Lyrik der WeltBesuch auf dem 20. Internationalen Poesiefestival Berlin

„The space between the words is the real matter of poetry”

„Der Raum zwischen den Worten ist die tatsächliche Substanz und
das Anliegen der Dichtung“

– Thomas Wohlfahrt, Haus für Poesie Berlin 

 

Inmitten einer ausrangierten Kegelbahn behauptet sich ein gedimmt ausgeleuchteter Tisch. In diesem Keller ist es angenehm kühl im Gegensatz zur schwülen Hitze, die sich im arabisch geprägten Beusselstraßenkiez in Berlin-Moabit angestaut hat. Auf der anderen Seite der Fensterscheibe dieser Kegelbahn sitzen die Zuschauer und blicken auf einen jungen Mann aus Syrien: „Mit dem Meer ist nicht gut Kirschenessen“, sagt er. Eine deutsche Redewendung in einem arabischen Gedicht: ein schwarzer Euphemismus, der die Absurdität der Lage im Mittelmeer beklagt?

Bevor das einwöchige Programm des 20. Internationalen Poesiefestivals Berlin am eigentlichen Veranstaltungsort, der Akademie der Künste im Tiergarten, startet, gibt es Lesungen in den Stadtteilen. Die Gedichte auf Arabisch, einer der Muttersprachen der Poesie, sind deutlich länger als die der deutschsprachigen Dichterinnen und Dichter, die unter dem Schlagwort „Blick aus dem Fenster“ berichten: fast erzählerisch, in stiller Reflexion protestierend, melancholisch aber nie wehleidig. Die Zusammenarbeit der arabischen Künstler mit deutschsprachigen im Kollektiv „Wiese“, die ihre Texte gegenseitig übersetzen, verkörpert ein wesentliches Merkmal gegenwärtiger Dichtkunst:

Die zeitgenössische Lyrik ist international. Auf dem Festival sind Künstler aus aller Welt vertreten: China, Südafrika, England, Syrien, Slowenien, Libanon, Türkei, Puerto Rico, Polen… Schwerpunkte liegen in diesem Jahr auf den USA und Kuba. Viele der Dichter sind zudem multilingual. In dieser Woche reicht mir eine junge Berlinerin aus Guatemala ein Exemplar ihrer neugegründeten Zeitschrift „Falter“: Ein faltbares Heft voll bildender Kunst und Poesie, in spanischer und deutscher Sprache. Veranstaltungen wie „Freily ausgefranst. Translingual Poetics“ oder „Versschmuggel USA–Deutschland–Reversible“ zeigen, wie Sprachgrenzen heute keine absoluten sind, wie sie ineinander verwoben etwas Neues, Grenzüberschreitendes bilden können.

Die zeitgenössische Lyrik ist vielseitig. Neben abstrakteren oder freieren Formen behaupten sich auch klassische Gattungen wie die uralte chinesische Ballade: Xi Chuan bedient sich dieser altmodischen Gerüste, um die überholten Denkmuster chinesischer Politik zu karikieren:

„bäume, die man auf neuem Land pflanzt, hat die natur noch nicht autorisiert.
ohne autorisierung der natur auch kein autoritäres waldgefühl“

(Aus: „maßnahmen zur landgewinnung“. Diskurse des Adlers. Bochum 2003)

 

Die zeitgenössische Lyrik ist multimedial. Das Online-Portal „Lyrikline“ feiert – wie das Poesiefest – 20-jähriges Bestehen mit einer Late-Night-Poetry-Show. Die Webseite präsentiert die Stimmen von 1400 Dichterinnen und Dichtern in 90 verschiedenen Sprachen. Singer & Songwriter wie der Kubaner Raúl Paz performen die Urform der Lyrik, die schließlich einmal zum Gesungen- und Gehörtwerden erfunden wurde, und Regisseur Leopold von Verschuer bringt mit seiner Inszenierung „Grasblätter“ Walt Whitman (†1892), einen der bedeutendsten Dichter der USA, auf die Bühne. Gänsehaut bereiten die kreativen und kunstvollen Gedicht-Verfilmungen des ZEBRA Poetry-Film-Festivals, der weltweit größten Plattform für das Genre der Poesiefilme. Datenschemen & Zeichensprachen aus der digitalen Welt werden dekonstruiert: Wer herrscht hinter der künstlichen Intelligenz und den Algorithmen, die unsere Wahrnehmung im Alltag dominieren? Die Medien, durch die die Poesie spricht, sind schier unendlich: Zeichnungen des Dichters Oskar Pastior finden ihren Platz auf dem Festival ebenso wie „Poetry Yoga“ und andere Workshops für Kinder und junge Erwachsene im Garten der Akademie. Alle erstaunlichen Angebote und Künstler aufzuführen, ist an dieser Stelle leider nicht möglich. Unbedingt hervorzuheben ist aber Yugen Blakrok: Die Südafrikanerin verbindet durchaus klassische Lyrik mit moderner Rap-Musik und Live-Performance. Auf Xhosa, einer „Knacksprache“ aus der Bantu-Sprachfamilie, und Englisch zieht sie den gesamten Saal in ihren Bann. Über die düsteren Beats ihres DJs rappt Blakrok mystische und religiöse Topoi bis zurück in die Antike:

„heiliger gehöhlter Fels, der Geist in einem Stein
Rabe in der Nacht, Rose aus Obsidian
Meine Schüler zeichnen Kreise in den Sand,
und wie Gurte Kreuze auf die Brustkörbe
Oden an Dianas Bogen kann man in Muscheln hören
am Strand werf ich die ganze Schule aus wie Fischerleute
es funkelt im Gesicht welker Männer wie Winterbläue
während ich ins lebendige Wasser schreite, ohne stehen zu bleiben
ich bin eine Sirene aus Steinen […]“

(Aus „Hydra“. Übersetzung aus dem Reader des Poesiefestivals.
Viele der Raps sind auf Youtube zu finden)

 

Die zeitgenössische Lyrik ist anspruchsvoll. Abgesehen von den Formen und Inhalten der präsentierten Gedichte regen auch Intellektuelle wie Politikberater, Journalisten und Philosophen zum Weiterdenken an: der Italiener Giorgio Agamben in seinem Vortrag zur Rolle der Sprache(n), der Argentinier Sergio Raimondi mit Kapitalismuskritik in seiner „Berliner Rede zur Poesie 2019“.

Die zeitgenössische Lyrik ist politisch. In der „Langen Nacht der Poesie. Weltklang“ präsentiert Marion Poschmann ökologisch-politisch brisante und preisgekrönte „Nature Poetry“ oder Klimapoesie – ihren Roman „Die Kieferninseln“ besprachen wir in den Stimmen der Zeit 143 (7/2018), 504-506.

Laß uns von Erdöl sprechen. Als der helle Tag
wie jedes Mal von seiner Plattform kippte,
wuchs mir ein Pelz aus Pipelines, ich war Sonne
und meine Strahlen reichten bis Sibirien.
Melancholie des Ungestalten, Götze,
der durch die Röhren fließt, dahinten leckt
und Sümpfe neu verspiegelt.

(Aus „Restschnee“. Reader des Poesiefestivals)

 

Zahlreiche Dichterinnen und Dichter wenden sich mal mehr, mal weniger explizit gegen Nationalismus, Rechtspopulismus und Mauerbau in Europa und weltweit. Hervorzuheben ist hier Márió Z. Nemes, der mit seinem „Hungaro-Futurismus“ ein fiktionales politisches Manifest vorlegt, das in seiner komischen und absurden Mischung aus intellektuell-kommunistischem Sprachgestus, überspitztem ungarischen Nationalismus und Science-Fiction-Topoi aus der Welt der Außerirdischen eine „Auflockerung der Zeit der Nationen“ provozieren will. Auf dem Forum „Hate, Fake, Rage“ wird über den Verlust von Respekt gegenüber Mitmenschen in der öffentlichen und politischen Debatte wie gegenüber Fakten debattiert. Viele Autoren feiern mit „50 Jahren Stonewall“ außerdem die Befreiungsbewegung schwuler, lesbischer, bi- und transexueller sowie queerer Menschen (LSBTQ), die mit Protesten gegen Polizeiwillkür und Repression in New York ihren Anfang nahm.

Die zeitgenössische Lyrik ist jung. Das meint hier nicht eine rebellisch gegen die Älteren aufbegehrende Generation, sondern die Sichtung auffällig vieler jüngerer Künstlerinnen und Künstler auf dem Poesiefest. Das widerspricht dem Klischee, dass Gedichte allein etwas für kluge pensionierte Professoren und allzu romantische Bücherwürmer wären. Besonders Programmpunkte wie zum Genre des Poetry Slams („Superpowerpoetry“), ein Wettbewerb für Jugendliche sowie besagte Workshops geben den Jüngeren gezielt Zeit und Raum.

Die zeitgenössische Lyrik ist im Kommen. Zwar sieht man auf den Bestseller-Listen und selbst in den Regalen durchschnittlicher Buchhandlungen noch selten einen neuen Lyrikband – außer vielleicht von Stars wie Nora Gomringer unmittelbar nach der Besprechung im Feuilleton. Aber die Zahlen (ver)sprechen Bände: Mit 13.000 Besuchern zählte der Veranstalter – das Berliner „Haus für Poesie“ – so viele wie nie. Die Verlage, die sich während des Festivals mit ihrem Programm präsentierten, verkauften hier 30 Prozent mehr Titel als im Vorjahr. Insbesondere kreativ und liebevoll gestaltete Gedichtbände, wie etwa vom dafür ausgezeichneten Verlag „kookbooks“, stehen wohl wieder häufiger in den Regalen der Lyrikfans weltweit.

 

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