Rettende Erinnerung: Orden in unruhiger Zeit

Innerhalb der christlichen Denominationen gehört die Vielfalt der Ordensgemeinschaften zu den katholischen Alleinstellungsmerkmalen. Ihr Einsatz befeuerte von Benedikt von Nursia († 547) bis weit über das Zweite Vatikanische Konzil hinaus alle kirchlichen Reformbemühungen. Am Beginn dieser langen Tradition steht das frühchristliche Mönchtum, dessen Erbe wir bis heute mit den Kirchen des Ostens teilen. Männer und Frauen ließen das gottlose Treiben spätantiker Städte zurück, um in der Abgeschiedenheit der Wüste als Asketen ein neues Ideal von Heiligkeit zu initiieren. Unbesiedeltes Terrain eroberten die Mönche auch im Mittelalter, indem sie weite Teile Euro­pas urbar machten und die Christianisierung nach Kräften vorantrieben. Mit der Gründung der Bettelorden im 13. Jahrhundert kehrten die Orden zurück in die Städte, um das Evangelium zu predigen und schrittweise Bildungseinrichtungen zu etablieren. Die neue Struktur als Personalverband gab ihnen die Möglichkeit, rasch und effektiv auf die geänderten Verhältnisse in Kirche und Gesellschaft zu regieren. Ignatius von Loyola (1491–1556) läutet mit seinen «Exerzitien» die neuzeitliche «Wende zum Subjekt» ein. Die Gründungen der Gegenreformation antworteten auf die neuen Herausforderungen mit einer zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung. Es handelt sich in der Mehrzahl um apostolisch geprägte Orden, in denen eine spezifische Sendung im Vordergrund steht. Diese Entwicklung setzte sich fort und gewann mit den hochspezialisierten Ordensgründungen des 19. Jahrhunderts weiter an Gewicht. Das Zweite Vatikanische Konzil strich die Bedeutung der Orden für die Kirche heraus, forderte aber zugleich ihre Erneuerung. Rückkehr zu den Quellen, Wiederentdeckung des Gründungscharismas und Beachtung der veränderten Zeitverhältnisse lautete das von den Konzilsvätern in «Perfectae caritatis» verordnete Reformprogramm (vgl. PC 2). Die Bilanz der Erneuerung fällt fünfundfünfzig Jahre nach Verabschiedung des Dekrets indes ernüchternd aus. Der Mitgliederschwund in Europa ist signifikant, immer mehr Klöster müssen ihre Pforten schließen, weil der Nachwuchs ausbleibt. Viele der noch bestehenden Ordensniederlassungen leiden zudem an Überalterung und die Last der vielfältigen Aufgaben kann kaum noch geschultert werden. Jede Analyse über Zustand und Bedeutung der Orden kommt nicht ohne Verweis auf die sog. Missionsländer aus, denn vieles, was bei uns längst verwelkt ist oder nur mehr ein Schattendasein fristet, blüht dort als lebendiges Zeugnis christlicher Nachfolge. Auch die Ordensgemeinschaften in den westlichen Ländern profitieren davon, wenn sie ihren Nachwuchs immer häufiger aus den Ländern der Weltkirche rekrutieren. Ist damit lediglich die Aufrechterhaltung der alteingesessenen Strukturen verbunden, besteht die Gefahr eines neuen «Kolonialismus», den Papst Franziskus anlässlich des Ordensjahres 2015 scharf kritisierte. Freilich kann die zunehmende Internationalisierung der Ordenshäuser auch hierzulande neue Chancen der interkulturellen Verständigung eröffnen. Denkt man darüber hinaus an die Aufdeckung von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, scheint die Erosion des Ordenslebens unaufhörlich voranzuschreiten. Neben dem Leid der Betroffenen offenbarte sich eine kaum geahnte Fallhöhe zwischen dem geistlichem Ideal und der Lebensrealität vieler Ordensleute. Von außen betrachtet, wird es immer fragwürdiger, ob die Orden auch zukünftig als spirituelle, kulturelle und caritative «Dienstleister» wahrgenommen werden.

