Begegegnung mit einem Pilger
Inmitten einer Vulkanlandschaft in Frankreich treffe ich Hubert auf meinem Weg nach Santiago de Compostela. Der bereits etwas ältere Pilger verschwindet fast unter seinem riesigen Rucksack, langsam und gleichmäßig schreitet er bergauf. Während ich ihn überhole, wende ich mich ihm zu und wünsche „Bon chemin!“, einen guten Weg kann er sicher brauchen. An der nächsten Ruhebank holt mich der schwerbepackte Pilger ein und setzt sich neben mich. Wir kommen ins Gespräch: Ich erfahre von Hubert, dass er aus einem kleinen schwäbischen Dorf kommt und dort Schulleiter war. Am ersten Tag seines Ruhestandes nahm er den bereits gepackten Rucksack, brach nach Santiago auf. Zweieinhalbtausend Kilometer, mit Kleidung, Zelt und Kocher. Unabhängig möchte er sein, die
Verantwortung und Verpflichtungen, in die er beruflich eingebunden war, hinter sich lassen. Dafür nimmt er auch in Kauf, täglich nur rund 15 Kilometer zu gehen, mehr sei mit seinem Rucksack von fast 20 Kilogramm Gewicht nicht möglich. Dann baue er sein Zelt auf, koche etwas, entspanne sich und träume von ... „Ankommen?“, frage ich, „am Apostelgrab in der Kathedrale von Santiago?“ Ja, es gäbe da schon etwas, was ihn rufen würde. Dieser spirituelle Ort, der sich im Moment großer Popularität erfreue, locke auch ihn. „Jedoch“, meint der gut informierte Schulleiter, „da gibt es Pilgerziele, an denen weit mehr als jährlich 300.000 Menschen ankommen. Gegenüber Altötting, Fátima oder Lourdes ist Santiago de Compostela unter den christlichen Pilgerzielen eher ein kleiner Fisch. Und wenn man bedenkt, dass jährlich mehrere Millionen von Gläubigen nach Mekka pilgern und am Fluss Ganges zu bestimmten Festen sogar 25 Millionen Pilgernde erwartet werden, sind die Jakobswege ein Phänomen, dem in den Medien überproportional viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.“
So viel Lebensenergie
„Dennoch, für viele stellt Santiago de Compostela den spirituellen Sehnsuchtsort schlechthin dar“, sage ich. Und auch er, Hubert, habe ja anscheinend diesen Ruf gehört. Er zögert. So recht wisse er auch nicht, was er von seinem Ankommen am Grab des Apostels Jakobus erwartet. Er brauche für seine Reise in den Ruhestand ein äußeres Ziel. Und die Bilder, die er von der Kathedrale in Santiago gesehen habe, berührten ihn in einer besonderen Weise.
Ich frage genauer nach. Ja, der Kirchen- bau selbst, meint Hubert, und auch der Weihrauchkessel, der als schwenkender Höhepunkt in Pilgerfilmen unvermeidlich zu sein scheint, die seien beide sicher eindrucksvoll. Aber vor allem hätten ihn Bilder von Pilgern und Pilgerinnen berührt, die sich auf dem Platz vor der Kathedrale begrüßen und in die Arme schließen. So bunt sähe das aus, Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern voller Lebensenergie habe er da gesehen.
„Und so viele junge Menschen! Weißt du“, sagt Hubert, „in meiner Schule habe ich eine Menge müder junger Menschen gesehen, oft schlecht gelaunt und aggressiv. Das möchte ich jetzt, zu Beginn meiner neuen Lebensphase nach der Berufszeit, endlich anders erleben. Vielleicht kann ich mich selbst auch wieder jünger und lebendiger fühlen! Im Moment schmerzen jedoch die Knochen doch recht ordentlich."
