BegegnungenSterben lernen heißt leben lernen

Alle Menschen sterben. Und kaum einer redet darüber. Der November ist ein Monat, der uns traditionell an unsere Endlichkeit erinnert. Der Zenlehrer Michael von Brück plädiert im Gespräch mit dem einfach-leben-Herausgeber Rudolf Walter dafür, das Bewusstsein der Sterblichkeit stärker in die Kunst guten Lebens einzubeziehen.

Sterben lernen heißt leben lernen
Michael von Brück, ev. Theologe, Prof. em. für Religionswissenschaft in München, Zenmeister, Rektor der Palliativ-Spirituellen Akademie Domizilium© privat

einfach leben: Die schwierigste Frage zuerst: Warum leben wir überhaupt, wenn wir doch sterben werden?
Michael von Brück: Leben und Sterben sind kein Widerspruch, sondern zwei Seiten derselben Wirklichkeit: Unser Leben ist von Anfang an Veränderung, ständige Entwicklung, Neuwerdung – und das ist möglich nur, wenn Altes abstirbt. Das bedeutet Zurücklassen von einmal Gewordenem. Die Biologie sagt, dass sich in sieben Jahren unsere Zellen erneuert haben. Auch für unsere geistigen Erfahrungen gilt: Ich bin jetzt nicht mehr der von vor 30 Jahren. Doch Individuen wollen bestimmte Zustände festhalten. Aber auch „Individuum“ sind wir nicht, sondern wir werden es. Wir haben Angst vor Veränderung aus Sicherheitsbedürfnissen, wegen des Mangels an Vertrauen, dass es gut weitergeht. Vertrauen ist der Angelpunkt, nur so kann man sich dem Leben, das unvermeidlich mit Sterben verbunden sind, anvertrauen. Das individuelle physische Leben vergeht. Wir wissen aber nicht, wie das mit dem geistigen Leben ist.

Wie stehen die Religionen zum Phänomen des Todes, zur Frage des Weiterlebens?

Ganz unterschiedlich. Bei den alten Griechen ist der Hades oder in den Vorstellungen des ganz alten Judentums die Scheol kein guter Ort, denn der Mensch versinkt in ein leeres, halbbewusstes Dasein. In den asiatischen Religionen kennen wir die Verlängerung des Lebens in der Wiedergeburt, aber letztlich ist das Ziel das Erlöschen des Lebenskreislaufs, eine geistige Existenz, über die wir vielleicht aus der Erfahrung meditativer Versenkung etwas wissen: Der Geist „versinkt“ völlig, konzentriert in sich, spürt keinen Körper, keinen eingeengten Raum, keine Zeit, sondern da ist ein Gewahrsein von Präsenz und Kraft, die mit den gewohnten Erfahrungen von Raum und Zeit nicht identisch sind. Diese Religionen sehen das Geistige als Kontinuum, das während der Lebenszeit an den Körper gebunden ist, aber darüber hinausgeht.

 Und im späteren Judentum und Christentum? In der Deutung von Ewigkeit oder der endlichen irdischen Existenz?

Das Ewige ist da ja nicht die Verlängerung des Zeitlichen, sondern eine andere geistige Erfahrung: als Existenz bei Gott, die nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Der Tod ist hier zwar immer auch Verlust, aber auch Tor zur Ewigkeit, Übergang in eine andere Dimension. Es gibt in der biblischen Tradition beides: Die Melancholie - „alles Leben ist wie Gras, das verdorrt“. Aber auch die Hoffnung auf Auferstehung, darauf, dass der Tod nicht definitives Ende bzw. nicht das letzte Wort ist. 

Wie man den Tod sieht – das hat eine Konsequenz für die Gestaltung des Lebens.

Das Erstaunlichste im Leben ist, dass die Menschen wissen, dass sie sterben, und trotzdem so leben, als sei das nicht so. Wir vertun unsere kostbare, begrenzte Zeit mit Streitereien, stopfen sie voll mit Nichtigkeiten, vergeuden sie mit Trivialitäten – statt sie auszukosten. Psalm 90 sagt: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben werden, damit wir klug werden.“

Was heißt „klug werden“? Ja wohl nicht nur, sich in letzter Minute am Riemen reißen?

Es heißt, lebenslang: Angesichts der Begrenztheiten den Augenblick in Fülle wahrnehmen. In der Veränderung die Lebensenergie spüren. Im Alltäglichen die Leuchtkraft des Lebendigen erfahren. Das gelingt nur durch Übung, und deshalb enthält mein Buch „Vom Sterben“ Übungen, die Leben und Intensität stärken. Damit kann man nicht früh genug anfangen. Die Kunst zu leben ist immer auch die Kunst, sterben zu lernen - und umgekehrt. Beides zusammen erst macht gutes Leben aus. Jeder bewusst erlebte Augenblick, auch Abschied und schmerzhafter Verzicht, hat eine eigene wertvolle Qualität. Durch Verdrängung, Zerstreutheit und Oberflächlichkeit geht das verloren. Es geht um bewusstes Erleben. Und das kann man lernen – und üben.

Sie geben sehr konkrete Übungen. Man solle sich vorstellen, was man tun würde, wenn man nur noch eine Woche zu leben hätte. Und das dann wirklich umsetzen!

