diversen Materialien selbst. Aus den Geschichten entwickelten sie Rollenspiele. Für das angeleitete Jungenturnen wünschten sie sich Wettkampfspiele. Außerdem wollten viele Jungen unter sich bleiben und den Raum nicht mit den Mädchen teilen. Für mich kamen folgende Fragen auf: Sind die Jungen in unserem Haus benachteiligt? Bekommen sie, was sie brauchen? Können sie zeigen, was in ihnen steckt? Meine Kolleginnen und Kollegen teilten meine Eindrücke und Beobachtungen, dass sich in unserer Kita etwas zugunsten der Jungen ändern musste.

Mit dem Redeschwert Ideen äußern

Nach einer Befragung von 57 Jungen in jeweils fünf Kleingruppen hatten sich 25 Kinder in die Liste eingetragen, um daran mitzuarbeiten, ihre Situation zu verändern. Das Engagement der Kinder zeigte, wie wichtig ihnen die Umsetzung ihrer Ideen und Wünsche war:

  • Das Werkhäuschen soll täglich geöffnet werden. Dort möchten wir sägen und aus Holz Flugzeugmodelle bauen.
  • Der Turnraum soll täglich geöffnet werden. Dort sollen verschiedene Materialen zur Verfügung stehen, die wir holen können, ohne die Erzieher/-innen zu fragen. Die Kletterwand ist zu niedrig, man kann nicht besonders weit nach oben klettern. Mit den Stoffsteinen würden wir gerne ein Labyrinth bauen. Uns gefällt nicht, dass wir die Bausteine nicht schieben und Kräfte messen dürfen.
  • Wir kämpfen gerne mit Stöcken, aber ohne uns wehzutun. Wir haben im Kindergarten nicht genügend Stöcke. Manche Erzieher/- innen verbieten das Kämpfen. Im Turnraum würden wir gerne einen Kampf veranstalten.
  • Wir würden gerne ein Lagerfeuer machen mit Stockbrot.
  • Wir wünschen uns ein echtes Fußballturnier.
  • Wir benötigen einen Raum nur für uns. Oder einen Jungen-Tag, an dem wir ungestört kämpfen und bauen können.
  • Die Bauecke soll immer geöffnet sein. Wir wünschen uns mehr Legos, zum Bei spiel von Lego City oder Lego Technic mit und ohne Batterie.
  • Regeln sollen eingehalten werden. Wir möchten nicht geschlagen, geschubst oder etwas abgenommen bekommen. Mädchen hauen uns.

Einer der Jungen meinte abschließend: „Es wäre schön, wenn wir ganz viel davon ändern könnten, sonst verlieren wir den Spaß daran.“

Gründung einer Jungen-AG

Alle Kinder, die sich in die Liste eingetragen haben, um bei der Umsetzung ihrer Ideen zu helfen, trafen sich im Turnraum. Welche der vielen Anregungen und Wünsche sollte nun als Erstes umgesetzt werden? Die Kinder entschieden die Rangfolge mit Muggelsteinen, die sie zu den entsprechenden Fotos, Bildern und Materialen legten. So kam Mathematik ins Spiel: Steine zählen und erkennen, welches Foto die meisten Steine hat. Mit neun Steinen war das Thema Fußballturnier am wichtigsten. Dicht gefolgt vom Thema Kämpfen mit sieben Steinen. Der Turnraum bekam vier Steine und der Jungenraum drei Steine. Alle anderen Ideen blieben leer.
Die Jungen äußerten sich positiv über ihr Ergebnis. Im Freispiel fragten einzelne Kinder immer wieder, wann die Jungen-AG wieder losgeht und wann wir mit dem Fußballturnier beginnen. Drei Kinder überlegten sich ein für alle verständliches Symbol, woran sie selbst erkennen konnten, wann die Arbeitsgruppe stattfand. Sie entschieden sich für ein Gruppenfoto, das am Tag des Treffens an der Tür zum Turnraum aufgehängt wird. Folgende Punkte waren ihnen für das Turnier wichtig:

  • Jungen treten gegen Eltern an.
  • Es gibt eine Tribüne mit Zuschauer/-innen, Fans und eine(n) Schiedsrichter/-in, ausgestattet mit gelber und roter Karte.
  • Sie wollen Trikots, die sie selbst herstellen.
  • Sascha möchte einen Fußball mitbringen.
  • Tim, Erik und Lars wollen ihre Väter fragen, ob sie die Jungen für das Turnier trainieren.
  • Für das Turnier gibt es gemalte Plakate.
  • Sie wollen neue Fußballtricks und Torschüsse üben.
  • Sechs Kinder möchten die Fußballregeln lernen.
  • Es sollen Einladungen verteilt werden.

Vorbereitungen für das Fußballturnier

Der erste Schritt bestand darin, Plakate zu entwerfen. Die Jungen haben gemalt, geschrieben und Einladungen ausgeteilt. Die Eltern konnten den Verlauf des Projektes an einer Dokumentation mit Fotos und Antworten der Kinder Schritt für Schritt verfolgen. Außerdem hatten sie die Möglichkeit, auf einer Plakatwand ihre Ideen, Meinungen und Kritik zu äußern. Die Jungen übten fast täglich während des Freispiels für das Fußballturnier. Sie zeigten Verantwortung, Vertrauen und Eigenständigkeit. Es war ihnen wichtig, ihre Fußballsachen mitzubringen und sich zu präsentieren. Sie hielten sich an Vereinbarungen und waren zuverlässig. Das gemeinsame Trikot war für die Jungen besonders wichtig. Aus diesem Grund suchten wir einen passenden Mannschaftsnamen aus. Unter acht Vorschlägen gewann Real Madrid. Das entsprechende Fußballtrikot mit elf Sternen wurde nach Wunsch der Jungen selbst gestaltet.
Mit der Idee, Trikots zu nähen, steckten sie auch andere Jungen an. Durch ihr Interesse an Fußball kamen sie zum Nähen und konnten ihr Feingefühl beim Zeichnen, Zuschneiden, Nähen und ihre Ausdauer, Geduld und Konzentration zeigen.

