Ein Gespräch mit dem Paartherapeuten Dr. Wolfgang SchmidbauerBeziehung braucht Einsamkeitsfähigkeit

Die Einsamkeit kommt in unserer Werteskala nicht so gut weg. Ein negatives Klischee?
Keiner kann ganz allein überleben. Der Mensch ist darauf angewiesen, dass sich von Kindheit an jemand um ihn kümmert. Einsamkeit ist nicht der normale, es ist ein besonderer Zustand. Aber heute muss sich ein 30-jähriger Single fast schon über das Vorurteil hinwegsetzen, dass er es „nicht geschafft“ hat. Und in einer Gruppe sagte kürzlich jemand: „Wie schlimm für alte Menschen, wenn die einsam in ihrer großen Wohnung leben“. Dabei stimmt das doch gar nicht: Es ist natürlich schöner, allein in einer großen Wohnung zu leben als mit fünf anderen Menschen in einer kleinen Zweizimmerwohnung zusammengepfercht zu sein.

Woher diese Einsamkeitsangst?
Unsere Ängste entwickeln sich in der Kindheit. Und für ein Kind, das sich nicht selbst versorgen kann, ist ein nicht freiwillig gesuchtes Alleinsein furchterregend, es fühlt sich verlassen. Lebenskonzepte, die davon ausgehen „Ich habe alles, was ich brauche“, entwickeln sich bei uns erst später, wenn wir erwachsen werden. Autonomie aber ist die Grundlage von Einsamkeitsfähigkeit.

Die nur negative Empfindung von Einsamkeit ist eigentlich eine kindliche Position. Reife, erwachsene Menschen können allein sein und das auch genießen. Natürlich machen auch Erwachsene die Erfahrung des Verlassenwerdens. Und das kann durchaus quälend sein. Die freiwillig gewählte Einsamkeit ist aber etwas, was jeder kreative Mensch braucht: den Zustand, in dem nichts davon ablenkt, sich in seine eigenen Gedanken zu vertiefen. Kafka hat gesagt: „Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins”.

Viele Menschen schalten, wenn sie nach Hause kommen, als erstes den Fernseher ein. Was macht den Reiz der Ablenkung aus?
Wer innerlich leer ist, wird Einsamkeit eher als Problem erfahren. Und wenn man nicht in der Lage ist, Einsamkeit zu nutzen: zum Nachdenken, zur Kreativität – dann versucht man diese Leere mit äußeren Reizen zu füllen. Das hat für mich etwas Regressives. Wenn ich selber schreibe, bin ich gern allein – und genieße das. Wenn ich mit Menschen zusammen bin, wende ich mich denen auch ganz intensiv zu.

Aber beim Schreiben wende ich mich dem Text zu oder einer Idee, die ich bearbeiten will. Wunderbar, dabei ungestört und von Natur umgeben zu sein. Rückzug, keine Geräusche, kein störender Krach, das intensiviert und erleichtert Kreativität.

Pascal sagt, das Unglück der Welt rühre daher, dass die Menschen es nicht allein in einem Zimmer aushalten können. Hat er recht? Und: Was steckt dahinter?
Psychologisch gesehen würde ich sagen: In der Einsamkeit begegnet man seiner Fähigkeit oder seiner Unfähigkeit, innere Bilder von Menschen oder von Beziehungen festzuhalten. Wer diese Bilder festhalten kann, also die Beziehungen fühlt, sie emotional wirklich erfährt, der kann Einsamkeit genießen und ist froh, dass niemand ihn mit lästigen oder unsinnigen Ansprüchen belästigt. Wenn diese Fähigkeit nicht besteht, diese Bilder also nicht existieren, dann wird es schwierig.
Eifersüchtige etwa, die sich der Liebe eines anderen nicht sicher fühlen oder Stalker, die einer unrealistischen Liebesbeziehung nachjagen – das sind Leute, die nicht einsam sein können und Schaden anrichten, indem sie Aufmerksamkeit anderer erzwingen wollen.
Loslassen können ist ein gutes Merkmal, damit eine Beziehung gelingt. Menschen, die gute Beziehungen führen, können auch gut allein sein.

Hat Einsamkeitsfähigkeit auch gesellschaftliche Aspekte?
Natürlich: In der individualisierten Gesellschaft wie der unseren Einsamkeit zu ertragen, sie zu akzeptieren und zu gestalten ist notwendiger als in früheren traditionellen Gesellschaft. Wer will, kann heute viel mehr Wert auf Privatheit, auf den geschützten Raum, auf Raum für Intimität legen.
Diese Möglichkeit zum Rückzug ist in traditionellen Gesellschaften nicht im gleichen Maß gefordert. Jetzt gehört dazu, dass das Individuum sich selber konzipiert – auch gegen die Umwelt, in der es sich vorfindet: Wer anders sein will als sein Vater, will sich selber entdecken als Ich, das anders ist als die anderen Ichs.
Das setzt Abgrenzung und damit Einsamkeitsfähigkeit voraus: das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft seit der Romantik. In einer traditionsbestimmten Gesellschaft ist das Gewissen nicht persönlich an der inneren Stimme orientiert, sondern kollektiv an der Gruppenvorstellung ausgerichtet. Das Gewissen des Einzelnen ist eine einsame Instanz. Kant spricht von der Stimme des Gewissens in mir und dem gestirnten Himmel über mir: Ich bin dem Kosmos ausgesetzt, aber unabhängig von allen anderen Menschen.

