EU zwischen Krise und HoffnungDas Subsidiaritätsprinzip wird zur Entsolidarisierung missbraucht

Die Europäische Union sucht nach neuen Wegen, um wieder für die Ideale zu stehen, die sie einst so erfolgreich gemacht haben. Dabei steht sie aber vor mehreren Herausforderungen. Josef Senft, christlicher Sozialethiker und apl. Professor in Würzburg, beobachtet, dass die EU zum einen an Vertrauen und Beachtung unter den Bürgern verliert – und zum anderen von nationalen Politikern aus Eigeninteressen destabilisiert wird. Senft entwickelt den Lösungsansatz einer „solidarischen Subsidiarität“, um die EU auch auf regionaler Ebene wieder beliebter zu machen, ohne dass sie an Handlungsfähigkeit einbüßt.

Nach wachsendem Vertrauensverlust in fast allen Mitgliedsländern erklärte die EU im März 2017 anlässlich des 60. Jahrestages ihrer Gründung, dass sie ihre Ziele in Zukunft „im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip“ erreichen will, indem sie „den Bürgerinnen und Bürgern zuhört und mit den nationalen Parlamenten, Regionen und Gemeinden in einem demokratischen, effizienten und transparenten Beschlussfassungsprozess zusammenarbeiten wird“.1

Wie notwendig, aber auch wie unbefriedigend bisher die Realisierung dieses Versprechens ist, zeigen – trotz der aktuell etwas positiveren Umfragewerte2 – im Blick auf die Europawahl im Mai 2019 die angespannten Ausgangsbedingungen in fast allen Mitgliedsländern. Waren früher die Debatten von Themen der Globalisierung und transnationaler Vernetzung geprägt, so werden sie jetzt von Ab- und Ausgrenzung dominiert. Ein Zerfall der EU scheint nicht nur wegen des Brexits nicht mehr völlig abwegig, „und fast überall erstarkt ein populistischer, identitärer Nationalismus“3.

Dieser ausgrenzende Nationalismus wird gegenüber der europäischen Öffentlichkeit häufig mit Verweis auf das Recht nationaler Selbstbestimmung und auf das Subsidiaritätsprinzip begründet, welches in den EU-Verträgen zwar hervorgehoben, in der Praxis der EU-Politik bisher jedoch oft in opportunistischer Weise missbraucht wurde. Das Subsidiaritätsprinzip steht aber, so wie es in der Tradition der christlichen Sozialethik vielseitig Anerkennung gefunden hat, für eine solidarische und am Gemeinwohl orientierte Gesellschaft. In dieser Konsequenz steht auch die Europäische Union, die in den Präambeln ihrer Verträge Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte als ihre Grundwerte festgelegt hat.

Unsolidarische Instrumentalisierung

Im Vertrag von Maastricht (1993) heißt es in Art. 5: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ Im Vertrag von Lissabon (2009) wird das bestätigt und neben den Mitgliedstaaten auch ausdrücklich von Regionen und Kommunen gesprochen. Neu dazu kommt dort außerdem die Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union; ein Instrument, das in den Folgejahren kaum genutzt wurde.

Was so als möglichst gerechte Aufgabenteilung zwischen EU und den Mitgliedsländern einschließlich ihrer Regionen und Kommunen geplant war, wird in letzter Zeit zunehmend von einer Politik, die den Nationalstaat stärken will, auf die eigenen Interessen verkürzt. So strebt z.B. der österreichische Regierungschef, Sebastian Kurz, in der EU einen „Subsidiaritätspakt“ an, mit dem Angelegenheiten wie etwa die Aufnahme von Geflüchteten ausschließlich auf nationaler Ebene entschieden werden können.4 In anderen Ländern wird von Politikern, die populistischen Parteien angehören, eine Enteignung von Souveränität durch die EU befürchtet. Deshalb will man ihr mit Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip meist nur die Bereitstellung von sicherheits- und handelspolitischen Rahmenbedingungen zubilligen.

In Deutschland plädieren vier der fünf Wirtschaftsweisen dafür, dass das Prinzip der Subsidiarität die Reformdebatte in der EU leiten soll.5 Allerdings nur um in Zukunft die Fiskal- und Wirtschaftspolitik wieder mehr in die Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verlagern und gleichzeitig eine gemeinsame Haftung für Staatsschulden auszuschließen.

