Einsamkeit ist unvermeindlich, wir sollten sie gestaltenPlädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit

Krankhaft ist nicht Einsamkeit. Problematisch ist vielmehr die Schwächung der Kraft zur Einsamkeit.

Eine positive Erfahrung

Schon was – in der mittelalterlichen Mystik etwa bei Meister Eckhart – zur Erfindung des Wortes „Einsamkeit“ führte, war eine Positiverfahrung. Zunächst (wenn ich es richtig sehe) war dort „Einsamkeit“ überhaupt kein Wort für das Solitäre und Isolierte, sondern die deutsche Übersetzung von „unio“ im Sinne der „unio mystica“, der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott: Ihre Ein-samkeit war ihr Eins-sein als intensivste Form ihrer Kommunikation. Hätte sich dieser Wortsinn – Einsamkeit ist Vereinigung – erhalten und säkularisiert, könnte man heute – statt von der „Einsamkeit des Langstreckenläufers“ – von der Einsamkeit der Ehegatten sprechen und das meinen, was die Bibel zum Ausdruck bringt durch die Formel, beide seien „ein Fleisch“: die intensivste Form ihrer Kommunikation. Freilich: dieser Wortsinn – obwohl er im Pietismus des 18. Jahrhunderts nachklang – ist verlorengegangen. „Einsamkeit“ wurde schnell zur Bezeichnung jener „Abgeschiedenheit“ von den anderen, die zum mystischen Gotteserlebnis gehört. Wo späterhin Gott aus dem Spiel geriet, war der Mensch dann nur noch abgeschieden, nur noch allein mit sich selber: eben im heutigen Wortsinne „einsam“: Aber auch und gerade diese ‚bloße’ Einsamkeit kann positiv erfahren und darum gesucht werden: es gibt positiven Einsamkeitsbedarf. Ich weise hin auf drei einschlägige Einsamkeitsformen, die mir naheliegen durch meine Eigenschaft als Skeptiker, Universitätswissenschaftler und einsamkeitsbedürftiges Lebewesen.

Auf eigene Rechnung denken

Einsamkeit suchen – und mögen – die Skeptiker. Repräsentativ ist etwa Montaigne, der sich (nach intensiver öffentlicher Wirksamkeit) zurückzog in die „solitude“, die Einsamkeit. Um zu lesen, zu schreiben und zu erfahren, ohne je abschließend Bescheid zu wissen, retirierte er in „die dritte Etage eines Turms“. Die Skeptiker – anders als die Generäle des absoluten Wissens und Tuns – stehen nicht „spekulativ“ auf dem Turm, sondern sitzen im Turm, hilfsweise – seit es mehr Reihenhäuser als Türme gibt – in einem Arbeitszimmer im Souterrain. Mit Bedacht setzen sie sich zwischen die Stühle der herrschenden Lehren. Denn Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung: für die Teilung selbst noch jener Gewalten, die die Überzeugungen sind. Der Skeptiker schätzt und schürt den Zwist der herrschenden Lehren. Wenn diese sich zanken, freut er sich: denn gerade dadurch – teile und denke! – kommt er frei von ihnen und ihrem gewaltigen Scheuklappenaufwand. Er schließt sich ihnen nicht an, also schließt er sich aus und wird so – einsam – ein Einzelner. Diese Einsamkeit aber ist für den Skeptiker die Chance, auf eigene Rechnung – auf eigene Narrenkappe – zu merken und zu denken: sie deckt – diesseits aller Selbstbestätigungsgeselligkeiten – den skeptischen Einsamkeitsbedarf.

