Begegnungen. Annelie Keil im GesprächLeben ist Neuanfang

Sie hat viele Erfahrungen mit Leid und menschlicher Not. Und ist über all dem zu einer sensiblen Botschafterin der Menschlichkeit geworden. Im Gespräch mit Rudolf Walter erzählt Annelie Keil, warum Leben schwer und zugleich schön ist. Und warum es nur gemeinsam gelingt.

Annelie Keil
Annelie Keil, Sozialwissenschaftlerin und Gesundheitswissenschaftlerin, Hospizexpertin und Autorin, Bremen© Kathrin Doepner

einfach leben: Sie hatten kein einfaches Leben: als Kind den Krieg in Polen erlebt, Flucht, Nachkriegsjahre in Armut. Aber auch später: Sie waren krank. Herzinfarkte, Brustkrebs – alles Dinge, die man sich nicht wünscht. Trotzdem sind Sie so etwas wie eine „Lebensexpertin“ geworden. Oder vielleicht gerade deswegen?
Annelie Keil: Jedenfalls ist eine entscheidende, schon ganz frühe Erfahrung, die Grundlage meiner wissenschaftlichen Arbeit und auch meine spirituelle Erkenntnis: Leben ist immer eine Herausforderung, eine Möglichkeit, ein Angebot.

Was heißt das, jenseits ihrer persönlichen Geschichte?
Wir alle haben keinen Einfluss darauf gehabt, dass zwei andere Menschen sich entschieden haben, ein Kind zu zeugen. Wir alle wurden geboren, ohne gefragt zu werden. Wir haben aber, quasi als Werkstatt, alles mitbekommen, um diese Herausforderung des eigenen Lebens aktiv zu bestehen und zu gestalten. Wir haben Augen, um zu sehen. Aber sehen müssen wir selbst. Wir haben Ohren, um zu hören, hören müssen wir selbst. Wir kriegen einen Mund, müssen aber selber sprechen lernen. Hier zeigt sich ein Zweites. Unser Verhältnis zum Leben ist dialogisch: Wir lernen als Kind nicht sprechen, wenn wir nicht angesprochen werden. Und wenn demente Menschen im Alter nicht mehr angesprochen werden, verlieren sie zunehmend die Sprache. Es muss also eine Welt geben, die etwas von mir will. Wir haben Fähigkeiten. Aber wir müssen sie einsetzen, Grenzen und Widerstände überwinden, wachsen. Erst das macht lebensfähig.

Und in Ihrem eigenen Leben: Was hat Sie lebensfähig gemacht?
Weniger die Liebe als der Widerstand, der Kampf. Meine Mutter hat mich, obwohl sie in Not war, nicht abgetrieben. Aber sie hat mich direkt nach der Geburt in ein Heim gegeben. Die allererste Botschaft: Da ist jemand, der etwas von dir will und sich um dich kümmert – die fehlte. Aber ich kam in ein Kinderheim, wo zwei Schwestern sich sehr um mich kümmerten. Das war dann das Angebot für mich: mich ins Leben hineinzuentwickeln.

So konnten Sie also ihre Widerstandsfähigkeit entwickeln?
Resilienz ist ja kein Gen. Sie wird herausgefordert, entfaltet. Ich habe mich als Kämpferin gefühlt: Ich werde euch schon zeigen, dass ich richtig bin auf der Welt! Es ist wie beim Stoffwechsel: Man muss annehmen und verarbeiten, was man erfährt. Das Leben wird als nackte Geburt geschenkt. Die „Kleider“ bekommt man, sozusagen, in der Auseinandersetzung. Manche haben es leichter, andere schwerer. Wer nicht gestreichelt wird, keinen Gutenachtkuss kriegt, der sehnt sich danach und versucht, es anders zu kriegen.

Leben ist kein Wunschkonzert.
Nein, wir haben zwar die Grundbedürfnisse, aber die Wünsche, die man ans Leben hat, sind nicht genetisch eingegraben. Da mischt sich die ganze Welt mit ein. Aber auch Bedürfnisse und Wünsche sind ein Leitsystem, das wir aktivieren. Wir brauchen und haben Motive, die uns bewegen, auf etwas zu oder von etwas weg.

Leben ist also beides: Ich lebe unter bestimmten Umständen, muss ein Schicksal akzeptieren, aber bin nicht festgezurrt darin?
So ist es: Leben ist die Spannungsbeziehung zwischen den Polen Geburt und Tod. Immer muss etwas geboren werden, nicht nur physisch: auch ein Gedanke, der kommt und geht. Auch jede Liebe wird geboren, und sie kann sterben. Wir sind nie nur gesund oder nur krank. Die Waage ist nie exakt auf gleicher Höhe. Anders gesagt: Wir leben nicht fixiert im Entweder- Oder, sondern zwischen einem Sowohl- als-Auch. In der Krise schlägt das Pendel der Balance in die eine oder andere Richtung. Und das ist dann die Kunst, es wieder auszugleichen. Krieg, Krankheit, Flucht, Hunger, das habe ich mir als Kind nicht gewünscht. Aber es waren die Herausforderungen, um zu fühlen und zu sagen: „Ich will aber leben!“ Während unserer Flucht, als Kind, war ich gut im Klauen und es ging sehr gegen meinen Stolz, als wir später auf den Bauernhöfen um ein paar Kartoffeln betteln mussten. Ich musste erst zivilisiert werden. Aber der Kampfgeist hat mir immer geholfen.

