100 Jahre RadioandachtenHunger nach Geschichten vom möglichen Leben

In den Kartagen 1924 sendete der Hörfunk das erste Mal eine Morgenandacht. Seitdem gehört diese Verkündigungsform zum festen Repertoire der öffentlich-rechtlichen Sender. Was dabei zu wünschen und was kaum zu ertragen ist.

Regal mit Radios
© Unsplash

Seit 1924 gibt es katholische und evangelische Morgenandachten im öffentlichen Rundfunk. Ich überlege, in welche Welt diese ersten Morgenandachten von 1924 gesprochen wurden. Wie hat sich jene Welt verändert?

1924: Weit über 90 Prozent der Menschen gehören einer der großen Kirchen an. Die Lehren der Kirchen und ihre Moral waren bekannt und selbstverständlich und mussten darum nicht verteidigt werden. Die Autorität der Prediger war selbstverständlich, vielleicht nicht so selbstverständlich, wie diese glaubten. Die religiösen Welten jener Zeit waren schon gebrochener als die Kirchenleute vermuteten. Der Atheismus und die Kirchendistanz waren allerdings versteckter. Es war ja in jener Zeit nicht ganz ungefährlich, seine Distanz zu den Kirchen zu bekennen.

In der Annahme, das Christentum sei eine allen bekannte und von den meisten angenommene Sprache, konnten die Sprecher der Morgenandachten eher apodiktisch als werbend reden. Didaktische Überlegungen spielten eine geringere Rolle. Moralische Überlegungen schreckten die Menschen nicht, denn auch die Moral war bekannt (wenn auch nicht befolgt). Die Morgenandachten mussten nicht interessant sein, sie sollten die Wahrheit verkünden, von der man glaubte, sie sei jederzeit sagbar und hörbar.

Dies alles hat sich verändert. Die meisten Menschen heute gehören keiner Kirche mehr an; sie kennen deren Symbolik und Grunderzählungen kaum noch. Die Religionsferne der Meisten braucht nicht versteckt zu werden. Sie ist eine öffentliche und nicht mehr sanktionierte Option. Das ist ein Vorteil für das öffentliche Auftreten der Kirchen. Je mehr sie ihre Sanktionskraft verloren hat, umso weniger muss man sich gegen sie wehren. Die Feindschaft gegen die Religionen ist geringer geworden, dafür die Gleichgültigkeit ihr gegenüber stärker.

Ich überlege, was mir in dieser Lage die Morgenandachten bedeuten, was ich für sie wünsche und was ich nicht wünsche.

Eine Stelle für den halben Glauben

Ich höre Morgenandachten gern – im Prinzip jedenfalls. In der Realität ist es allerdings oft so, dass ich den Sprecher seinen zweiten Satz nicht überleben lasse. Trotzdem: Ich richte mir meine Arbeit so ein, dass ich die Andacht hören kann. Warum? Ich schätze es, ein ernstes Wort beiläufig zu hören. Ich ordne dabei Papiere, stelle Bücher weg und höre zu. Ich schätze die Unverbindlichkeit dieser Situation. Es ist nicht wie in der Kirche, wohin zu gehen ich mich ernsthafter entschließen muss und wo es eigentlich kein Nebenbei gibt. Dort muss ich Ganzer sein, mit mehr Existenz, mit mehr Glauben und mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Aber unser Herz ist schwer, und der halbe Glaube braucht auch seine Stelle. Und so höre ich im Radio, was ein anderer sagt. Ich sehe die Sprechenden nicht, das Radio verfremdet ihre Stimme und mein Hören.

Ich brauche nicht fromm dabei zu sein; ich brauche nicht übereinzustimmen. Ich unterbreche meine Arbeit nicht. Die Beiläufigkeit der Situation schützt mich vor jeder existenziellen Überhitzung. Ohne Mühe und ohne schlechtes Gewissen kann ich den Sprecher und manchmal auch die Sprecherin mundtot machen. Die Situation hat etwas Spielerisch-Schamhaftes: Sie ist nicht ohne Ernst, und sie lässt mir meine Distanz.

Ich habe mich öfter mit kirchlichen Sendungen im Rundfunk befasst und dafür auch Kollegen befragt, die nicht in der Kirche sind. Zu meinem Erstaunen hören viele von ihnen gelegentlich Morgenandachten, und sie beschreiben ihr Interesse an ihnen fast ebenso, wie ich es hier tue. Das Nebenbei zwingt einen nicht, dazuzugehören, und nimmt nichts vom Ernst der Sache. Die Beiläufigkeit schützt den Ernst vor existenzialistischer Trivialität. Es gibt eine Ernsthaftigkeit, die den Schutz durch die Ablenkung braucht. Der Mensch ist verletzlich und nur selten vertragen wir die Berührung durch die Wahrheit oder durch einen anderen Menschen ohne Verhüllung. Wir kennen das: Die besten Gespräche kommen da zustande, wo einer Kartoffeln schält und die andere Zwiebeln schneidet. So kann ich die Morgenandacht hören: nebenbei dabei.

Wen ich also nicht vertragen kann bei diesen Andachten, das ist zunächst der mir zu nahe auf den Leib rückende evangelikalistische Auch-dich-liebt-Jesus-Bedränger. Er will mich unmittelbar betroffen machen. Wenn mich einer in einer solchen Andacht in pseudo-personalistischer Unmittelbarkeit anredet, dann ist er schon weg vom Fenster. Ich merke an den Mord-Metaphern, die ich anwende, wie wichtig mir die Morgenandacht ist und wie enttäuscht ich bin, wenn die Zeit vertan wird. Der Typ des Seelenkneters will mir die Distanz nehmen, die ich brauche. Der Rundfunk ist ein Medium, nicht mehr. Und die Sache wird von vornherein verlogen, wenn sich das Medium unvermittelt gibt.