Berstschutz für Gedanken

Einsamkeit suchen – und brauchen – die Wissenschaftler: ohne Einsamkeit ist Wissenschaft nicht möglich, auch wenn das heute verpönt ist. Durch Einsamkeit wird aus der Wissenschaft, die institutionell sein muss: die Isolierstation für das erkenntnismäßig Brisante. Wissenschaft ist: alles denken wollen. Man muss ohne Rücksicht auf Folgen denken dürfen, sonst kann man nicht alles denken. Dafür braucht es einen Ort, an dem die Denkfolgen gut entsorgt sind. Der Wissenschaftler muss sozusagen Sandsäcke zwischen sich und der übrigen Welt haben: für den Fall, dass sein Denken explodiert, damit dann kein anderer zu Schaden kommt. Dafür ist Einsamkeit nötig, jener Elfenbeinturm, dessen Elfenbein ist: der Berstschutz für Gedanken. Darum verlangte Wilhelm von Humboldt für die Wissenschaft an der Universität „Einsamkeit und Freiheit“: Denkfreiheit, die durch Einsamkeit entsorgt ist. Wo man heute – in der Gruppenuniversität – Wissenschaftsfreiheit ohne Einsamkeit will, macht dieser Einsamkeitsbedarf sich trotzdem geltend. Nicht zufällig sind seither die Professoren zu einer Gilde von Reisenden geworden: sie reisen unentwegt zu fernen Kongressorten. Aber wichtig bei ihren Reisen ist nicht das Ankommen – weder das am Kongressort noch das am Berufsort – sondern das Wegsein von beiden: die Reise dazwischen, die in der Regel eine einsame Reise ist, bei der man noch denken kann. So rettet, wo die Universität ihn nicht mehr deckt, der heutige Wissenschaftstourismus – diesseits der Wissenschaftsverwaltungsgeselligkeit – den wissenschaftlichen Einsamkeitsbedarf.

Rettende Einsamkeiten

Einsamkeit suchen – und entbehren – die Menschen, die nicht zurechtkommen mit jenem Tribunal, das in der heutigen Verpflichtung zur totalen Geselligkeit steckt, weil jeder sogleich als verworfen gilt, der da nicht mitmacht. Es gibt passionierte Quartalakteure: Quartalsportler, Quartalsäufer oder Quartalleser. Ich für meinen Teil gehöre zu den Quartalwanderern, die anfallsweise durch Wälder und Straßen streifen. Landschaftssehnsucht und Pflasternostalgie – auf den ersten Blick krasse Gegensätze – sind vielfach beschrieben worden: etwa bei Carl Gustav Darus als „jenes erst in unserer Zeit hervorgetretene Bestreben, sich zeitweise wie zu einer Art Naturadoration hinauszustürzen in Wälder und Berge, in Täler und Felsen“; etwa bei Siegfried Kracauer als „Straßenrausch, der mich in Paris immer ergreift. Damals … verbrachte ich … Wochen allein in Paris und lief jeden Tag mehrere Stunden durch die Quartiere. Es war eine Besessenheit, der ich nicht zu widerstehen vermochte“.

Bleibe nur bei dir selbst und laufe nicht nach außen und leide dich aus und such nicht etwas anderes! So tun etliche Menschen, wenn sie in dieser inwendigen Armut stehen, und suchen immer etwas anderes, um dadurch dem Gedränge zu entgehen. Oder sie gehen klagen oder Lehrer fragen und werden noch mehr irregeführt. Bleibe ohne allen Zweifel dabei; nach der Finsternis kommt der lichte Tag, der Sonnenschein.

Johannes Tauler, um 1300-1361

Mir jedoch kommt es hier auf jene Streunsucht an, für die die unberührte Landschaft und die belebten Großstadtstraßen gerade austauschbar werden. Beide bieten – als Entlastung von den modernen Rechtfertigungszumutungen der totalen Geselligkeitspflicht – dem Einzelnen die Chance, unauffindbar und dadurch unbelangbar zu werden: bei beiden taucht er ein in rettende Einsamkeiten. Als moderne Versionen der Tarnkappe decken beide – gegen die Tribunalsucht moderner Geselligkeiten – menschlichen Einsamkeitsbedarf. Das sind nur einige Beispiele; aber sie zeigen: Es gibt nicht nur die Last, es gibt auch die Lust der Einsamkeit.

