Rezensionen: Philosophie & Ethik

Taylor, Charles: Das sprachbegabte Tier. Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens. Berlin: Suhrkamp 2017. 636 S. Gb. 38,–.

Seit 1999 ruft die UNESCO jährlich dazu auf, den 21. Februar als Internationalen Tag der Muttersprache zu begehen und die sprachliche Vielfalt unserer Welt zu feiern. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen 2019 zum Jahr der indigenen Sprachen erklärt (‹https://en.iyil2019.org›), wobei wieder einmal auf die erschreckende Tatsache hingewiesen wurde, dass von den noch rund 6000-7000 gesprochenen Sprachen etwa alle zwei Wochen eine ausstirbt.

Der üblicherweise dem Kommunitarismus zugerechnete kanadische Philosoph Taylor, der bereits in „Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung“ (Berlin 2009) das Thema der kulturellen Vielfalt behandelt hat, behält in einer unter europäischen Philosophen nicht gerade üblichen Weise eben diese Vielfalt immer mit im Blick und erinnnert unter Bezugnahme auf eine Vielzahl anthropologischer Studien daran, dass es „die Sprache“ der Menschen nicht gibt, sondern immer nur menschliche Sprachen (wenngleich er leider nicht auf die besonders linguistisch orientierten kulturtheoretischen Ansätze von Claude Levi-Strauss und Clifford Geertz eingeht).

Der umfangreiche Band kann von Nicht-Spezialisten als eine spiralförmig voranschreitende Meditation über Sprache und Kultur gelesen werden. Sie geht von der Feststellung aus, dass „wir uns einen Begriff von der Sprache nur dann machen können, wenn wir ihre konstitutive Rolle im menschlichen Leben verstehen“ (495) und kreist um die Gegenüberstellung von zwei klassischen linguistischen Theorietypen, die darüber hinaus zwei grundverschiedene Menschen- und Gesellschaftsbilder repräsentieren. Der eine ist die mit den Namen Hobbes, Locke und Condillac identifizierbare und mit der cartesianisch geprägten neuzeitlichen Erkenntnislehre verbundene „bezeichnungstheoretisch-instrumentelle“, atomistische und funktional begründete „Rahmentheorie“. Der andere, dem Taylor natürlich den Vorzug gibt, ist die an Hamann, Herder und Humboldt orientierte „Konstitutionstheorie“, welche Sprache gerade nicht als „Vokabular“, sondern als „Gewebe“ versteht. Demgemäß lässt sich die menschliche Sprache „nur durch einen radikalen Bruch mit dem Außersprachlichen erklären“ (71), das heißt, „der Besitz von Sprache befähigt uns dazu, zu den Dingen in ein neues Verhältnis zu treten und sie beispielsweise als Träger von Eigenschaften zu sehen, neue Emotionen zu empfinden, uns neue Ziele zu setzen, neue Beziehungen herzustellen und auf Fragen starker Wertung anzusprechen“ (77).

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur die Themen Enaktivismus, Metapher und Hermeneutik, sondern auch nichtsprachliche Ausdrucksweisen (insbesondere die Musik, 457 ff.) eingehend behandelt werden. Die ausführlich besprochene Problematik ethischer Normen wird im Schlussteil nochmals aufgegriffen, und zwar Hinblick auf die Idee universaler Menschenrechte und auf die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese über die prinzipielle kulturelle Relativität.

Das Buch bietet keine pädagogischen oder politischen Rezepte, aber viele Elemente für eine philosophische Anthropologie. Diese kann auch konkrete Prozesse wie etwa die gegenwärtige Debatte über das sogenannte „Framing“ erhellen oder die sogar an sozial- und humanwissenschaftlichen Fakultäten im deutschen Sprachraum beobachtbare Ausweitung des englischsprachigen Monolinguismus neu hinterfragen.

Man darf auf den angekündigten zweiten Band gespannt sein, in dem es insbesondere um den Zusammenhang zwischen der hier sichtbar gemachten Heideggerschen Auffassung von Wesen und Vermögen der Sprache und „der aus der Romantik hervorgegangenen Poetik“ (646) gehen soll.

