Wie adventliches Innehalten zur Menschwerdung führtHimmelsrichtung Menschwerdung

„Ich halte jetzt mal innen“, sagt der kleine Junge während er sein Tretauto durch die Wohnung schiebt. „Schön“, antwortet seine Mutter, „das ist eine gute Idee“. Sie ist froh, dass ihr Wildfang anscheinend nicht wieder in den verschneiten Garten will. „Nein, das ist nicht schön, das ist gefährlich“, kommt es zurück. „Ich will meine Seele anschauen, die ist innen drin in mir. Ich weiß nicht, was da los ist. Das kann ganz wild sein. Und wenn da nichts ist, ist das auch gefährlich.“

Innen halten statt innehalten ist ein gutes Stichwort für die Zeit des Adventes. Es vermeidet die romantische Betulichkeit, die mit „innehalten“ einhergehen kann, und weist stattdessen auf eine konkrete Dimension des Menschseins hin, die als Innen unverzichtbar neben dem Außen zu einem guten, weil „ganzen“ Leben gehört.
Innen ist die Seele, die ihr Recht fordert. Sie hat ihre eigene Art da zu sein; sie erst gibt unserer Menschlichkeit eine unverwechselbare Gestalt; Außen ist die Um- und Mitwelt, die Menschen in vielfaltiger Weise umgibt und bestimmt. Nun soll hier nicht die Diskussion geführt werden, was die Seele ist, ob und wo sie zu verorten ist und warum es sie gibt – wenn es sie gibt. Hier genügt es, mit „Seele“ die Erfahrung jener inneren Welt zu bezeichnen, die unabhängig von individueller Zustimmung auf Grund eigener Berechtigung in jedem Menschen wirkt und ein unverwechselbares, einmaliges „Innen“ für jede und jeden ausbildet, das verstanden, akzeptiert und gepflegt werden will.
Advent ist die Zeit der Seele, die als besondere Zeit des Jahres anbietet, inne(n) zu halten und damit eine Zeit der Entdeckung bzw. Wiederentdeckung zu sein für das, was jedem und jeder einen – neuen – Blick auf sein/ihr Dasein eröffnen will.

Halt an, wo läufst du hin?

Das Leben während des Dreißigjährigen Krieges war schreckenerregend und für viele Menschen unvorstellbar brutal. Frauen, Männer und Kinder aller Schichten und Herkünfte hatten den Eindruck, die Apokalyptischen Reiter, biblische Symbole der Endzeit, wurden mit unerbittlicher Konsequenz über die Erde donnern: Krieg, Seuchen, Hungersnote und mörderische Gewalt waren Mittel und Ausdruck eines allumfassenden Behauptungswillens aller beteiligten politischen und religiösen Parteien. Zugleich waren die Jahre von 1618 bis 1648 eine Zeit zarter Sehnsucht, widerständiger Hoffnung und barocker Prachtentfaltung. Johannes Scheffler (1624 – 1677) erlebt sie als Kind, als Jugendlicher und als Student. Konfrontiert mit einem entsetzlichen „Außen“ suchte er ein „Innen“, das ihm Antwort darauf geben konnte, ob nicht doch irgendwie und irgendwann Rettung, Gerechtigkeit und ein neuer Anfang möglich waren. Bei der Verarbeitung seiner Erlebnisse musste Scheffler innerlich immer wieder stehen bleiben, damit er die Orientierung nicht verlor und seine Seele in ihrem eigenen Tempo mitgehen konnte. Als Arzt verstand er sich, wie jeden anderen Menschen, als Einheit aus Leib und Seele. Oft brachten die äußeren Umstande vielfaltige Zerstörungen für den Leib und irreparable Verstörungen für die Seele. Johannes Scheffler war überzeugt davon, dass es etwas geben musste, das im Menschen bei aller Verwüstung unantastbar und heil blieb, gleich, was ihm zustieß. Seine Sinnsuche begann mit der Aufforderung und Frage: „Halt an, wo läufst du hin?“ Seine Antwort darauf war die erstaunliche und überwältigende Entdeckung: „Der Himmel ist in dir“.
Dieser Himmel war nicht das Blau über den Köpfen der Menschen, er war die verborgene, wirkmächtige Quelle allen Lebens. Nur hier war zu finden, was Menschen zutiefst ersehnten. Sollte es gelingen, diesem seelischen Himmels-Ort zu trauen, gäbe es vielleicht die Chance, das Leben neu und gut zu leben. Doch dazu musste man stehen bleiben, aufhören weiterzulaufen wie der Hamster im Käfig. Johannes Scheffler, der sich nach seiner Konversion zum Katholizismus Angelus Silesius nannte, vertraute auf die Leben spendende Weisheit des: „Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“

Ach, ich habe mich verloren!