Praxis, konkrete Einübung – ja das ist es. In der Meditation tun wir das auch. Meditieren heißt ja nicht nur: auf dem Kissen sitzen, sondern: Ganz und gar da sein. Mit allen Kräften des Geistes und des Körpers. Wenn ich achtsam atme, konzentriert gehe, sitze, esse, fahrradfahre oder einen Menschen bewusst anblicke – und das mit Leib und Seele spüre, ist das Meditation. Das erfüllt mich mit Kraft und Freude.

Benedikt rät den Mönchen, sich jeden Tag den Tod vorzustellen und sich so mit ihm anzufreunden. Der hl. Franziskus spricht im Sonnengesang von „Bruder Tod“: Beides meditative Bilder. Sie selber sagen, man könne sich durch Einüben bestimmter Haltungen mit Tod und Sterben vertraut machen. Durch Loslassen etwa. Ist das mehr als ein asketisches Mantra?

Loslassen ist etwas sehr Lebenszugewandtes. Es ist die Bereitschaft zu Neuem. Ins Staunen kommen, Neues entdecken kann ich nur, wenn ich Altes, Liebgewordenes loslasse, nicht nur Materielles. Nur durch Neugier gewinne ich neue Ideen, eine neue Sicht auf die Wirklichkeit. Festhängen verhindert Lebendigkeit. Das gilt in der Wissenschaft genauso wie im Alltag etwa einer Partnerschaft. Freilich: Wenn ich meine, die Welt sei chaotisch oder nur dunkel, kann sich die Haltung der Freude und Dankbarkeit im Leben nicht entwickeln. Das gilt auch für das Neue, Unbekannte, das im Tod auf uns zukommt

Loslassen, sich vertraut machen mit Neuem: hängt Vertrauen damit zusammen?

Wenn ich vertraue, dass die Welt letztlich ein geordneter Kosmos ist und sich Gutes in der Welt entwickelt, dass – ob ich das Gott nenne oder nicht – eine Kraft in meinem Körper ist, der ich trauen darf, nehme ich alles anders wahr, dann wird auch Hoffnung, als Vertrauen ins Unbekannte, möglich. Auch achtsames Beobachten der Natur wird dann ein spiritueller Kraftfaktor. Denken Sie an Paul Gerhardts Hoffnungstext kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, großartig vertont von J. S. Bach: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“

Moderner, aber verwandt, heißt es bei Hilde Domin: „Ich setzte meine Füße in die Luft, und siehe sie trug.“ Ein Zitat, das ich auf der Todesanzeige von Norbert Blüm fand.

Da ist in der Tat auch Mut. Vertrauen ist dafür die Voraussetzung. Nicht nur Vertrauen, auch Dankbarkeit kommt übrigens aus Aufmerksamkeit: wenn ich ganz bei einer Sache bin, sie annehmen und genießen kann.

Ist solche Dankbarkeit nur im Blick zurück möglich? Oder auch in der Gegenwart?

Zunächst bezieht sich Dankbarkeit auf das Vergangene: Sie gilt auch für Erfahrungen, die wir oft als negativ bewerten, also auch für das Scheitern. Dankbarsein im Gegenwärtigen ist noch wichtiger. Und Dankbarsein am Lebensende auch für das, was jetzt geht oder nicht mehr geht. Auch in ganz reduzierter Form kann sie wirksam sein, etwa wenn jemand ans Bett gefesselt ist, sich kaum bewegen kann. Die kleinste Bewegung eines Fingers oder Augenlids wahrzunehmen und zu genießen – das geht, wenn man es geübt hat. Wichtig: Dass es mir gelingt, aktiv zu sein. Aktivierung ist schon Ermutigung, Lebendigkeit. Ich lasse mich nicht von Ereignissen bestimmen, sondern bin Subjekt, das mit diesen Ereignissen umgeht.

Sie sprechen auch vom Rückzug als Form der Lebens- und Sterbekunst. Worum geht es da?

Nichts festhalten wollen. Sich nicht festkrallen im Haben. Das Leben als Geschenk verstehen. Das Wesentliche suchen. Einfachheit als Ideal: Wenn wir das praktizieren, können wir neue Kraft gewinnen. Religionen haben dafür Rituale. Denken Sie an den von Aktivitäten freien jüdischen Sabbat. Wenn wir auch noch den Sonntag zum Alltag machen, werden wir krank. Wenn wir tief in unserem Sein sind, haben wir auch alles. In einer solchen Perspektive können wir auch Ängste – vor Krankheit, Verlust, Tod – relativieren.

Sie praktizieren und lehren seit langem Meditation. Kennen Sie selber Todesangst? Oder überhaupt so etwas wie Angst?

Spontane Erfahrungen der Angst gehören zum Leben. Ich bin mit dem Auto schon einmal so gerammt worden, dass die Airbags auslösten. Automatische Reaktion: Angststarre. Aber Angst aus Unfähigkeit, dem Leben und kommenden Entwicklungen ins Auge zu schauen, ist etwas anderes. Natürlich kenne ich gelegentlich auch Traurigkeit, bei einem Verlust oder Misslingen. Oder dass mir mal die Emotionen ausrutschen – auch Wut kommt noch vor. Entscheidend ist dann: Wie reagiere ich darauf? Mit Humor mir selbst gegenüber: „Freund, du musst noch lernen!“ Und mit weiterer Übung. Vor der Zukunft oder dem Tod habe ich keine Angst. Höchstens Neugier, ich lasse mich überraschen.

Wie möchten Sie selber denn sterben?

Umgeben von mir nahen Menschen. So schmerzfrei wie möglich. In Ruhe. Und bewusst. Offen und bereit für das, was mir entgegenkommt.

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