So wurde der Heilige Berg Kailash zu meiner Seelenheimat.Als mich die Stille suchte

Wenn es einen Ort gibt, nach dem ich Sehnsucht habe solange ich lebe und der mir wie der Inbegriff für gelebte Spiritualität erscheint, dann ist es der Kailash, der Heilige Berg der tibetischen Buddhisten.

Als mich die Stille suchte
Geistlicher Weg: Gehen, Staunen, Innehalten© getty images

Schweige! Höre! Schau!

Wenn es einen Ort gibt, nach dem ich Sehnsucht habe solange ich lebe und der mir wie der Inbegriff für gelebte Spiritualität erscheint, dann ist es der Kailash, der Heilige Berg der tibetischen Buddhisten. Ich kenne viele faszinierende Orte und Pilgerwege, nicht nur den Jakobsweg und den kleinen Weg um den Odilienberg im Elsass. Ich war in Lourdes, Fatima, Tschenstochau und in Taizé, auch in Konya, dem Sufizentrum in Anatolien, um nur einige dieser Orte zu nennen. Der Kailash übertrifft sie in seiner Wirklichkeit alle. Er überwältigt. Er streckt einen zu Boden. Er bringt einen zu Fall. Nichts und Alles ist DA. Auch ich endlicher Pilger mit meinen unendlichen Fragen, mit meiner unstillbaren Sehnsucht, hinter die Dinge und Erscheinungen des Lebens zu schauen. Schweigt, meine Gedanken! Sei still mein Herz! Schweige! Höre! Schau!

Am Wohnsitz der Götter

Eine Pilgerreise zu diesem Berg ist für die Tibeterinnen und Tibeter das Ziel ihres Lebens. Sie nehmen unsägliche Mühen in Kauf, um dorthin zu gelangen und den Berg zu umrunden. In großer Höhe. Bei eisigen Temperaturen. Bestiegen werden darf der Kailash nicht. Er ist tabu. Wohnsitz der Götter. Ich war im Rahmen einer Fernsehreportage mit einer Nomadenfamilie und ihren Yaks, den geduldigen und sanften Tieren, dorthin unterwegs. Einige Wochen lang. Die Tage und Nächte der Pilgerfahrt haben sich unauslöschlich in mein Herz eingebrannt. Der Kailash ist 6638 Meter hoch und der höchste Punkt auf dem „Dach der Welt“, der tibetischen Hochebene. Das Land ist groß und weit, gesäumt von gewaltigen Bergketten. Die Luft ist dünn und klar. Man spürt sein Herz schlagen, wenn man dahingeht durch die Einsamkeit. Eine große Stille liegt über der Landschaft. Eine Stille, die man hören kann. Und spüren kann. Die das Herz erfüllt. Den Verstand leerfegt. Die Hinreise ist weit und lang. Nicht nur zu Fuß, auch mit dem Lastwagen, hinten auf der Ladefläche, den einige Pilger benutzen bis Darchen, den Ausgangsort der Umrundung. Die Landschaft um den Berg stimmt mystisch. Wer den Pilgerweg um das ‚Schneejuwel‘ geht, für den hat die Uhrenzeit bald ein Ende. Er erfährt eine andere Wirklichkeit. Sie reißt den Schleier weg. Öffnet den Blick ins eigene Herz mit seinen lichten Höhen und seinen erschreckenden Abgründen.

Auf dem „Weg der weißen Wolken“

Das Pilgern am Berg wird zum Gehen in sich selbst. Es wird viel geschwiegen. Und viel gebetet. „Om mani padme hum, du Kleinod in der Lotosblume“ Das geht nach einigen Tagen in Fleisch und Blut über. Noch im Halbschlaf kommt es einem über die Lippen, steigt aus dem tiefsten Herzen auf – manchmal wie ein Seufzer. Man geht und schaut und staunt – manchmal erschrickt man auch. Lama Anagarika Gowinda (1898-1985) einer, der aus dem Westen kam, ein Deutscher, der lange in der Region verweilte und tief in die buddhistische Geisteshaltung eingestiegen ist, schreibt in seinem Buch „Der Weg der weißen Wolken“: „Die Pilgerschaft im äußeren Raum wird Spiegelbild einer inneren Bewegtheit und Bewegungsrichtung auf ein noch unbekanntes fernes Ziel hin. Hieraus erwächst die Bereitschaft, die Horizonte des Bekannten und Gewohnten zu über- schreiten, die Bereitschaft zu schicksalsmäßiger Begegnung mit Menschen und Örtlichkeiten und das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit alles Geschehens, das mit der Tiefe unseres Wesens und der Ganzheit des größeren Lebens in Einklang steht.”