Sind die Orden angesichts der vielen Umbrüche in Kirche und Gesellschaft nur mehr ein Schatten ihrer selbst? Der Benediktinermönch und langjährige Theologieprofessor Elmar Salmann gesteht sich selbst und den Orden zu, traurig über den Abbruch der letzten Jahrzehnte sein zu dürfen. Zugleich warnt er aber vor Depression und Ressentiments gegen die eigene Tradition oder die heutige Zeit. Die Aufgabe der Orden sieht er in einem «Fährmannsdienst» zwischen Welt, Kultur und Religion, indem er an die römischen Anfänge des Christentums erinnert, das sich durch eine große kulturelle Aufnahmefähigkeit auszeichnete. «Heute heißt es oft zu schnell: ‹Ich kann damit gar nichts anfangen.› Der Maßstab ist doch nicht: Kann ich damit gerade etwas anfangen! Es gibt ja vieles Große im Christentum, in den Dogmen, in der Frömmigkeitstradition und auch in der Geschichte unserer Klöster, dem wir kaum noch gewachsen sind, das wir auch nicht mehr ganz inkarnieren können. Und doch ist es wert, überliefert, erinnert, liebwert gehalten zu werden – zum Teil auch gegen uns.»1 Selbstkritisch blickt Salmann auf eine falsch verstandene Angepasstheit an die Zeitumstände und fragt, ob junge Leute in den Klöstern noch Kontrasterlebnisse machen können. «Oft lösen wir unsere eigene Größe nicht ein, sondern leben einen Kompromiss aus falsch Traditionellem und falsch heutig Angepasstem, indem wir fast besinnungslos nach-neuzeitlich in unserem Lebensstil sind und uns der Moderne ausliefern: Wie die anderen nutzen wir exzessiv das Internet, unternehmen eine Vielzahl an Reisen […]. Allzu bedenkenlos laufen wir der Zeit hinterher. Zugleich sind wir aber noch alte Kohlraben, die da auf ihrem Ast sitzen und krächzend die Welt beobachten und sich nicht bewegen. Das heißt: Wir sind selbst noch klassisch geformt und verlangen von den Jungen eine Anpassung an unsere alte Klosterwelt, die sie so nicht leisten können.»2

Im Ringen der Orden um eine tragbare Zukunft spiegelt sich das Ringen der gesamten Kirche. Die Weitergabe des Erbes von Klöstern und Orden ist nicht alleinige Aufgabe der Ordensleute, ihr Lebenszeugnis muss die ganze Kirche angehen. In der Umbruchsphase unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanum betonte Papst Paul VI. 1971 die Bedeutung der Orden für die Identität der Kirche: «Fehlt dieses sichtbare Zeichen [= Zeugnis der Orden, AB], dann besteht die Gefahr, dass die Liebe erkaltet, von der die ganze Kirche lebt, jene Heilsbotschaft des Evangeliums, die dem normalen menschlichen Denken so entgegengesetzt ist, ihre Kraft verliert, und das Salz des Glaubens in einer heute immer weltlicher werdenden Welt schal wird.»3 Nur sechs Jahre später stößt Johann Baptist Metz mit seinem zum Klassiker avancierten Essay «Zeit der Orden?» in eine ähnliche Richtung: Auch für den Münsteraner Theologen stehen die Orden im Brennpunkt der Kirche. Er fasst das Ordensleben mit den Stichwörtern Nachfolge und Naherwartung zusammen und mahnt die Ordensleute zugleich, der Versuchung zu widerstehen, in die «Mitte» zu rücken, indem sie sich leichtfertig an den großkirchlichen Mainstream anpassen. Die gelebte Nachfolge darf sich nicht in einer vergeistigten Spiritualität erschöpfen, sie muss vielmehr «gelebte Christologie» sein, die das Potential in sich birgt, «eine Art Schocktherapie des Heiligen Geistes für die Großkirche»4 zu sein. Freilich weiß Metz, der selbst kein Ordensmann war, dass die von ihm geforderte Radikalität und Kompromisslosigkeit kaum lebbar ist, es sei denn, sie geschieht in der Überzeugung der nahen Parusie: «Nachfolge ist ohne das Harren auf ein baldiges Kommen des Herrn nicht zu leben, sie ist ohne Hoffnung auf eine Abkürzung der Zeit nicht durchzustehen.»5

