Ein Arbeiten mit der Bibel – bei der „jede und jeder etwas zu sagen hat“Bibliolog

Die Bibel, das Buch der Bücher – nur im Regal stehend oder aufgeschlagen und mitten im Leben? Wie gelingt es, darin das Leben in seiner Vielfalt zu entdecken? Wie kann die Bibel mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht werden und dadurch eine Auslegung geschehen? Und wie wird daraus ein Gemeinschaftserlebnis in Schule und Gemeinde? Wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene neugierig machen auf das, was an Erzählungen, Erlebnissen, Heilbotschaften in der Bibel stehen? Und das alles noch mit Spaß und Freude – altersübergreifend und mit großen Gruppen? Eine mögliche Antwort ist die Methode Bibliolog.

Was ist das Besondere an Bibliolog? Für diese Form der Bibelarbeit ist bei den Teilnehmer/innen kein biblisches Wissen nötig. Es wird nicht über die Bibelstelle diskutiert, sondern ein biblischer Raum wird geöffnet. Kinder (ab 7 Jahre), Jugendliche und Erwachse können gemeinsam eingeladen werden, in eine biblische Geschichte einzusteigen. Sich in biblische Personen einzufühlen und diese zu Wort kommen zu lassen. Ganz nach dem Motto „Weil jede und jeder etwas zu sagen hat!“ Die verschiedenen und oft konträren Rollenaussagen bleiben in ihrer Unterschiedlichkeit stehen. Durch eine besondere Form der Wiederholung der Aussage durch die Leitung erfahrt das Gesagte und der Teilnehmende, der gesprochen hat, Wertschatzung. Die Bibel wird zwischen den Zeilen „weitergeschrieben“, mit Leben gefüllt. Was sind die Grundlagen von Bibliolog?

