Was heißt verzichten? Und was ist genug?

Fasten, das ist mehr als Diät oder Verzicht auf Gaumengenüsse. Die moralische Kurzformel für die Fastenzeit lautet nicht selten: „Du musst dein Leben ändern!“ Und Stichworte, die man jetzt oft hört: Wegwerfen. Verzichten. Loslassen.

Weg mit all dem überflüssigen Zeug! Schön und gut. Aber das hat auch eine andere Seite. Die Regale der Supermärkte und Kaufhäuser quellen über. Wir leben nicht nur in einer Überfluss-, sondern faktisch auch in einer Wegwerfgesellschaft. Ein Drittel aller Lebensmittel landet weltweit im Müll, in Deutschland soll es sogar noch mehr sein. Auch Wertvolles darunter. Nach einer Statistik aus dem Jahr 2014 wirft jeder Bundesdeutsche etwa 7 Prozent des Fleisches in den Müll. Ein Bio-Kartoffelbauer aus Westfalen berichtet, dass er 40 bis 50 Prozent seiner Kartoffeln auf dem Feld liegen lässt, weil sie zu groß sind oder zu klein. Weg damit?

„Aus rein optischen Gründen“ lassen wir uns tatsächlich immer Neues aufschwatzen. Konsumgüter werden entsorgt, wenn sie nicht mehr der Mode entsprechen. Werbung heizt Bedürfnisse an, auch wenn dem kein wirklicher Bedarf entspricht. Schöner, aktueller, moderner. So lautet das Credo. Ein Beispiel: Die Industrie wirft jedes Jahr neue Modelle von Handys auf den Markt, die die alten (gut funktionierenden) überflüssig machen sollen. Nach einer Angabe aus der Industrie wurden allein 2014 1,9 Milliarden Handys hergestellt, davon 1,3 Milliarden Smartphones. Die vorher in Betrieb befindlichen sind nicht funktionslos geworden. Aber plötzlich sind sie Schrott, der die Umwelt belastet.

Die Welt des Konsums und des Markts ist aus den Fugen. Und wir sind es oft ebenfalls. Fastenzeit neu erleben, heißt auch, sich diese Maßlosigkeit bewusst zu machen und sich bewusst so zu orientieren, dass das eigene Leben nicht überschwemmt wird von etwas, was wir nicht mehr selber steuern. Auch ums Loslassen geht es: Auch das ist übrigens ein Modewort geworden. Dabei muss man, darauf hat die Therapeutin Luise Reddemann hingewiesen, auch Dinge erst einmal richtig „haben“, bevor man sie loslassen kann. Man muss ein Verhältnis zu etwas haben, bevor man sich davon trennt.

Anselm Grün sagt zum Fasten: Es geht nicht ums Kasteien. Es geht nicht ums Verzichten an sich. Und schon gar nicht um griesgrämigen, freudlosen Verzicht. Im Gegenteil: Es geht darum, das eigene Verhältnis – zu sich selber, zu den Dingen, zu anderen, zu Gott – wieder ins rechte Lot zu bringen: Sein Inneres, und auch das äußere Leben, neu zu ordnen. Sich neuen Freiraum, im wahren Wortsinn: sich Luft zu verschaffen. Hinter eingeschliffenen Süchten wieder eine tiefere Sehnsucht zu spüren und diese Spur wieder aufzunehmen: Natürlich hat das Konsequenzen: spirituell und politisch, im Lebensstil, beim Essen und beim Konsum, in der Beziehung zu unserer Umwelt, im Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Es würde sich damit vieles ändern.

Kürzlich waren wir in einer Buchhandlung und haben uns lange mit der Buchhändlerin unterhalten. Über 90.000 deutschsprachige Neuerscheinungen hat es allein 2013 gegeben. Eine wunderbare Fülle und ein großer Reichtum. Aber sicher nicht alles notwendige Bücher. Wir unterhielten uns mit ihr darüber, ob und wie man Bücher „aussortieren“ kann, ob man sie gar wegwerfen dürfe. Aber am Ende gingen wir doch mit drei spannenden Neuerscheinungen aus dem Laden. Darunter Ortheils „Berlinreise“. Darin erzählt der junge Ortheil von einem Besuch mit seinem Vater im Nachkriegsberlin. Sie leisten sich die teuren Karten für ein Konzert mit Herbert von Karajan und Elisabeth Schwarzkopf in der damals neuen Philharmonie. Beide sind von der Erfahrung der Schönheit der Musik so hingerissen und überwältigt, dass sie nach der Pause gehen: Erfüllt, glücklich. Mehr können und wollen sie nicht hören. Mehr muss nicht sein. Eine wunderbare kleine Geschichte über Genuss und Verzicht. Über Genussfasten und über das rechte Maß. Ich bin froh, dass wir nicht auf dieses Buch verzichtet haben.

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