Die nächste, die bei mir Mordgelüste weckt, ist der Typ der Entertainerin, sie kommt immer häufiger vor. Sie glaubt, dass nur der gehört wird, der leicht gefällig, geschwätzig und unterhaltsam daherkommt. Das Unterhaltungsinteresse verschlingt oft genug das Interesse an der Wahrheit. Sicher bekommt man auch in solchen Morgenandachten irgendwann den pneumatischen Blattschuss. Aber man spürt ihn kaum. Er ist schaumgummigepolstert. Das Evangelium kommt als Operette. Ich frage mich oft, warum die Kirchen so geduldig mit diesen geistlichen Fratzenschneidern sind. Ein Oberkirchenrat hat mir neulich darauf eine Antwort gegeben: „Wissen Sie, wir sind schon froh, wenn die Kirche öffentlich vorkommt und wenn sie nicht im Zusammenhang von Konflikten vorkommt.“ Nun ja, ein bescheidenes Ziel!

Was wünsche ich mir also? Zunächst eine strenge Form. Form ist nicht nur Formalität. Was einer von der Sache hält, die er vertritt, erkenne ich zunächst an der Form. Sie ist der Leib des Geistes und darum so wenig zu vernachlässigen wie dieser selber. Ich meine damit nicht, dass alles so fürchterlich pfarrersernst sein muss. Auch die Satire hat ihre Form, auch der Humor, auch die Antipredigt. Allerdings sind dies die schweren Formen und dem Durchschnittsprediger nicht ohne weiteres anzuraten. Fatal ist, wenn die Gestaltlosigkeit selber zum Prinzip wird; wenn die Sprache schluderig, zufällig, pantoffelhaft-gemütlich wird. Ich glaube, dass sich die Zerstörung des Geistes auch ablesen lässt an der Zerstörung der Sprache und der Form.

Die Kirche des Wortes hat Verantwortung nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Gestalt ihrer Sprache. Ich wünsche mir oft von unserer Kirche die Bockigkeit, bei dem nicht mitzuspielen, was gerade alle spielen und was gerade dran ist. Ich wünsche mir für die Morgenandacht, dass mir eine Botin eine Geschichte vom möglichen Leben erzählt. Eine Geschichte von der Auferstehung der Toten, vom Wunder der Gerechtigkeit, vom Sturz der Tyrannen, von der List der Gnade, von der Heiligkeit der Armen, von der Vergebung der Sünden. Sie soll mir erzählen, was ich brauche. Es ist nicht selbstverständlich, dass das Leben gerettet wird. Es ist nicht natürlich, dass einer nicht Beute des anderen werden soll. Das muss mir gesagt werden, das muss ich in Geschichten und Bildern einüben. In einer Gesellschaft, aus der die Moral immer mehr verschwindet und in der die Vision vom guten Leben aller Menschen verdunkelt wird, wird die Kirche mit ihrer Erinnerung an gelingendes Leben immer wichtiger.

Eine Botin soll die Erzählerin dieser Geschichten sein. Das heißt, sie braucht nicht vor Glauben zu glühen. Ich möchte ihr zwar anmerken, dass sie ihre Geschichten schätzt. Ich möchte sehen, dass sie keine Faxen damit macht. Aber ich will gnädig mit ihr sein: Sie muss nicht hinter allem stehen, was sie sagt. Unser Glaube ist schwach, auch der der Erzählerin; ihre Zweifel stören mich nicht, wenn ich nur aus ihrer Stimme die Sehnsucht höre, es möge wahr sein, was sie erzählt. Der Bote ist nicht die Botschaft. Das erlaubt ihm, sie in Ruhe vorzutragen; ohne missionarischen Eifer und ohne Gewalt. Er kann sie ruhig als eine fremde Nachricht vortragen. Unser Hunger nach den Geschichten macht ihm die Rede möglich, auch wenn sie manchmal nicht durch sein eigenes Herz geht.

Am Ende zwei Wünsche an die, die religiöse Traditionen öffentlich auslegen; ein kleiner und ein großer Wunsch; der kleine: Sie sollen sich nicht abendfüllend über den Verrat der Kirche am Evangelium auslassen. Gut! Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Aber wir alle haben Hunger. Die manchmal nicht endende Kritik an der eigenen Tradition macht niemanden satt.

Brot wäre es, die Traditionen des Evangeliums als Texte der Freiheit, des Trostes und der Schönheit auszulegen. Schön ist die Bergpredigt mit ihrer dreisten Umwertung aller Werte. Charmant ist das Versprechen, dass das Große nicht groß bleibt und klein nicht das Kleine. Und charmant ist vor allem jener Gott, der für den Umsturz im eigenen Haus verantwortlich ist, der klein geworden ist wie das Lächeln eines Kindes und wie der Seufzer einer Sterbenden. „Schönheit ist das einzige Überredungsmittel“ (Thornton Wilder).

Die meisten Hörenden der Morgenandachten sind wohl keine Christen, aber sie hören die Andachten. Es soll niemand missioniert werden. Aber ein Interesse haben die Männer und Frauen, die im Radio reden, doch: Sie können zeigen, warum sie lieben, was sie verkünden. Sie können den Charme dessen zeigen, wovon sie reden. Dann wäre die Morgenandacht Mission. Denn Mission heißt zeigen, was wir lieben und was uns lebenswichtig ist.

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