Den Kailash kann man nicht „erobern“. Und dennoch muss man sich anstrengen, wenn man eine Ahnung seines Geheimnisses geschenkt bekommen will. Ja, man muss ihn er-fahren. Erfahrung ist Einsicht durch Fahrt. Ich kann sie nicht vergessen, die Bilder, die ich dort sah, die mir dort widerfuhren. Die Nächte in den Zelten. Der Blick morgens auf den Berg, auftauchend aus dem Wolkenmeer. Das Aufsteigen zum Pass, zur Dölma La in rund 6000 Metern Höhe. Die Gebete im Schnee. Den Ton der Gebetsmühlen. Die Lungtas, die knatternden Fahnen, die Windpferdchen, die die Gebete der Pilger mit der Kraft des Windes ins All schicken. Den jungen Tibeter, der im Schneeregen steht, dessen Lippen leise Gebete sprechen und durch dessen Finger die Gebetsschnur gleitet. Die stille Freude in den Gesichtern, wenn der Pass erreicht ist. Das Lachen der Kinder, die zwischen den Fahnen am Pass hin und her springen. Den dampfenden Atem der Yaks.

Eine überwältigende Fülle von Bildern bekam ich unverhofft und unerwartet geschenkt. Tiefe Bilder. Tiefe Blicke. Tiefe Begegnungen. Am Stein der Sünder zum Beispiel, mit Menschen, die durch enge Steinspalten kriechen, um ihre Verfehlungen zu büßen.

Ich war wach, auch wenn ich schlief

Entscheidend im Ganzen war: Ich ging. Ich stieg hinauf und hinab. Ich sah. Ich lauschte. Ich war wach, auch wenn ich schlief. Ich hörte auf, Fragen zu stellen. Ich hörte auf, nach Antworten zu suchen. Ich verlor das Gefühl für die flüchtige Zeit. Ich wartete geduldig auf den Einbruch des Unvorhergesehen, des Unerhörten. Ich spürte mich in einer neuen und unbekannten Wirklichkeit, für die ich heute noch immer keine Worte finde. Auch nicht mehr suche. Zuerst suchte ich noch die Stille. Bald suchte die Stille mich.

Dann kehrte ich wieder heim – mit einem anderen Frieden im Herzen. – Was ist Heimkehr? Was hatte ich erfahren? Was hat Be- stand in der Welt, die wir die moderne nennen? Konnte ich überhaupt etwas bewahren von dieser Pilgerschaft, der nichts „Fernöstliches“, nichts „Esoterisches“ anhaftete? Nur etwas tief Menschliches.

Eine Stille, die Bestand hat

Seit der Zeit am Kailash trage ich eine tiefe Stille in mir. Sie ist mein Geheimnis geworden. Sie hat Bestand in meiner Unruhe, in meinen Müdigkeiten, in meinen Erschöpfungen. Wenn mir alles zu viel wird, kann ich, mitten im Lärm, aus ihr trinken. Wie aus einem nie versiegenden, tiefen Brunnen. Und ich „weiß“, dass es eine „andere“ Wirklichkeit gibt in meinen oft schnell wechselnden Wirklichkeiten. Eine, die mich trägt. Über alle Abgründe hinweg. Eine Wirklichkeit, die aus der Stille kommt. Aus einem tiefen, zuweilen auch abgründigen Schweigen. Die einzige Bedingung, die es für das Geschenk dieser Wirklichkeit gibt: Ich muss in einem stillschweigenden Einverständnis in sie hineingehen, mich in sie und auf sie einlassen. Ich muss gehen, nicht sitzen bleiben. Ich muss mir eventuell die Füße wund laufen. Ja, das kann mir geschehen. In jedem Fall aber: Ich muss konkret werden. Ich darf nicht ausweichen. Im HIER und JETZT. Im Augenblick. Im Gehen entsteht ein Weg. Oft ein anderer, als der, den ich vorhabe. Der Kailash ist mein Sehnsuchtsort. Ich trage ihn wie eine kostbare Seelenheimat in mir auf den Wegen meines Lebens. Eine stille Heimat. Eine verborgen gegenwärtige.

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