        Stefan Krotz

 

Schuppener, Bernd: Seelennot. Essay über die Philosophie der Depressionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. 142 S. Kt. 17,80.

Der Autor, früher selbst an schweren Depressionen erkrankt, moniert, dass Depression nicht nur und nicht zuerst ein mit physisch-naturwissenschaftlichen Kausalitäten erklärbares Phänomen ist, das man mit Medikamenten oder – auf andere Weise – mit Psychotherapie erfolgreich überwinden könne. Depression ist eine komplexe und den ganzen Menschen ergreifende Erkrankung von Leib und Seele – im Begriff der Person verbindet er beides. Mit Rückgriff auf Philosophie und Mystik geht er das Thema der „Seelennot“ an, denn die Person erfährt in der Depression so etwas wie ein schwarzes Loch, eine notvolle Schwermut, auch etwas wie ein Sterben oder eine Nahtoderfahrung. Symbolisch tritt der Depressive durch das Tor des Totenreichs, er nimmt den Tod vorweg.

Der depressive Schub kann allerdings zum Korrektiv werden, das in das Leben eingreift und produktiv zu einer „Neuerschaffung meiner Welt“ (46) beiträgt – das ist während der Depression keinesfalls erkennbar und wird erst nach ihrer Bewältigung verstehbar. Depression ist Abstieg ins Dunkel der Seele, aber auch Gottesfinsternis oder Gotteskampf – wie Jakobs Kampf am Jabbok. Sie ist Konfrontation mit der Angst und mit dem Nichts. Sie führt, wenn sie durchlitten und durchgearbeitet ist, zu neuer Transzendenz – die religiöse Seite wird von Schuppener eher angedeutet, aber sie ist positiv konnotiert. Die Depression soll man nicht so sehr auf äußere Ursachen projizieren – biochemische Störungen, erlittene Kränkungen usw. –, sondern man soll sie als innere und individuelle Realität, als „meine Depression“ annehmen und geduldig in sie hineingehen – sie heilt dann gleichsam von selbst, durch die Zeit, von innen her (98).

Das Buch ist trotz der Fülle der Zitate leicht lesbar. Die wichtigsten Gewährsleute Schuppeners sind Kierkegaard und C.G. Jung, aber er zitiert auch Meister Eckhart, Goethe, Nietzsche, Freud, Guardini u.v.a. – diese Breite deutet schon an, dass sein Ansatz nicht so sehr auf ein begrifflich kohärentes Deutungsmodell abzielt, sondern eher auf ein vielfältiges und bisweilen dichterisches Umkreisen des begrifflich schwer fassbaren Phänomens Depression. Ein anregendes Buch für Menschen, die von dieser schweren Krankheit betroffen sind, und für solche, die ihr denkerisch nachgehen wollen.

Stefan Kiechle SJ

 

Hilpert, Konrad: Ethik der Menschenrechte. Zwischen Rhetorik und Verwirklichung. Paderborn: Ferdinand-Schöningh 2018. 347 S. Kt. 39,90.

