Gedanken einer anderen WeihnachtszeitInnehalten – in der Wüste

Je älter ich werde, desto mehr bin ich überzeugt, dass wir beim Blick und Vorgriff auf unsere Zukunft und die unserer Schöpfung unsere Herkunft nicht vergessen dürfen. Erich Kästner sagt unverblümt: „Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um. Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm.“

Sich der Geschichte zu erinnern, stiftet Leben, stärkt uns den Rücken, weitet den Horizont und gibt, bei aller Mutlosigkeit und Enttäuschung, eine ungemeine Kraft. Denn als Christinnen und Christen sind wir keine Museumswächter, Huter einer gerade noch glimmenden Asche. Wir sind heutige Mitglieder der Jesusbewegung, die doch von der Beweglichkeit, von Poesie und Begeisterung lebt.
Innehalten – das ist also die Einladung, sich zu erinnern, aber gleichzeitig ist es eine Ermutigung, mit Herz und Verstand die Zeichen der sich immer rascher verändernden Welt zu lesen. Zu verstehen suchen, wie der unsichtbare Gott darin erfahren werden kann. In den Entwicklungen der fortschreitenden Geschichte hellhörig zu sein für den, der in einem ständigen Advent sich seiner Schöpfung erschließt. Wach zu bleiben für die Fragen von Frieden und Gerechtigkeit und für unsere gefährdete Zukunft.

Nevada Desert Experience

Ich war vor der Jahrtausendwende der Leiter (Generalminister) meines Ordens. Bei den zahlreichen Reisen in die Vereinigten Staaten von Nordamerika lernte ich in Kalifornien und Nevada eine Bewegung kennen, die sich „Nevada Desert Experience“ nennt. Im franziskanischen Gedenkjahr 1981/82 war sie von Schwestern und Brüdern aus dem Westen der Vereinigten Staaten ins Leben gerufen worden. Sie lasst sich inspirieren von der Erzählung von der angeblichen Begegnung des Franziskus mit dem Wolf von Gubbio (Fioretti 21), das heißt einer Parabel von der Zähmung und Eindämmung von zerstörerischer Gewalt durch Verzicht auf Gegengewalt und vom aktiven Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, in der Spiritualität der Seligpreisungen. Der Schauplatz der „Experience“, die bis heute viele Menschen an sich zieht, ist die Wüste von Nevada unweit von Las Vegas. Dort werden seit Jahrzehnten die jeweils neuesten Waffensysteme hergestellt und erprobt, mit großen Schaden für die Bewohner und die Umwelt. Verschiedene Male nahm ich an den Mahnwachen und Liturgien teil, die regelmäßig auf dem Testgelände gehalten werden.
Nevada ist ein Land, das ursprünglich den Ureinwohnern der Shoshonen gehörte. Es gibt sogar einen Vertrag von 1863, in dem die USA dieses Besitzrecht anerkennen. Der Stamm erhebt bis heute darauf einen legitimen Besitzanspruch. Sie bezeichnen es in ihrer Sprache als „Mutter Erde“. Es ist für sie heiliger Boden.
Die Wüste ist wild und schon. Der Boden ist bedeckt mit vielen Pflanzen, Kakteen, Moos, Aloe, Salbei und vielen anderen aromatisch riechenden Sträuchern. Eine Kaktusart blüht nur in der Nacht. Dazu tummeln sich dort viele Tiere: Coyoten, Fuchse, Reptilien, Kaninchen. Schwester Wasser ist in dieser Gegend unberechenbar. Es gibt zahlreiche unterirdische Quellen und Flüsse. Wenn es nach langen Trockenperioden einmal regnet, kommt es rasch zu großen Überschwemmungen. Die Shoshonen betrachten alles als ein Geschenk, das Land, die Luft, das Wasser, die Pflanzen und die Tiere. Sie verstehen nicht, wie man der Umwelt etwas antun kann.