Auch lebensgeschichtlich muss jeder immer wieder neu lernen, sich von anderen zu lösen. Nicht erst in der Adoleszenz.
Als Vater merkt man das an ganz simplen Dingen: Kleine Kinder haben kein Problem, etwa das Klo nicht abzuschließen. Irgendwann wird das Badezimmer zugesperrt. Man will einen Raum, wo andere nichts zu suchen haben. Der zweite Schritt dann später: Man löst sich aus der Familie, lockert die starken Bindungen an die Eltern, zieht aus – und geht neue Bindungen ein.

Ist es auch für den, der in einer Beziehung lebt, notwendig, einsamkeitsfähig zu sein?
Die Fähigkeit sich gerne und gut mit sich selber beschäftigen zu können, ist in jeder Beziehung Gold wert. In Paartherapien taucht oft ein Problem auf, wenn einer kein Bedürfnis nach Kontakt hat und der andere sagt, allein macht es aber keinen Spaß, und das in den Vorwurf ausartet: Nie machst du was mit mir! Du kümmerst dich nicht genug um mich. Das wird ein Teufelskreis der Vorwürfe, der zu immer neuem Rückzug führt: Ein Konflikt, in den die Partner nicht kämen, wenn sie auch allein sein könnten und nur dann etwas gemeinsam machten, wenn sie auch wirklich Lust dazu haben.

Was raten Sie diesen Leuten?
Dass sie mehr allein unternehmen und lernen, damit zufrieden zu sein. Das ist wie mit Eltern und Kindern: Kinder brauchen viel Fürsorge, wenn sie klein sind. Wenn sie älter werden brauchen sie Eltern, die nicht ständig Ansprüche an sie richten oder gar gekränkt sind, wenn die Kinder nur kurz vorbeikommen, sich mit dem Lebensnotwendigen versorgen und auch nicht alles erzählen, was sie vorher gemacht haben. Auch von Eltern ist also die Fähigkeit verlangt, sich mit sich selber zu beschäftigen: die konstruktive Fähigkeit zur Autonomie. Die geht aber mit Beziehungsfähigkeit zusammen!

Einsamkeitsfähigkeit meint keine Haltung, die sich von aller Welt isoliert und nur ungestört sein will: Das wäre für Beziehungen nicht konstruktiv. Wenn ich selber Lust habe spazieren zu gehen, frage ich meine Frau, ob sie Lust hat mitzugehen. Wenn sie nicht will, weil sie mit etwas anderem beschäftigt ist, gehe ich alleine spazieren. Das ist besser, als zu sagen: Wenn du nicht dabei bist, macht es mir aber auch keinen Spaß.

Gibt es das in Beziehungen nicht aber auch: schmerzlich erlittene Einsamkeit?
Natürlich gibt es auch die Paare, die in der Gemeinsamkeit vereinsamen, weil sie ständig zusammen sind und sich doch nichts zu sagen haben und sich eher verfeindet fühlen. Besonders im Alter wirkt sich das aus, wenn sich Langeweile und eine jetzt negativ verstandene Einsamkeit in die Beziehung einschleichen.

Viele alte Menschen ziehen sich von den anderen zurück. Einsamkeit im Alter – ein besonderes Problem?
Da würde ich unterscheiden: Personen ziehen sich auch zurück, weil sie etwas gewinnen wollen – oder um etwas los-zuwerden, beispielsweise einen kränkenden Konflikt. Beziehungen fordern einen, stellen einen auch in Frage. Neue Reize und Anforderungen sind aber gerade im Alter wichtig. Wenn alte Menschen den Anspruch auf kränkungsfreie Kontakte pflegen und alles vermeiden, was sie in Frage stellen könnte, werden sie immer einsamer – in einem unguten Sinn.

Vielleicht hilft da auch Humor – gerade bei schwierigen Beziehungen?
Wer Humor hat, kann – auch in einer Beziehung – spielerisch loslassen, ohne zu fürchten, dass diese Beziehung verloren ist, sondern mit dem Gefühl, dass er sie auch wieder zurückholen kann, wenn er sie braucht. Humor ist ja die Fähigkeit, auch Negatives unterzubringen, mit Aggressionen spielerisch umzugehen – aber mit der versöhnlichen Qualität: Wir sind uns nicht verloren, sondern machen uns gemeinsam her über die Widersprüche des Lebens.

Wir sind demnach selber widersprüchlich: gesellig-ungesellige Wesen, fähig zur Einsamkeit und zum Miteinander?
Gemeinschaftsfähigkeit und Einsamkeitsfähigkeit sind in der Tat in einer Art Pendelbewegung miteinander zu verbinden. Der Gegensatz von Einsamkeit ist ja nicht die Beziehung, sondern die Symbiose, also die Unfähigkeit, Trennung überhaupt zuzulassen. Trennung ist auch etwas Positives. Die Eltern-Kind-Beziehung etwa wird dadurch ja gerade nicht zerstört. Im Gegenteil, sie vertieft sich. Anderssein – und sich selbst zu akzeptieren, anderen nicht die eigenen Vorstellungen überzustülpen – auch dazu ist der Humor übrigens eine große Hilfe.

Die Fragen stellte Rudolf Walter

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