Adventsmeditation (III)Es beginnt mit Solidarität

Wenn wir die Geburtsgeschichte in ihren ursprünglichen Kontext stellen, erscheint auch die „Herberge“ in neuem Licht.

Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.

Ein Satz aus dem Lukasevangelium (2,7), der bis heute unzählige Krippendarstellungen inspiriert: Ställe mit löchrigem Dach, je abgewrackter, desto besser. Umso größer wird der Kontrast zum Gottesgeschenk, das da weiß in der Krippe leuchtet. In Krippenspielen kommt dem Wirt folgerichtig zumeist die Rolle des abweisenden Raubeins zu, der nur zähneknirschend hilft. Nicht nur manchmal klingt auch alter christlicher Antijudaismus mit in der Betrachtung dieses so unglücklichen Lebensbeginns des Gotteskindes – abgelehnt und ausgegrenzt von Beginn an.

Lukas erzählt eine Geschichte. Es geht hier nicht darum, wie es „wirklich gewesen“ ist. Das zu schildern ist erstens nicht möglich und zweitens auch nicht nötig. Betlehem ist nicht der historische Geburtsort des Jesus von Nazareth in Galiläa, sondern verbindet sein Leben mit dem damals schon legendären König David, aus dessen Nachkommenschaft eine Heilsgestalt erhofft wurde. Es geht also nicht um historische Genauigkeit. Es geht darum zu verstehen, welche Geschichte Lukas erzählt, welche Bilder die ersten Hörerinnen und Hörer dieser Geschichte vor Augen hatten, was die vom Evangelisten verwendeten Vokabeln damals bedeuteten.

Lukas erzählt die Geschichte natürlich vom Ende her, das für die Jesusgläubigen zu einem neuen Anfang wurde, als sie vom Leben und Sterben ihres Rabbis erzählten und davon, dass Gottes Treue auch über seinen Tod hinausreichte – und davon, dass sie in ihm einen Zugang zu dieser Treue Gottes über den Tod hinaus gefunden hatten. Die Geburtsgeschichte im Evangelium ist darum keine Nacherzählung, wie es damals gewesen sei, als das von Anfang an als besonders erkannte und verehrte Baby geboren worden sei. Es war sowohl Lukas als auch den frühen Jesusgläubigen klar, dass sich die Geschichte so nicht abgespielt hatte, Jeschua aus Nazareth völlig normal, ohne Stern und Engel geboren worden war, herangewachsen wie alle, und sich erst im Lauf seines Erwachsenenlebens für seine Umgebung als Mensch-von-Gott und Mensch-auf-Gott-hin erwies. Denn, noch einmal: Es geht ja nicht darum, in wem sich Gott zeigen will, sondern in wem Menschen Gott erkennen können. Und weil Menschen in der Begegnung mit Jesus Gottes Gegenwärtigsein erfahren hatten, darum erzählten sie, dass das ganze Leben Jesu unter der Verheißung des Engels gestanden habe: Siehe, ich verkünde euch eine große Freude.

Lukas erzählt also diese Geschichte von Jesus, in dem Menschen Gott begegnet sind. Lukas erzählt eine Geschichte von Armut. Aber er erzählt keine Geschichte von Ausschluss, Ablehnung und Verachtung. Diese Geschichte von der Geburt im Stall erzählen wir heute, weil wir die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext hören und sie darum anders verstehen, als sie geschrieben wurde.

Die dritte Kerze brennt.

Und wir sind hier, an diesem dritten Advent, während sich der Winter und die Kriegsnachrichten dunkel über uns zusammenbrauen.


Du unfassbar lebendige Quelle, aus der alles Leben kommt,

unnennbar bleibst du.

Und doch versuchen wir, einen Schimmer von dir zu erahnen

im ruhigen Glanz dieser Kerzen.


Was wir auch fürchten müssen,

was wir auch hoffen dürfen,

was immer uns erwartet,

es schweigt für einen Moment,

denn du siehst uns an und legst deine Gnade behutsam über uns.

Lukas, der die Geschichte von der Geburt Jesu erzählt, kennt die kleinen Ein-Raum-Häuser der Levante, in denen die Familie – weit mehr Varianten als Vater-Mutter-Kind waren hier üblich – zusammen mit ihrem Vieh lebte. Es gab verschiedene Typen dieser Häuser, übrigens auch in den Städten, mal mit einem erhöhten Bereich für die Menschen, mal mit einer halbhohen Trennwand zwischen Mensch und Tier. In diese Wand war dann praktischerweise direkt die Futterkrippe eingelassen. Das war das Heim der Familien. Wer ein wenig sparen konnte, baute an dieses Haus einen zweiten Raum an, um ihn zu vermieten: einen Raum für zahlende Gäste. Dieser Raum ist die „Herberge“ im Lukas-Evangelium.

Wenn Lukas also erzählt, „sie legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war“, dann hörten die ersten Adressatinnen und Adressaten der Geschichte: Der Raum für zahlende Gäste war schon belegt. Deshalb wurden Maria und Josef ins Zuhause der Familie aufgenommen, die zusammenrückte, um Platz für die neue Familie zu machen. Und das Neugeborene wurde in die Krippe gelegt, damit es nicht zwischen die Hufe der Tiere geraten konnte. Wenn Lukas das von der Geburt Jesu erzählt, dann erzählt er keine Geschichte von Unglück, Ausgrenzung und Verachtung, sondern er erzählt davon, dass dieses Leben von Anfang an eingewoben war in die Solidarität der Armen.

Das zweite Mal übrigens, dass das Wort „Herberge“ im Evangelium auftaucht, ist beim letzten Abendmahl: Es ist nämlich genau so ein angebauter Raum, in dem Jesus mit den Seinen Pessach feiert. Am Ende war Platz in der Herberge.

Der Stall ist nicht weit draußen, der Stall ist im Haus der Familie, die die Neuen zu sich aufgenommen hat. Nicht die Einsamkeit steht am Beginn, sondern Solidarität. Diese Solidarität ist für die Hirtenfamilien das Zeichen, dass Friede auf Erden und die Erfahrung der Gnade Gottes möglich sind.

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