Blutende Stelle des Globus

Dieses gesegnete Land wurde als „Nevada Test Site“ genutzt. Es wurde beschlagnahmt, um dort zuerst überirdisch, dann unterirdisch Atomwaffen zu testen. Heute werden hier die neusten Angriffswaffen hergestellt und getestet, unter anderem die tödlichen „Drohnen“. Dieses Land ist eine verwundete und blutende Stelle des Globus. Das Gebiet ist stellenweise so verseucht, dass kein lebendes Wesen es jemals mehr betreten kann. Überall sind Luft, Pflanzen, Tiere und Menschen Opfer dieses Größenwahnsinns geworden. Diese Ideologie des Landes, die heute auch im Irak und in Afghanistan wie früher in Vietnam am Werk ist, versursacht schließlich auch gewaltige psychische Schädigungen. Die Verschmutzung der natürlichen Umwelt und die Ideologie der unbegrenzten Selbstverteidigung zerstört bei vielen Menschen das seelische und spirituelle Gleichgewicht.
Die Wüste hat viele symbolische Bedeutungen. Oft war sie ein Ort, wo Neues zum Durchbruch kam. Sie war immer ein Ort, wo Menschen auf die Probe gestellt wurden, also auch ein Ort menschlicher Prüfungen („tests“). Jesus selbst hat in der Wüste gebetet und gefastet. Hier in Nevada kann man 11 mit eigenen Augen sehen, wie die Versuchung zur absoluten Macht und Kontrolle, der Jesus widerstand, nun schwache Menschen in ihren Bann zieht. Es gibt zudem in der Wüste so viele Zeichen von aufbrechendem Leben und von Hoffnung. Ein Zeichen ist das Pflanzen von Kakteen. Wir bringen damit gegenüber unserer Mutter Erde zum Ausdruck: Es tut uns leid. Wir bitten um Vergebung. An einem Karfreitag vor mehreren Jahren trugen neunzehn Personen das Kreuz durch die Wüste über die Grenzen ins Testgelände. Sie wurden verhaftet. Dies war die erste von vielen Akten zivilen Ungehorsams. Die Gruppe ist immer ökumenischer geworden. Sie kennt viele Liturgien und Rituale, vor allem Osterliturgien mit der Palmprozession, das österliche Alleluja und ebenso das adventliche Rorate Coeli.

