Kirche als „Kontrastgesellschaft“Dunkler Fleck statt Licht?

„Bei euch soll es nicht so sein.“ – Das Christentum begann mit dem Versprechen, es besser zu machen als die Außenwelt. Heute müssen wir uns fragen, ob uns die Mehrheitsgesellschaft nicht längst abgehängt hat.

In den letzten Wochen haben wir in den Lesungen immer wieder von den idealtypischen Zuständen in der Jerusalemer Urgemeinde gehört: Die ersten Christen waren demnach „ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32), sie teilten all ihr Hab und Gut miteinander, es gab kein Machtgefälle, Männer und Frauen brachen in ihren Häusern einmütig das Brot und hielten Mahl in „Freude und Lauterkeit des Herzens“ (2,46). Dank der Strahlkraft ihrer Botschaft, des Charismas ihrer Gemeinschaft und der zahlreichen „Zeichen und Wunder“ (5,12) erlangten die Christen große „Gunst beim ganzen Volk“ (2,47) und erfuhren wachsenden Zulauf. Gleichzeitig scheute die Gemeinde nicht den Konflikt mit ihrer Umgebung und kritisierte freimütig das kaltherzige und halsstarrige Verhalten von Hohepriestern.

Die erste Jerusalemer Gemeinde ist das Musterbeispiel einer christlichen und an der Ethik der Bergpredigt orientierten „Kontrastgesellschaft“ – ein Begriff, den der Theologe Gerhard Lohfink geprägt hat. Demzufolge ist es bis heute die ureigenste Aufgabe der Kirche, eine „Gegengesellschaft“ zu bilden, in der nicht wie so oft Gewaltstrukturen, Ungerechtigkeit und Unfriede herrschen, sondern – gemäß dem Diktum „bei euch soll es nicht so sein“ (Mt 20,26) – Geschwisterlichkeit, Gewaltlosigkeit, Friede und Versöhnung vorgelebt werden. Diese christliche Alternativgemeinschaft sollte nach Lohfink explizit nicht in der Gesellschaft aufgehen, sondern sie vielmehr als „Salz der Erde“ würzen, ihr einen kritischen Spiegel vorhalten, als „Licht der Welt“ (5,13f.) positiv und heilend auf sie ausstrahlen.

Blickt man allerdings auf die neuesten kirchlichen Abgründe, die in den letzten Wochen bekannt geworden sind (die Causa Dillinger, die Freiburger Missbrauchsstudie, die Stoppschilder aus Rom), dann findet man nicht etwa den Gegensatz zwischen einer guten Gemeinde und einer schlechten Außenwelt, sondern zum einen eine Kluft zwischen einem leuchtenden jesuanischen Ideal und einer düsteren katholischen Wirklichkeit, in der Täter geschützt und Opfer kaltherzig ignoriert wurden. Zum anderen ist da der Kontrast zwischen einem demokratischen Rechtsstaat, in dem Verbrechen bestraft werden, Frauen gleichberechtigt sind und Diskriminierung verboten ist, und einer absolutistisch-hierarchischen Kirche, in der Missbrauchstaten aktiv vertuscht wurden, die Justiz umgangen wurde und Frauen und sexuelle Minderheiten lehramtlich ausgegrenzt werden.

Haben wir es inzwischen mit einer Verkehrung des ursprünglichen Konzeptes der Alternativgemeinschaft zu tun? Ist die katholische Kirche nun zu einer negativen „Kontrastgesellschaft“ geworden, die nicht mehr als „Licht der Welt“ strahlt, sondern von einer düsteren Aura umgeben ist, die nicht als „Salz der Erde“ würzt, sondern Land und Leute kontaminiert? Es steht zu befürchten. Wie kann diese Pervertierung abgewendet werden? Die Suche nach einer tragfähigen Antwort führt uns zurück zur Ethik der Bergpredigt und der Urgemeinde: Es braucht eine radikale Umkehr – hin zur Gerechtigkeit, zur empathischen Nächstenliebe, zur Reform der verletzenden Strukturen, zu einer klaren Benennung und Ahndung des Bösen, zur Wahrheit, zum Licht. Erst dann kann die Kirche demütig darauf hoffen, eines Tages wieder positiv in die sie umgebende Welt ausstrahlen und glaubwürdig das Reich Gottes zum Aufleuchten bringen zu können.

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