Der emeritierte Moraltheologe Konrad Hilpert fasst den Ertrag früherer Publikationen zum Thema Menschenrechte einschließlich zahlreicher Lehrveranstaltungen an der Münchener Universität zur Frage zusammen. Dabei leitet ihn im zweiten Teil „Inhalte“ (111-225) vor allem das Interesse, zentrale Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und deren Entsprechung in der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2007) auf ihren sachlichen Gehalt hin auszulegen und Möglichkeiten wie auch Grenzen ihrer Implementierung angesichts einer bemerkenswerten Diversität von geografischen, kulturellen und religiösen Kontexten zu erkunden. Während die Themen des ersten Teils „Grundlagen“ (17-107) wie z.B. die Erfahrungen von Unrecht und Leid als Anstoß zur Forderung nach Menschenrechten, die geschichtliche Genese der Menschenrechte, die Aufnahme der Idee der Menschenrechte in lehramtliche Verlautbarungen der Kirche etc. schon vielfach in entsprechenden Publikationen erörtert wurden, bietet die lebensnahe Kommentierung der Menschenrechte im zweiten Teil wichtige Informationen und Perspektiven. Hierzu nur einige Hinweise: Im Kommentar zu „Das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung“ (127-142) geht Hilpert ausführlicher auf die Leibeigenschaft ein, deren Untergebene zwar im Unterschied zur Sklaverei von ihrer Herrschaft nicht gänzlich abhängig waren, denn sie besaßen einen Anspruch auf auskömmlichen Unterhalt, konnten den eigenen Hof bewirtschaften, ihn an Nachkommen vererben und bei Gericht mitwirken. Demgegenüber waren die Sklaven, die es zur gleichen Zeit in großer Zahl (von Mitte des 17. bis Mitte des 19. Jahrhundert etwa 11 bis 12 Millionen) in Afrika, Amerika und Europa gab, völlig rechtlos ihren Herren ausgeliefert. Sie waren Handelsgut auf den entsprechenden Märkten und wurden von ihren Herren wie Sachgüter besessen. Bereits im ersten Teil im Zusammenhang der Kolonisierung Lateinamerikas durch die Spanier referiert Hilpert die Einsprüche der Dominikaner Francisco de Vitoria und vor allem Bartholomé de las Casas gegen die Methoden und Legitimationen des gewaltsamen Vorgehens der Kolonisatoren unter dem Deckmantel christlicher Mission und deren Eintreten für die Rechte der versklavten Menschen (68-80). Das Institut der Leibeigenschaft schränkte die Freiheit zur Eheschließung erheblich ein. Geheiratet werden durften nur Partner, die zum eigenen Stand und zur eigenen Herrschaft gehörten.

Das Menschenrecht auf Lebensschutz gehört zu den fundamentalen Rechten, insofern das Leben die Voraussetzung zur Verwirklichung aller Lebenspläne ist. Die Verletzungen dieses Rechtes sind vielfältig: Sie reichen von Morden im staatlichen Auftrag (z.B. Nationalsozialismus, Stalinismus, Genoziden an Armeniern und Ruandern) bis zur Folter (Inquisitionsverfahren, Terrorismus, Rettungsfolter). Beim Thema Rettungsfolter tendieren die Meinungen allerdings nicht eindeutig in Richtung Ablehnung (vgl. 151). Ausführlich und umsichtig behandelt Hilpert die Todesstrafe unter der Leitfrage, ob es sich bei ihr um einen Verstoß gegen Menschenrechte handle. Eindeutig ist die Antwort: Die Todesstrafe ist abzuschaffen, so auch der Katechismus der Katholischen Kirche in der neuesten Fassung (nr. 2267).

Der dritte Teil „Probleme“ (229-284) handelt u.a. von der Spannung zwischen universalem Geltungsanspruch der Menschenrechte und deren partikularen Ursprung in Nordamerika, Frankreich und England. Bei dieser Frage ist freilich deutlich zwischen Genese und Geltung auf theoretischer Ebene und der Ungleichzeitigkeit der Implementierung der Menschenrechte auf Weltebene zu unterscheiden. Auch in diesem Teil bleibt Hilpert seiner Linie treu, diese Fragen eher aus pragmatischer Perspektive anzugehen. Als Akteure zur Förderung der praktischen Geltung der Menschenrechte nennt er u.a. die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), deren Bühne die Weltöffentlichkeit sein könnte und z.T. auch ist. Unabdingbar ist für die Implementierung der Menschenrechte eine sachgemäße Information, das frühzeitige Bearbeiten von Konflikten sowie die öffentliche Anklage. Hingewiesen sei noch auf das Kapitel 17: „Krieg für Menschenrechte“, in dem u.a. die Berechtigung von sogenannten humanitären Interventionen diskutiert wird.

Hilpert legt mit diesem Band eine Art Kompendium der „Ethik der Menschenrechte“ vor, das noch im Anhang durch einschlägige Quellen zu Deklarationen der Menschenrechte ergänzt wird. Die Lektüre kann einer breiteren interessierten Leserschaft nur empfohlen werden.

Josef Schuster SJ

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