Mit seinem Essay richtet Metz den Fokus auf das Wesentliche. Seine Kritik an einer unreflektierten Angepasstheit trifft letztlich die Kirche selbst, die sich nach dem Beispiel der Orden immer wieder neu am Evangelium ausrichten muss. Was Metz darunter genau versteht, bündelt er in seinem Kapitel über «Die evangelischen Räte als Einweisungen in die Nachfolge». Besonders bemerkenswert fällt der Abschnitt zur Ehelosigkeit aus. In den derzeitigen Debatten über den Zölibat vermisst man jenen argumentativen Tiefgang, mit dem Metz zur Verteidigung der Jungfräulichkeit ausrückt: «Evangelische Ehelosigkeit ist (für mich) der Ausdruck einer kompromisslosen, keine Versuchung der Einsamkeit scheuende Sammlung von Sehnsucht nach dem ‹Tag des Herrn›. Sie hat zu tun mit einem radikalen Ergriffensein von und einem ebenso vorbehaltlosen Einstehen für die nahe herbeigekommene Herrschaft Gottes. So aber drängt sie – als Nachfolge – zu den Einsamen und Vereinsamten – und zu denen, die in Resignation und Erwartungslosigkeit eingeschlossen sind.»6 Mehr als vierzig Jahre nach dem Erscheinen hat der Essay des kürzlich verstorbenen Metz kaum an Aktualität eingebüßt. Wenn es um die Erneuerung der Kirche geht, darf die «Ordensexistenz als Hoffnungsexistenz mit apokalyptischem Stachel»7 nicht übergangen werden. Die Zeit der Orden ist nicht vorbei, weil sie mit ihrem Zeugnis ein schier unerschöpfliches Reservoir für gesamtkirchliche Reformen bereithalten.

Das vorliegende Themenheft der communio widmet sich den Orden und geht der Frage nach, welche theologische Bedeutung ihnen heute (noch) zukommt. Ordensleute der jungen und mittleren Generation wurden eingeladen, ihr jeweiliges Proprium theologisch zu reflektieren und einem breiten Publikum zu erschließen. Den Auftakt macht der Jesuit und Dogmatiker Klaus Vechtel, der als intimer Kenner der jüngeren Theologiegeschichte vor dem Hintergrund von Karl Rahners Ordenstheologie fragt: Was unterscheidet die Weise, ein «gottgeweihtes» Leben in einer Ordensgemeinschaft zu führen, von der Weise, wie Menschen durch Taufe und Firmung z.B. als Eheleute ihr Leben Gott weihen? Als Conclusio macht er den Begriff der «Fragmentarität» stark, um angesichts aktueller Krisen das Zeichenhafte des Ordenslebens neu herauszustreichen. Die monastische Perspektive übernimmt der Benediktiner Bernhard A. Eckerstorfer, indem er Wege eines Neuaufbruchs aus den Quellen seines Ordensgründers erschließt. In seinem Beitrag plädiert er nicht nur für eine «Ökumene» zwischen alten Orden und neuen geistlichen Gemeinschaften, er fordert zugleich ein klares geistliches Profil, damit die Orden (wieder) als «missionarische» Bewegungen wahrgenommen werden. Diesen Impuls führt Christine Müller fort, die als Steyler Missionsschwester über ihr sozialpastorales Apostolat in der Großstadt Frankfurt am Main schreibt. Den Reigen der Ordensleute schließt der Kapuziner Ludger Schulte. Er sieht es als wichtige Aufgabe der Orden, «Spiritualität» nicht nur zu leben und weiterzugeben, sondern sie auch in den theologischen Diskurs einzubringen. Mit dem Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti konnte ein Kenner der Papstgeschichte gewonnen werden, um zu klären, ob die Erneuerung der Kirche in besonderem Maße von Ordenspäpsten getragen wurde.

Im Mittelpunkt der Perspektiven steht das während seiner Apostolischen Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate von Papst Franziskus und dem Groß-Imam von Al-Azahr Ahmad Al-Tayyeb am 4. Februar 2019 unterzeichnete «Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt» (kurz: «Abu Dhabi Dokument»). Um Klarheit in die kontrovers geführte Debatte über das Dokument zu bekommen, wird es von Gerhard Kardinal Müller und Felix Körner SJ umfassend kommentiert.

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