Fußball-Expert(inn)en in der Kita

Eine Erzieherin und Trainerin einer Frauenfußballmannschaft besuchte die Jungen-AG. Sie erklärte den Kindern die Fußballregeln und zeigte ihnen Tricks und Übungen zur Ballführung. Die Jungen hatten folgende Fragen an sie:

  • Wie hoch kann man schießen? Kann man das messen? Und wie weit kann man vom Fußballtor aus schießen?
  • Wer ist Weltfußballer, wer Welttorhüter?

Ein Vater wurde von seinem Sohn gefragt, ob er die Mannschaft für das Fußballturnier trainieren möchte. Diesen Wunsch hat er ihm erfüllt. Mit seinem durchdachten Trainingskonzept kam er bei einem eineinhalbstündigen Training auf dem Sportplatz bei den Kindern gut an. Sie hatten großen Respekt und hielten alle vereinbarten Regeln ein.

Die Jungen verwirklichen ihre Wünsche

Zum Fußballspiel kamen die Eltern dann wie gewünscht als Spieler/-innen, Fans oder Zuschauer/- innen. Einigen Kindern war es wichtig, zu Beginn des Turniers nicht nur ihren Namen zu nennen, sondern auch, in welcher Position sie spielten. Für ein faires Spiel sorgten ein Schiedsrichter und eine Assistentin. Diese Aufgabe übernahmen Petra (Erzieherin) und Tim (ein Junge aus der AG). Die Gegner/-innen waren schwer zu schlagen, aber mit viel Geschick und Tricks konnten die Jungen das Fußballturnier am Ende mit 2:1 für sich entscheiden. Die Jungen-AG gibt es immer noch. Inzwischen sind alle Räume jederzeit geöffnet.

Feedback der Jungen zum Projekt

Für seine Leistung erhielt jedes Kind eine Lerngeschichte. Die Fotos und der persönliche Brief zeigten und beschrieben seine Stärken, Fähigkeiten und Erfahrungen. Für die Lerngeschichte haben sich viele Eltern persönlich bedankt. Abschließend teilten uns die Kinder in Einzelgesprächen mit, was sie gelernt haben, was ihnen am Projekt gut und weniger gefallen hat, und welche Anregungen sie für die nächste Jungen-AG haben. Die Jungen gaben folgende Rückmeldungen:

  • Ich wäre lieber mit gleichaltrigen Jungen zusammen gewesen, die jüngeren Kinder haben mich gestört.
  • Mir hat es gut gefallen, nur unter Jungen zu sein, weil Jungen alle gleich spielen, es macht mehr Spaß. Jungen sind anders. Mädchen können nicht gut kämpfen und Fußball spielen und sie stören uns.
  • Mir hat besonders gut gefallen, dass wir beim Turnier gewonnen haben.
  • Beim nächsten Fußballturnier wäre eine Anzeigetafel toll, die den Zuschauern anzeigt, welcher Spieler mit welcher Spielernummer ein Tor geschossen hat.
  • Dass ich Torwart sein durfte.
  • Das Trikot zu nähen fand ich gut.
  • Das Kämpfen hat mir gut gefallen.
  • Dass wir über Fußball geredet haben.
  • Das Tauziehen war toll.
  • Dass wir auf dem Sportplatz waren.
  • Ich hätte auch eine AG mit Mädchen gut gefunden.
  • Die Eltern sollten beim nächsten Fußballturnier mehr rote Karten bekommen.
  • Dass mein Papa mitgespielt hat.
  • Neue Regeln beim nächsten Turnier, zum Beispiel: Die Eltern spielen ohne Torwart. Dadurch würden wir mehr Tore schießen.
  • Ich fand gut, dass die Fans uns angefeuert haben.

Auch das nächste Projekt werden die Jungen wieder zum größtmöglichen Teil selbst lenken und erarbeiten.

Praxisimpulse für die Befragung von Kindern lesen Sie auf den nächsten Seiten. 

Für Sie in den Bildungs- und Orientierungsplan geschaut

Bildungs- und Erziehungsziele im Bereich Demokratie und Politik sind u.a.: Das Kind erwirbt die Fähigkeiten und die Bereitschaft zur demokratischen Teilhabe. Es entwickelt sich zu einem autonomen und mündigen Staatsbürger, dessen Handeln auf demokratischen Werten basiert. Dies bedeutet insbesondere:

  • Einsicht in Regeln und Strukturen von Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz gewinnen.
  • Gesprächs- und Abstimmungsregeln akzeptieren und einhalten.
  • Einbringen und Überdenken des eigenen Standpunktes/der eigenen Meinung.
  • Andere Ansichten anhören und respektieren.
  • Grundverständnis dafür entwickeln, dass Kinder Rechte haben und dafür eintreten.

Hessisches Ministerium für Soziales und Integration/ Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2016): Bildung von Anfang an. Bildungsund Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen. 7. Aufl., Wiesbaden: o. A., S. 85.

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