„Ankommen“ hat eine besondere Qualität
„Weißt du, Hubert, ich verrate dir mal was: Ich bin schon ein paarmal in Santiago angekommen. Und ich habe erlebt, dass für viele tatsächlich nicht die Kirche und der Messebesuch die spirituellen Höhepunkte sind. Man schätzt zwar den glockenhellen Klang der Stimme jener Nonne, die mit den Pilgernden Lieder übt. Aber manchen ist die Zeremonie doch zu steif, einige sind enttäuscht, dass sie die Sprache nicht verstehen und dass das gottesdienstliche Geschehen so gar nicht zu den überschwänglichen Erlebnissen des Ankommens passt. Aber man muss auch sagen, dass einige überzogene Erwartungen haben, weil auf dem Weg schon so viel in ihnen spirituell angerührt worden ist. Das kann auch Santiago nicht mehr toppen.“
Hubert möchte wissen, wie ich das Ankommen in Santiago erlebt habe. "Inzwischen habe ich Santiago achtmal zu Fuß pilgernd erreicht. Und jedes Ankommen hatte eine andere Qualität. Aber ich spürte jedes Mal, dass ich an einem heiligen Ort war. Gar nicht unbedingt, als ich in der Grabnische des Apostels betete oder die Jakobusstatue über dem Altar umarmte. Für mich fühlte es sich heilig an, die Freude des Ankommens mit jenen Menschen zu teilen, die wie ich, Tage oder Wochen des Pilgerns erlebt hatten. Die wie ich Staub geschluckt, Blasen gesammelt und gehadert hatten. Wir alle fragten uns irgendwann, warum wir uns das antun“. Hubert nickt, natürlich, diese Zweifel kenne er auch. „Wir alle haben aber am Abend auch das Glück einer warmen Dusche, eines weichen Bettes im Schlafsaal und eines leckeren und seelennährenden Essens erlebt. In dieser Gemeinschaft spüren wir die Lebendigkeit, das Glück. Und haben Anteil am Heiligen. Wenn in der evangelischen Glaubensvorstellung alle Menschen, die gläubig sind, allein durch ihren Glauben Heilige werden, dann spüre und erlebe ich an diesem Ort mit der Schar der Pilgernden die Gemeinschaft der Heiligen. Verstehst du, in diesem Augenblick sind wir nicht am Grab des Heiligen, wir sind Heilige!“
Hubert denkt nach. Das sei dann schon ein wenig wie bei den Pilgern im Mittelalter, die sich dem heiligen Ort genähert hatten, um etwas von der Heiligkeit abzubekommen, ja, um selbst heil zu werden.
„Und wenn das schon so erfüllend ist an diesem Sehnsuchtsort Santiago de Compostela“, fragt mich Hubert, „warum wollen dann noch so viele Pilgerinnen und Pilger weiter bis ans Ende der Welt, an das nordspanische Kap Finisterre?“
Der Weg hat noch kein Ende
„Das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen. Spätestens am zweiten Abend in Santiago stehe ich abends auf der Praza do Obradoiro und schaue mit der Kathedrale im Rücken nach Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Santiago ist ohne Zweifel ein spirituell aufgeladener Ort, gleich, ob durch Geschichte, das Grab oder der Menschen.
Aber der Pilgerweg hat noch kein Ende gefunden. Wenn man mehrere Wochen oder gar Monate gepilgert ist, wollen viele weiter, so lange es einen Weg gibt. Und dieser Weg führt an einen sehr symbolträchtigen Ort, Finisterre, das „Ende der Welt“.
Im Mittelalter war hier tatsächlich die bekannte Welt zu Ende, ab diesem Punkt war nur noch Meer zu sehen, und dass man tausende Seemeilen weiter auf Amerika stoßen würde, ahnte noch niemand. Auf eine Weise ist das bis heute so: Hat man das Kap Finisterre erreicht, befindet sich dort nur noch ein Leuchtturm, Klippen und das schier endlose Meer. Auf dem Meilenstein steht dann auch „0,00 km“ und die Seele versteht, dass der Weg nun zu Ende ist, dass das Pilgern hier enden muss.“
„Ich habe davon gehört“, ergänzt Hubert sachlich, „dass einige Pilgerinnen und Pilger des Mittelalters ebenfalls bis zum Kap und damit auch zum Meer gepilgert sind. Dort begingen sie eine Art Taufritual in den Fluten: Der alte Mensch stirbt symbolisch im Wasser und ein neuer, von den Sünden gereinigter, kehrt von hier nach Hause zurück. Auch Kleidung sollen sie verbrannt haben.“
„Das scheint mir auch sehr nötig gewesen zu sein, denn unter den damaligen hygienischen Bedingungen stanken die Klamotten sicher furchtbar und waren voller Ungeziefer. Heute allerdings“, rege ich mich auf, „wird noch immer High-Tech-Pilgerzeug verbrannt, was zu gefährlichen Bränden führt. Nötig ist das nicht, und mittlerweile auch verboten. Es macht den Ort sicherlich nicht spiritueller – und das ist auch gar nicht nötig. Ich sage dir, Hubert, abends auf den Klippen zu sitzen, in die Wellen zu sehen und der untergehenden Sonne seine Seele anzuvertrauen... Ich habe selten stärkere spirituelle Momente in der Natur erlebt. So bietet das Kap Finisterre Schöpfungsspiritualität in Ergänzung zur menschlich und kulturell geprägten Spiritualität, die man in Santiago erleben kann.“
Das Herz wird noch nicht satt sein
„Also Michael, wenn ich dir zuhöre, spüre ich, dass mein Herz wohl noch nicht an der Kathedrale satt sein wird und ich ebenfalls weiter nach Finisterre muss. So werde ich von meiner Haustür jeden Schritt bis ans Ende der Welt gegangen sein – ein Traum!“
„Ja, mein Lieber, möge das gelingen und deine Sehnsucht lebendig bleiben. Buen Camino, einen guten Weg wünsche ich dir! Ich muss los.“