Einsamkeitskompetenz

Entscheidend ist die Frage nach einer Kultur der Einsamkeitsfähigkeit. Denn es stimmt nicht, dass die Menschen die Einsamkeit bleibenlassen könnten. Selbst wenn die bisher geschilderten Formen der Einsamkeit vermeidlich wären: niemals doch wären sie sofort vermeidlich; auch um sie vorübergehend zu bestehen, braucht man Einsamkeitsfähigkeit. Und es gibt – unbezweifelbarerweise – für alle Menschen die unvermeidliche Einsamkeit. Es gibt sie, weil wir sterben. Wenn wir abtreten, lassen wir unsere Mitwelt allein, die dabei ihrerseits uns allein lassen muss. Wir sterben als alleingelassene Alleinlasser. Und weil wir – durch Geburt zum Tode verurteilt und dies wissend – unser Leben lang „zum Tode“ sind, durchzieht diese elementare Einsamkeit lebenslang unser Leben. Dieses Leben ist kurz: darum haben wir niemals die Zeit zu beliebiger Nicht-Einsamkeit; wie unser Sterben kann unser Leben – mit seinen Lebensentscheidungen – „niemand uns abnehmen“: Wir haben keine Zeit, stets alle oder auch nur viele bei ihm mitreden zu lassen. Diese sterblichkeitsbedingte Einsamkeit – zumindest sie – verlangt Einsamkeitsfähigkeit. Von dieser Einsamkeitskompetenz lebt auch unsere Kommunikationskompetenz. Wer – einsamkeitsunfähig – mit all seinen Lebensfragen alle erreichbaren Mitmenschen dauernd beleidigt, kommuniziert nicht, sondern wird als krankhafter Fürsorgefall unerträglich. Freilich: gerade diese Art von Unselbständigkeit ernennen heute einige Kommunikationskompetenzler zum Kommunikationsideal. Sie berufen sich auf den Satz: Mündigkeit ist Kommunikationsfähigkeit. Aber dieser Satz sagt nur die halbe Wahrheit, denn mindestens ebenso sehr gilt: Mündigkeit ist Einsamkeitsfähigkeit. Was uns modern vor allem plagt, quält und malträtiert, ist also nicht die Einsamkeit, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren. Die eigentliche Malaise unserer Zeit ist nicht die Einsamkeit selber, sondern der Mangel an Einsamkeitsfähigkeit. Entscheidend wichtig ist darum die Kultur der Einsamkeitsfähigkeit. Worin besteht sie? Darauf zu antworten ist schwer. Ich weise hier – ohne Vollständigkeitsabsichten – auf drei Momente hin, die mir für die Kultur der Einsamkeitsfähigkeit wichtig scheinen: Humor, Bildung, Religion.

Humor

Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – zum Beispiel – Humor. Durch diesen Leichtsinn, der aus Schwermut kommt, kann man „trotzdem“ leben, nämlich in bekömmlicher Distanz zu sich selber: also auch in Distanz zur eigenen Einsamkeit, etwa durch Vermeidung von Übererwartungen. Wer nur mit stets gelingender Superkommunikation zufrieden ist, verurteilt sich selber zur Einsamkeit; wer sogar vom Standbild auf dem nächsten Platz erwartet, dass es ihm um den Hals fällt, und sich einsam fühlt, wenn es das – wie bei Standbildern üblich – nicht tut, gehört zu den Genies der Verzweiflungserzeugung. Er würde für sich und seine Mitwelt umgänglicher, wenn er – mit lächelnder Distanz zu sich selber – seine unmäßigen Kommunikationsansprüche reduziert. Je weniger Kommunikation jemand braucht, umso mehr Kommunikation gelingt ihm; je einsamer einer sein kann, desto weniger ist er es.

Bildung

Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – zum Beispiel – Bildung: keine Alles- und Besserwisserei, sondern die Ausdehnung des Aktionsradius der Merk- und Genussfähigkeit dadurch, dass man nicht auf unmittelbare Präsenzen angewiesen bleibt, sondern mit den Medien der Vergegenwärtigung und Wiedervergegenwärtigung umzugehen weiß: mit Büchern, Bildern, Tonfolgen durch das Bündnis von Fantasie und Erinnerung. Bildung ist: diese zusätzlichen Zuwendungen trainiert zu haben, die gerade Einsamkeit kompensieren können als die Lebenskunst, auch allein nicht allein zu sein. Bildung – das ist eine ihrer Zentraldefinitionen – Bildung ist die Sicherung der Einsamkeitsfähigkeit.

Religion

Zur Kultur der Einsamkeitsfähigkeit gehört – auch und vielleicht unvermeidlicherweise – Religion: Gott ist für den Religiösen der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, dass das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen – sterblichkeitsbedingt ein-same Lebewesen – sind seinsmäßig nicht so gestellt, dass sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten: denn zweifellos gibt es Einsamkeitssituationen, in denen die Taube auf dem Dach – sozusagen – der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat.  

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