Hintergrund

Peter Pitzele, der Begründer von Bibliolog, ein nordamerikanischer Jude, von Beruf Literaturwissenschaftler und Psychodramatiker, lies in den Bibliolog zwei Quellen einfließen: Das Psychodrama und eine jüdische Auslegungstradition der Rabbiner, die „Midrasch“ (hebräisch „darasch“ für Suchen, Forschen, Schürfen).
Das Psychodrama fuhrt Menschen in Rollen, das greift der Bibliolog auf, ohne, zumindest in der Grundform, in das darstellende Rollenspiel im Raum zu gehen. Die Teilnehmenden äußern sich von ihrem Platz aus. Die von der Leitung angebotenen biblische Rollen sind zum einen die im biblischen Text tatsachlich benannten Personen, aber auch Rollen von denen anzunehmen ist, dass sie beim biblischen Geschehen dabei waren, wie z. B. Freunde und Freundinnen, Verwandte, Nachbarn, Junger/innen usw.; zum anderen können auch in der biblischen Erzählung zentrale Gegenstande zur Sprache kommen, wie z. B. der Baum des Zachäus, das Kissen, auf dem Jesus beim Seesturm liegt oder eine Säule des Tempels.
Der Bibliologe oder die Bibliologin, also die Leitung des Bibliologs, erklärt die „Spielregeln“ und fuhrt anschließend hin zum biblischen Schauplatz. Es folgt die Lesung einiger Verse der Bibel bis zu der Stelle, an der die Rolle angeboten wird: z. B. „Ihr seid David, du bist David der Hirtenjunge. David, was geht dir durch Kopf und Herz, als du vor deinen Brüdern als Jüngster zum König gesalbt wirst?“ Die Teilnehmenden, die sich in dieser Rolle äußern mochten, geben ein Zeichen und die Leitung stellt sich neben diese Person: z. B. in der Rolle des David: „Ich David, bin doch nur ein Hirte, ich habe keine Ahnung was ein König so machen muss – hoffentlich zeigt mir jemand, was meine Aufgaben sind!“
Der/die Bibliologe/in nimmt das Gehörte auf und gibt diese Rollenäußerung mit zum Teil eigenen Worten, manchmal davon die Quintessenz, aber auch Schlüsselwörter oder bei zentralen Äußerungen – wortwörtlich zu den anderen Teilnehmenden gewandt wieder: „Ich David, habe keinerlei Erfahrung mit den Aufgaben eines Königs, ich hoffe, da führt mich jemand ein!“ Die Leitung dient als „Sprachrohr“. Alle, inklusive die Person, die sich gerade geäußert hat, sollen Zeit und Raum bekommen, diese Äußerung nochmals in der Ich-Form zu hören. Diese Technik im Bibliolog nennt sich „Echoing“. Um auszuschließen, dass die Bibliologin bzw. der Bibliologe eine falsche Akzentuierung vorgenommen hat, geht der Blick der Leitung am Ende seiner Äußerung wieder zurück zu der Person, die aus der angebotenen Rolle heraus gesprochen hat. Der/die Teilnehmende hatte dann nochmals die Möglichkeit zur Korrektur. Sollte ein Teilnehmer oder eine Teilnehmerin nur Gefühle oder ggf. nur Grunde benannt haben, so hat die Leitung die Möglichkeit, mit der zweiten Technik, dem „Interviewing“, die Person in der Rolle nachzufragen. Zum Beispiel nach einer Äußerung von David: Ich bin ganz stolz! Lautet die „Interviewing“- Frage z. B.: David, was macht dich stolz? Darauf ist die/der Teilnehmer/ in nochmals eingeladen, über seine/ihre Motive zu sprechen.
Alle unterschiedlichen und gegensätzlichen Äußerungen in einer Rolle bereichern die Aussage der biblischen Erzählung. Der Raum der Bibel wird begehbar gemacht. Und die Fülle der Bibel wird erlebbar. Diese Haltung basiert auf der jüdischen Auslegungstradition des „Midrash“. Jede Aussage ist wichtig, wertvoll, darf sein. Midrasch meint zum einen das tatsachliche Suchen und Forschen im Blick auf den biblischen Text, aber auch das Ergebnis dieses Forschens. Rabbiner und Rabbinerinnen der Midrasch stellen Fragen an die Thora und gehen gemeinsam auf Suche, ringen nach unterschiedlichen Antworten. Ziel ist nicht die Suche nach der einzig wahren Aussage, sondern die Aussagenvielfalt soll die Leser der Wahrheit der Thora und somit Gott naherbringen. Aus der Schule Rabbi Jischmaels gibt es dazu die Aussage: Wenn, wie es in Jer 23,29 heißt, das Wort Gottes wie ein Hammer Felsen zerschmettern kann, dann entsprechen dem die vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten, bzw. die vielen Funken, die dabei entstehen.
Diese Mehrdeutigkeit der biblischen Texte greift der Bibliolog auf. Je vielfaltiger und bunter die Aussagen geäußert werden, umso mehr beginnt das schwarze Feuer zu lodern. Ein Bild, das Peter Pitzele von den antiken Rabbinern aufgreift. Das schwarze Feuer meint den Text selbst. Das weise Feuer steht für die Zwischenraume, also alles, was nicht benannt und erzählt wird. Hier öffnet sich der Raum, in dem sich biblische Welt und die eigene Lebenserfahrung begegnen können. Ziel des Bibliologs ist es, das weise Feuer zum Lodern zu bringen, also zwischen den Zeilen zu formulieren, um dadurch einen lebendigen Zugang zum schwarzen Feuer zu ermöglichen.
Im Gegensatz zum Psychodrama steht nicht die Verbindung zur eigenen Biographie im Mittelpunkt, sondern das unveränderte „Wort Gottes“. Bibel und Mensch sollen in Dialog treten – aus dieser Absicht heraus entstand auch das Kunstwort „Bibliolog“: Bibel + Dialog + Logos. Die Aussagen der Teilnehmenden bleiben stehen und werden nicht (therapeutisch) mit der eigenen Biographie zur Sprache gebracht. Auf Seiten der Teilnehmenden bleibt die Freiheit, woraus sie ihre Aussagen schöpfen: sei es reine Phantasie, oder selbst Erlebtes bzw. aus dem eigenen Wissensbereich.