Für Orpheus, den genialen Sanger der griechischen Sage, war die Frage, wohin er laufen, wohin er sich wenden wurde, entscheidend für sein Leben mit der geliebten Eurydike. Als er sie herausholen darf aus der Unterwelt, in der sie gefangen gehalten wurde, wird ihm nur eine Bedingung gestellt: Er darf sich auf dem Weg zurück über den Totenfluss ans Licht nicht nach Eurydike umwenden. Aus Angst tut er es dann doch und verliert Eurydike für immer. Seine Zu-Wendung ging in die falsche Richtung.
Der Komponist Christoph W. Gluck lasst Orpheus in seiner Oper „Orpheus und Eurydike“ voller Trauer und Verzweiflung singen: „Ach, ich habe sie verloren. All mein Glück ist nun dahin. War’, o war’ ich nie geboren, weh, dass ich auf Erden bin!“ Solchen Seelenschmerz und Lebensverlust spuren Menschen, wenn sie sich in falschen Zuwendungen verlieren. Die Erkenntnis, aus mangelndem Vertrauen oder aus Angst in die falsche Richtung geschaut und so das aus den Augen verloren zu haben, was Freude, Erfüllung und Gemeinschaft schenkt, erzeugt Reue, Scham und die Bitterkeit eines unwiederbringlichen Verlustes.
Das trifft sich mit der Aussage von Menschen, die feststellen: „Ich funktioniere nur noch; ich bin nicht mehr ich selber.“ Sie tun, was von ihnen verlangt wird und spuren sich dabei nicht mehr. Im Funktionieren scheint ihr Innenleben wie eingefroren zu sein. Die Gewissheit, ein selbstständiges Individuum zu sein, Bedürfnisse zu haben, Verantwortung übernehmen zu können und die Fähigkeit, sich selber gegenübertreten und sich deshalb in andere Menschen hineinversetzen zu können, scheint verloren gegangen zu sein. In der falschen, weil einseitigen Zuwendung zum Außen kommt der Mensch sich abhanden; das Leben wird, weil ohne Sinn und Tiefe, entsetzlich banal und ist wie von allen guten Geistern verlassen.

Nichtstun

Im Advent gilt es, die Augen und das Herz aufzuwecken, um wahrzunehmen: Wie ist das bei mir? Funktioniere ich oder handle ich? Wie ist das bei den Menschen, die mir nahe sind, für die ich Verantwortung trage? Natürlich müssen Kinder und hilfsbedürftige Angehörige gut versorgt werden. Selbstredend sollen berufliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten ein produktives Ergebnis bringen. Verlässlichkeit braucht eine gewisse Routine. Alltag heißt: Alle Tage sind grundsätzlich offen für das Gewohnte und Kleinteilige, für sein manchmal so bleiernes, nervöses Auf und Ab.
Die große Denkerin Hannah Arendt beschäftigte sich zeit ihres Lebens mit der Frage des Handelns: Wie können Menschen ihr Handeln gestalten, um in Freiheit und Gerechtigkeit miteinander zu leben? Was ist das Gegenteil vernünftigen Handelns? Was zerstört es? Beim ersten Nachdenken ist man geneigt zu sagen: Das Gegenteil des Handelns ist das Nicht-Handeln, das Unterlassen. Hannah Arendt gibt eine andere Antwort. Für sie ist dem Handeln das oben genannte Funktionieren gegenübergestellt als seine „Perversion“ und als ein völliger Leerlauf im Tätigsein. Dabei ist für sie Funktionieren als Nicht-Tun etwas anderes als das Nichtstun, das sich dem Leben in aktiver Passivität überlasst, um dem Leben auf den Grund zu gehen.
Der Advent regt an, der Leere des Funktionierens durch die Beobachtung der eigenen Seele eine Absage zu erteilen und sich bewusst auf die Seite des Nichtstuns zu stellen. Dabei helfen drei Fragen: Was glaube ich? Was hoffe ich? Was liebe ich? Kommen Menschen dem auf die Spur, finden sie die Schatze, aber auch die Sprachlosigkeiten ihres Lebens. Sie werden sich ihrer selbst inne und haben die Chance, stehen zu bleiben, auf ihre innere Stimme zu lauschen: Was sagt mir mein Herz, meine Seele, mein Verantwortungsbewusstsein, meine Sehnsucht über mich selber und darüber, was ich heute und hier tun oder lassen soll?

Was tun? Inne(n)halten!