Briefzeilen aus dem Gefängnis

Mein Freund, Bruder Louis Vitale war der Mitbegründer der Initiative. Er schrieb seit den neunziger Jahren aus seinen zahlreichen Gefängnisaufenthalten, die er für Aktionen des zivilen Ungehorsams auf dem Gelände von Waffenarsenalen zudiktiert bekam, regelmäßig Briefe an Freunde und Bekannte. Er gibt sich Rechenschaft darüber, was ein Engagement für seinen Glaubensweg und für die Aktualität des franziskanischen Charisma in einer von Gewaltbereitschaft geprägten Welt bedeutet: Im Jahr 2010 bekam ich diesen Brief: „Am 1. Juni war mein 78. Geburtstag. Ich habe früher schon Ostern, Pfingsten und auch Weihnachten im Gefängnis gefeiert. Meinen Geburtstag bisher noch nicht. Vor meinen Augen lief mein Leben ab. In diesem bin ich auch genau seit fünfzig Jahren Franziskaner. Vom sorglos vor sich dahin lebenden Studenten und nach einer Zeit als Pilot in der US Air Force wurde ich zu einem kleinen Bruder der Armen, der gelobt hat, in allem Gott zu suchen und dem Frieden und dem aktiven Gewaltverzicht zu dienen. Ich denke zurück an die frühen Jahre. Der Vietnamkrieg war für mich wie für viele ein spiritueller und politischer Wendepunkt. Gleichzeitig ergriff mich der frische Wind des Zweiten Vatikanischen Konzils, das auch für das Ordensleben neue Parameter setzte. Die Kirche feierte nun eine lebendige Liturgie, wir lernten eine Theologie kennen, die nicht mehr nur römisch war, sondern den Geist der Weltkirche atmete. Die Schrift bekam einen befreienden Lebensbezug, wir spurten, wie wir Gottes offene und geheime Gegenwart in seiner Schöpfung ganz neu zu buchstabieren haben wurden. Einen besonders nachhaltigen Eindruck machte auf mich das Dokument ‚Gaudium et Spes‘. Es führte eine ganz andere Sprache, als wir es bei römischen Texten gewohnt waren. Ich spürte, wie unsere Kirche, die bis heute so viele historische Lasten mit sich schleppt, in einen sensiblen und aufrichtigen Dialog mit der modernen Welt treten wollte. Das hat uns damals angesteckt und begeistert.
Lange Jahre habe ich als Provinzialminister der Bruder in Kalifornien und in einigen benachbarten Staaten das prophetische Zeugnis für das Leben der Schöpfung und für Gewaltfreiheit und damit gegen den absurden damaligen Rüstungswettlauf und gegen die Ausbeutung der Mutter Erde nicht nur auf meine persönliche Fahne geschrieben, sondern auch unter meinen Brüdern und Schwestern aktiv gefördert und gefordert. Die ‚Nevada Desert Experience‘ begann 1982, zum 800-jahrigen Gedenken an die Geburt des hl. Franziskus. Die Aktion der Grenzüberschreitungen auf dem Testgelände mit Festnahmen und Arrest fand am Karfreitag statt. Dieses Ostern feierten wir als ganz besonderes Fest. Es war, als hatte für uns eine neue Form von Kirche heute begonnen.
Mein Engagement brachte mir auch manchen Widerstand ein. Einige kolportierten, ich sei häufiger in einer geschlossenen Gefängniszelle zu finden gewesen als in meinem Dienstzimmer als Minister der Bruder. Solche ‚vollkommenen Freuden‘ sind aber ein notweniger Teil eines solchen Dienstes und Lebenszeugnisses. Unsere zunächst rein innerfranziskanische Präsenz mit Gebeten, Fasten, Busfeiern und Akten zivilen Ungehorsams durch Grenzüberschreitungen in den abgesicherten Zonen und durch symbolische Zerstörungen weitete sich über die Jahre zu einer im ganzen Lande verbreiteten ökumenischen und zivilgesellschaftlichen Initiative aus, die mit dazu beigetragen hat, dass unsere Regierung 1996 dem umfassenden internationalen Abkommen über den Stopp von Nukleartests zugestimmt hat. Damit trat für mich starker der Protest gegen die Produktion der neuen Waffen in den Vordergrund, die im Irak und in Afghanistan zum Einsatz kamen, nicht zuletzt den Drohnen. So habe ich mein ‚Apostolat‘ auf Orte von Waffenproduktion im ganzen Land ausgeweitet. Hier bin ich übrigens gerade in einem Gefängnis nahe der Vandenberg Air Force Base, wo solche neuen Waffen getestet werden. Das lasst mich an eine neue Entwicklung denken, den unser Dienst über die Jahre genommen hat, nämlich zugunsten der Opfer von physischer und psychischer Folter, überall auf der Welt, aber vor allem auch im Irak, in Guantanamo und in Afghanistan. Ich bete viel für alle, die in anderen Situationen von Gewalt wie moderner Sklaverei und Menschenhandel gefangen sind, für Opfer wie für Täter. Meine jetzige Lage, die doch eigentlich vergleichsweise noch recht komfortabel ist, gibt mir viel Gelegenheit zur Kontemplation. Ich bete immer wieder für mich und die Welt um mehr ‚compassion‘. Sie kann die befreiende und umwandelnde Kraft des Geistes Jesu schenken. Nicht nur mir, sondern vor allem jenen, die von tödlicher Gewalt bedroht sind und auch jenen, die sie befürworten und produzieren.
So sitze ich denn hier in meiner kleinen Zelle. Ich weiß mich in Gottes Gegenwart und in tiefer Verbundenheit mit einer gewaltigen ‚Wolke von Zeuginnen und Zeugen‘, unter ihnen Oscar Romero, Rigoberta Menchu, Martin Luther King, Johannes XXIII., Klara und Franziskus. Sie sind Zeugen des Neuen, das der Schöpfung verheißen ist.

Weihnachtsfest und innere Freiheit

Das Weihnachtsfest kommt bald naher. Ich sitze hinter Gittern, aber ich spüre eine große innere Freiheit. In der großen ‚Gemeinschaft aller Heiligen‘ – seien sie noch auf der Erde oder schon bei Gott – mochte ich die Wahrheit bekannt machen, die befreit, und durch die Gitterstabe vielen irdischen Machten und Gewalten zurufen: Ihr handelt nicht in meinem Namen. Auch nicht im Namen Jesu.
Denn wir glauben an das Leben. In unseren einfachen Eucharistiefeiern, manchmal mit Ureinwohnern im Schatten eines Ginsterstrauches, beten wir: ‚Wir glauben an Heilung. Wir glauben Vergebung. Wir glauben fest daran, dass alles Leben miteinander verbunden ist. Wir glauben an die Einheit von Vergangenheit, von Gegenwart und Zukunft, von Hohen und Tiefen, von Erde und Himmel. Wir glauben daran, dass Gebrochenes wieder heil werden wird.‘ “
Bruder Louis lebt jetzt in seinem hohen Alter in einer ‚senior residence‘ des Ordens. Schreiben kann er mir nicht mehr. Seine Erinnerung ist bruchig geworden. Aber er lebt hell in meiner Erinnerung.

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