Bibliolog am Beispiel Tempelreinigung (nach Mk 11,15–19)

Also: Steigen wir ein … Dieser Bibliolog wurde so in einem Familiengottesdienst zur Fastenzeit durchgeführt. Die ca. 250 Menschen blieben in den Reihen des Kirchenraumes sitzen:
Den Gottesdienstbesuchern wird erklärt, was sie heute erwartet und wie Bibliolog geht:
„Bevor wir von Pfarrer N.N. das Evangelium hören, lade ich ein, dass wir heute gemeinsam schrittweise in die Geschichte des heutigen Sonntagsevangeliums hineingehen. Wie sieht das konkret aus? Nachdem ich einzelne Verse des Evangeliums vorgelesen habe, biete ich Ihnen und euch Kindern eine Person aus der Bibel und eine Frage dazu an. Alle sind eingeladen, sich in die Person hineinzuversetzen, als diese zu denken und zu fühlen. Und wenn Ihnen und euch Gedanken und Gefühle kommen, dann wäre es schön, wenn Sie sich trauen, sich in der biblischen Rolle zu äußern, z. B.: Ich als Jünger erlebe, meine, fühle ... Wenn Sie und Ihre Kinder das möchten, dann gebt mir ein Zeichen. Ich komme zu euch und zu Ihnen und ich werde das Geäußerte nochmals mit meinen Worten sagen. Nicht weil ich etwas verbessern und ergänzen möchte, sondern damit wir alle nochmals Zeit zum Hören haben. Denn alles, was geäußert wird, ist wertvoll und wird dazu beitragen, dass die biblische Erzählung lebendiger wird. Dabei kann niemand etwas falsch machen. Ganz unterschiedliche Aussagen bleiben nebeneinander stehen. Aber niemand muss – manchmal kann man das auch im Stillen – eine biblische Person für sich ausfüllen. Doch wenn alle das für sich füllen, dann wird es eine sehr schweigsame Textmediation ...
Es folgt die Hinführung, welche konkret an den Ort des biblischen Geschehens hinfuhrt:
Wir verlassen unsere Stadt. Wir verlassen Deutschland und reisen in das Land Jesu. Wir reisen nicht nur in das Land, sondern auch in die Zeit Jesu. Wir gehen in die wichtigste Stadt – nach Jerusalem. Schon von weitem sieht man golden glänzend den Tempel, das Haus Gottes. Prächtig erhebt er sich über den Häusern der Stadt. Ein riesiges Gebiet – der ganze Tempelbereich.
Von überall her strömen die Menschen in die Heilige Stadt. So auch jetzt, wo das große jüdische Passahfest bevorsteht. Überall Pilger aus vielen Ländern. Die Menschen kommen um zu beten, um Gott nahe zu sein, um Gott ein Geschenk zu bringen.
Und da die Menschen von weit her kommen, kaufen Sie im Tempel, in den Vorhöfen ihre Opfergeschenke: Wer sehr viel Geld hat, einen Stier oder ein Lamm, wer wenig hat, ein paar Tauben.
Dichtes Gedränge herrscht an den Tischen, wo Geldwechsler die Münzen aus aller Herren Länder eintauschen, damit die Menschen in der Tempelwährung ihre Opfertiere einkaufen können. Viel Lärm von überall her, von den Händlern, den Pilgern und von den Tieren.
Auch Jesus kommt zusammen mit seinen Jüngern in die Stadt. Kurz zuvor war er, auf einem Esel sitzend, in Jerusalem eingezogen. Die Menschen haben ihn wie einen König bejubelt. Jetzt macht sich Jesus zusammen mit seinen Jüngern auf den Weg zum Tempel. Nun hören wir, was jetzt geschieht:
Ich schlage ganz bewusst das Evangeliar auf, um zu signalisieren, jetzt kommt biblischer Text und keine Erzählung von mir. Dann lese ich den ersten Satz:
Dann kamen sie nach Jerusalem ... (Mk 11,15).
1. Rolle: Sie sind/du bist eine Frau/ein Mann, ein Kind, du bist auf den Weg zum Tempel – zum Haus Gottes. Du als Frau …, was erhoffst du dir, wenn du jetzt in den Tempel gehst?
Die Gottesdienstbesucher können nun ihre Gedanken und Gefühle in der Rolle äußern. Es folgt das „Echoing“ und wenn alle gesprochen haben, die sich äußern wollten, ein „Danke“.
Ich lese weiter vor (Mk 15 ff.):
Dann kamen sie nach Jerusalem. Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und ließ nicht zu, dass jemand irgendetwas durch den Tempelbezirk trug. Er belehrte sie und sagte: Heißt es nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker sein? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht.
2. Rolle: Sie sind einer von denen, deren Tisch von Jesus umgestoßen wurde. Du bist ein Taubenhandler und deine Tauben fliegen umher. Oder du bist vielleicht einer der Geldwechsler, dessen Geld auf dem Boden zerstreut liegt. Und du hörst von diesem Jesus die Begründung für sein Tun: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes sein – ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht. Du Handler, du Geldwechsler, was geht dir ganz spontan durch den Kopf?
Und weiter (Mk 11,18 f.):
Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren.
Als es Abend wurde, verließ Jesus mit seinen Jüngern die Stadt.
3. Rolle: Sie sind/Du bist ein Junger von Jesus. Du verlasst gerade die Stadt Jerusalem. Heute war ein bewegender Tag. Unterwegs denkst du an die Handler, an Jesus, der die Tische umgeworfen hat und an die Begegnung mit den Hohen priestern und Schriftgelehrten. Jünger was bewegt dich? Was geht dir durch Kopf und Herz?
Weiter wie oben.
Nun leite ich an, den biblischen Schauplatz wieder zu verlassen. Um gut aus den Rollen zu kommen, bedanke ich mich bei jeder einzelnen Rolle: Verlassen wir den Tempel und die Stadt Jerusalem.
Verlassen wir die Zeit Jesu und kommen wir zurück in unsere Kirche. In unsere Stadt und in unsere Zeit. Danke, dass Sie, dass ihr Kinder dem Jünger, dem Händler und Geldwechsler und den pilgernden Menschen Ihre/eure Stimme gegeben habt. Danke!
Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden, schauen Sie nach rechts und links, ob auch Ihre Nachbarn wieder hier angekommen sind. Und als Sie selbst hören Sie noch einmal die biblische Geschichte von der Tempelreinigung ohne Unterbrechung
.
Im Anschluss an diesen Bibliolog las der Pfarrer nochmals das Evangelium im Ganzen.
Die Predigt entfiel, dafür spielte der Organist ein Instrumentalstuck, um nochmals das Gehörte nachklingen zu lassen.