Momente des Stehenbleibens, des Inne(n)haltens sind alltäglich und konkret:

  • Bleiben Sie stehen – einfach nur stehenbleiben – in der Küche auf dem Weg zur Spule, auf der Treppe zum Rathaus, in der Tiefgarage zum Büro. Nicht gezwungenermaßen wie an einer roten Ampel, in der Warteschlange an der Kasse, vor einer verschlossenen Tür, sondern aus ureigenem Impuls, ungewohnt für Sie selber und sicher auch für andere. Tun Sie nichts außer stehen zu bleiben und zu warten, was sich tut. Nehmen Sie wahr, was ist; lassen Sie sich überraschen von dem, was Ihre Sinne Ihnen signalisieren. Erst wenn Sie das Gefühl haben: „Es ist gut!“, ohne es in Worte fassen zu können oder zu müssen, gehen Sie weiter. So lernt die Seele, sich hineinzutasten in das Ganze der Wirklichkeit.
  • Lassen Sie sich stören. Hindern Sie Ihre Routinen daran, Sie zu knebeln. Der Anruf der Pflegerin, dass Ihr Vater wieder das Essen verweigert; das Geheule der Jüngsten, weil sie nicht mitspielen darf; der ruckelnde Drucker, der nun endgültig dahin ist, der erste Schnee: Wenn das Leben anfragt, ist Antworten angesagt: „Ich bin da, Leben. Du darfst mich stören.“ Ich halte inne in dem, was mich nur funktionieren lasst und mich davon abhält, Impulsivität, Spontanität und „Nutzlosigkeit“ zu akzeptieren. So lernt die Seele, mit dem Wunder zu rechnen.
  • Traumen Sie mit offenen Augen. Kinder lernen so, sich zu langweilen und die Welt zu entdecken. In Erwachsenen erwacht prachtvollste Kreativität, die ihnen neue Spielraume eröffnet. Ingenieure und Wissenschaftlerinnen finden in solcher „Zeitverschwendung“ zu Losungen, an die sie vorher nie gedacht hatten. So lernt die Seele, ihrer kreativen Kraft Weite und Raum zu geben.
  • Hangen Sie Ihren Gedanken nach. Wenn wir in Gedanken versinken, im wahrsten Sinn des Wortes nach-denken, tritt die Vordergründigkeit des Tafelgeschäfts in den Hintergrund und macht der Vernunft aus der Tiefe Platz. So lernt die Seele zu unterscheiden, was wichtig, was weniger wichtig und was ganz und gar unwichtig, was von der To-do-Liste zugunsten der Ich-lebe-und-lasse leben-Liste verschwinden darf.

Adventliches Inne(n)halten – Zeit ohne Plan B

Die biblischen Geschichten der Advents- und Weihnachtszeit erzählen, wie lebenstüchtig, menschenfreundlich, gottgefällig und innovativ Menschen am Anfang des Christentums inne(n) gehalten haben und dadurch den Lauf der Welt veränderten. Für Maria aus Nazareth blieb ihr kleines, überschaubares Leben stehen, als der Engel Gabriel ihr Ja zur Mutterschaft für den Gottessohn erbat. Die Hirten auf den Weiden vor Bethlehem ließen sich in ihrer nächtlichen Arbeit von himmlischen Wesen stören, die ihnen die Geburt des Erlösers ankündigten.
Marias Mann Josef vertraute seiner träumerischen Intuition, wagte Familie zu leben und rettete sie aus tödlicher Gefahr. Die Weisen aus dem Morgenland dachten gründlich nach über die Bitte des Herodes, ihnen den Aufenthaltsort des neugeborenen Judenkönigs zu nennen und verweigerten sich deshalb seinen mörderischen Planen.
Maria und Josef, die Hirten auf den Weiden, die Weisen aus dem Morgenland – sie nahmen sich Zeit, weil sie Zeit brauchten, um in sich zu gehen und das Leben konkret zu bejahen. Dieses, im besten Sinn adventliche Inne(n)halten will geübt und kultiviert werden, damit es Gelassenheit und neue Perspektiven schenken kann. Tröstlich ist, dass auch für diejenigen, die sich mit dem adventlichen Inne(n)halten schwertun, gilt: Etwas geht immer. Kleine Zeitteilchen statt einer langen Meditation, ein kurzes Gebet als Dank für dies oder das, das Anzünden einer Kerze in der Kirche, an der ich auf dem Spaziergang vorbeikomme, ein Blick in den Sternenhimmel, ein bewusstes Aus- und Einatmen.
Dann wird das Staunen darüber möglich, dass es auch in diesem Jahr Weihnachten werden wird – trotz aller Hektik, unabhängig von menschlichem Funktionieren. Weihnachten kommt für alle, die ahnen oder ahnen mochten, dass der Himmel in ihnen ist, dass dort Gott immer wieder neu geboren wird und sie mit ihm. Und für die, denen diese Ahnung und Sehnsucht abhanden gekommen ist – für sie kommt Weihnachten erst recht.

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