Sie haben einen positiven Blick auch auf Krisen, Rückschläge.
Das Leben verspricht uns nichts, aber es hält viel: Und zwar das, was ich mit anderen auf die Beine stelle oder geschenkt bekomme. Aber Leben ist auch eine Zitterpartie. Aber ist nicht auch die Liebe eine Zitterpartie? Die Frage ist auch in der Liebe ja immer, ob man wirklich zusammenkommt. Aber auch wenn wir scheitern oder ein Unglück erleben, muss das nicht unbedingt schlecht sein: Wir sehen das, wenn Menschen, die ein Unglück erleiden, Hilfe und Zusammenhalt erfahren und sagen können: „Jetzt weiß ich, wer zu mir gehört!“ Und natürlich habe ich mir die drei Krebserkrankungen und den Herzinfarkt nicht gewünscht – aber das anzunehmen und in einen Dialog zu treten: daraus besteht das Leben.

Das heißt also: Leben gelingt nur gemeinsam?
Schon an den neun Monaten der Schwangerschaft wird das klar: Wir erleben da, was „bedingungsloses Asyl“ heißt. Ein anderer Organismus stellt sich uns zur Verfügung. Weniger harmonisch ausgedrückt: Wir beginnen unser Leben mit einer Hausbesetzung. Sicher ist – so oder so: Wir brauchen das Gegenüber, den Anderen. Das gilt auch für unseren Organismus, aber auch für unser Leben in und mit der Natur.

Wir leben nicht nur immer in Gemeinsamkeit, sondern auch immer im Übergang, sagen Sie. Von der Geburt bis zum Tod befinden wir uns in der Situation des Abschieds und des Neuanfangs, des Wandels.
Nur indem wir leben und sterben, also immer wieder Abschied nehmen und immer wieder weitermachen, werden wir zu Experten unseres einzigartigen Lebens. Wandel ist immer nur möglich durch Transformation. Wenn eine Krise kommt, muss ich sie annehmen. Eine Krise annehmen, heißt nicht: „Prima, dass ich leide. Jetzt werde ich auch noch erleuchtet“. Natürlich kann Leiden überfordern. Aber jeder kann lernen, dass auch das Schwierigste – mit Hilfe von anderen – angenommen werden kann.

Loslassen und Abschiednehmen ist das Eine. Ankommen ist aber auch wichtig.
Man kann nicht loslassen, was man nicht angenommen hat. Jedes Einlassen auf das Leben hat beides auf seiner Seite: Freude und Glück, aber auch das Leiden. Loslassen heißt ja nicht versenken oder vergessen. Aber: Was nicht mehr außen ist, ist vielleicht innen. Im Hospiz erlebe ich oft, dass Menschen am Ende ihres Lebens etwa über Kränkungen nicht hinwegkommen. Aber da hilft es nicht, sich zu verkrampfen. Wo ich nicht loslassen konnte – habe ich es vielleicht nicht anders gekonnt. Eine abschiedliche Geste ist immer auch eine verzeihliche Geste. Sich bemüht zu haben, ist schon viel. Und es gibt keinen, der sich nicht bemüht hat, zu leben. Und es gibt keinen, der einem sagt, wie man es machen muss, damit es sicher glückt. Das zu verstehen, macht auch die schwierige Situation des letzten Abschieds leichter.

Einfach leben, was heißt das für Sie?
Das Einfache ist das Grundprinzip des Lebens. Es hat aber polare Aspekte: Das, was wir in Dialog und Kooperation mit anderen, und das, was wir in eigener Aktivität erfahren. Das, was uns herausfordert, und das, was wir als Geschenk erfahren. Das in seinem Zusammenhang zu verstehen und immer wieder ins eigene Leben zu übersetzen, in sich zu Hause sein im tätigen Vollzug, darum geht es. Es ist ein einfaches Prinzip, allerdings oft schwer zu erkennen. Viele ältere Menschen etwa suchen den Arzt nicht etwa deshalb auf, weil ihre gesundheitliche Situation so kompliziert ist, sondern weil dahinter eine Sehnsucht nach Berührung ist – und wenn es die mit dem Stethoskop ist. Wir leben von ganz einfachen Dingen: einem Schluck Wasser, einem Stück Brot, von einer Hand, die uns trägt.

Abschiedlich leben heißt: unterwegs sein. Einfach leben heißt: ankommen. Wann sind wir angekommen, zu Hause?
Der über 90-jährige Stéphane Hessel hat am Ende zwischen „lebenssatt“ und „lebensmüde“ unterschieden und gesagt: Ich weiß nicht, wohin ich gehe, aber ich möchte nicht so müde sein, um nicht beobachten zu können, wohin ich gehe im Sterben. Einfach leben heißt, in sich selber zuhause sein. Heimisch werden, auch in der Fremde, die nach dem Tod auf uns wartet – das wäre eine spannende Erwartung.

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