Stärke des Bibliologs – Erfahrung aus Schule und Gemeinde

Bibliolog ist ab ca. 7 Personen, aber auch mit 100 – 200 und mehr Personen durchführbar. Menschen jeden Alters, mit unterschiedlichen oder keinen Vorkenntnissen, können gemeinsam eine biblische Erzählung für sich entdecken. Dabei verwende ich, auch bei Kindern, fast immer die Einheitsübersetzung – da diese viel „weises“ Feuer bietet. Somit werden Kinder und Jugendliche mit der biblischen Sprache vertraut.
Kinder genießen beim Bibliolog die Verlangsamung und das Lebendigwerden einzelner biblischer Szenen. Auch schwächere Schüler und Schülerinnen haben hier Erfolgserlebnisse, die sie zum Mitmachen motivieren.
Bibliolog fordert den respektvollen Umgang mit den Aussagen und Denkweisen anderer. „Eigene Horizonte“ werden erweitert. Meine Erfahrung ist, dass sich die wertschätzende Haltung, die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Meinungen auf die Atmosphäre in der Gruppe übertragt und dort eingeübt wird. Bibliolog in Deutschland ist eng mit dem Namen Uta Pohl-Patalong verbunden. Uta Pohl-Patalong, evangelische Theologin, lehrt Praktische Theologie an der Universität Kiel und ist Sprecherin des Netzwerkes Bibliolog. Sie hat die Methode 1999 bei Peter Pitzele erlernt und in eine klar strukturierte, gut erlernbare Didaktik gebracht. Seit 2004 wird die Methode gelehrt. Seitdem verbreitete sich Bibliolog über Deutschland hinaus, wie z. B. in die Schweiz, nach Osterreich, Belgien, Schweden, Frankreich, aber auch nach Sudafrika und Tansania.
Das verantwortliche Erlernen von Bibliolog, um der Bibel, dem Bibliolog und den Teilnehmenden gerecht zu werden, dauert ca. 30 Arbeitsstunden. Aktuelle Grundkursangebote finden sich auf der Homepage: www.bibliolog.de. Nach der erfolgreichen Teilnahme weist das Zertifikat des Netzwerkes Bibliolog die Teilnehmenden als Bibliologin bzw. Bibliologen aus und berechtigt sie/ihn, diese Methode anzuwenden.

Anzeige: Jana Highholder - Overflow. 137 Fragen für ein Leben in Fülle – Journal

Anzeiger für die Seelsorge-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Anzeiger für die Seelsorge-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.