Unterstützt werden diese auf das nationale Interesse bedachten Bestrebungen auch von dem Sozialethiker Wolfgang Ockenfels OP, der für eine EU-Politik „nach dem Alphabet der Subsidiarität“ plädiert. Nach seiner Meinung „beginnt die Demontage Europas da, wo man auf Kosten anderer ein bequemes Leben führen will. Wer nicht bereit ist, sich selber durch einen kräftigen Eigenbeitrag zu helfen, hat die Berechtigung verloren, von anderen solidarische Hilfe zu erwarten.“6

Die Leitung der Dominikanerprovinz sieht in „nationalistischen Tendenzen wie sie auch im Grundsatzprogramm der AfD festgehalten“ sind, eine besorgniserregende Entwicklung, weil sie zunehmend über die Idee eines gemeinsamen Europas gestellt werden. Sie kritisiert das Engagement des Dominikanerpaters Ockenfels für die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung und bezeichnet dessen Haltung zur AfD als „seine persönliche Einzelmeinung“. Mit der Politik der AfD gehe „der wachsende Gebrauch einer verrohenden und plakativ-vereinfachenden Sprache der Abgrenzung und Abschottung, die bisweilen gar in offene Feindseligkeit mündet“7 einher.

Dass stattdessen Solidarität die Zukunft der EU bestimmen muss, wenn sie auf die Frustration und Not der Globalisierungsverlierer – wie sie im Protest der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich oder auch beim Brexit zum Ausdruck kommen – reagieren und letztlich ihr Fortbestehen sichern will, ist inzwischen den meisten Verantwortlichen in der EU mehr oder weniger bewusst. Deshalb wurde auf dem Sozialgipfel im November 2017 die „Erklärung der Sozialen Rechte“ proklamiert, die offensichtlich über die bereits 1961 beschlossene und wenig wirksame „Europäische Sozialcharta“ hinausgehen sollte. Allerdings wurde auch damit die Chance für ein soziales Europas klar verfehlt. Neben allgemeinen unverbindlichen Bekenntnissen war die Gesetzesinitiative zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine der wenigen konkreten Vorschläge. Von vielen war allerdings die Einführung eines europaweiten Mindestlohns und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung erhofft worden. Gegen den entsprechenden Antrag hatte vor allem Deutschland mit der Behauptung, dies führe zu einer „Transferunion“, ein Veto eingelegt. Nach Meinung von Heribert Prantl steht die soziale Dimension zwar in den EU-Verträgen und in den Texten von Politikern, beispielsweise von Manfred Weber (CSU), der aus der EU eine „sozialere Union“ machen möchte, die Praxis sei aber ziemlich dürftig. Europa brauche aber nicht nur Verträge, sondern das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.8

Wie die christliche Sozialethik Subsidiarität prägte

In den Debatten über Subsidiarität wird immer wieder Bezug auf eine Definition aus der Sozialenzyklika Quadragesimo anno genommen; dort heißt es: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (Nr. 79).

Der viel gelobte Grundsatz der Subsidiarität enthält also nicht nur ein Entzugsverbot, das der größeren Gesellschaft untersagt, den kleineren Gemeinschaften jene Aufgaben zu entziehen, die sie aus eigener Kraft leisten können, sondern auch ein Assistenzgebot, das die größere Gemeinschaft dazu verpflichtet, der kleineren hilfreichen Beistand zu leisten.

Auf diese Solidaritäts-Komponente des Subsidiaritätsprinzips, die in der EU-Debatte so oft unterschlagen wird, hatte Oswald von Nell-Breuning SJ, der als Verfasser von Quadragesimo anno gilt, immer wieder hingewiesen. Bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sei nämlich nicht gemeint, erst einmal abzuwarten, was die kleineren Gemeinschaften unter Einsatz der letzten Reserven zu leisten imstande sind, „sondern es ist jene Art von Hilfe zu geben, die den Menschen instandsetzt, sich selbst zu helfen, oder die seine Selbsthilfe erfolgreicher macht“9.

Auch das in einem breiten Konsultationsprozess erarbeitete gemeinsame Sozialwort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ unterstreicht das Assistenzgebot des Subsidiaritätsprinzips ausdrücklich: Die einzelnen wie die „kleinen Gemeinschaften müssen die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt“; es entspricht nämlich „nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es einseitig als Beschränkung staatlicher Zuständigkeit versteht“10.

Wenn auch in den Präambeln der EU-Verträge allgemein und nebenbei von Solidarität gesprochen wird, fehlt sie als Assistenzgebot des Subsidiaritätsprinzips. In einer aktuellen, vom Europa-Parlament herausgegebenen und ansonsten recht ausführlichen Beschreibung von Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips in der EU11 wird das Assistenzgebot nicht ausdrücklich genannt. Und selbst dort, wo beide Prinzipien gemeinsam genannt werden, wird oft eine sich daraus ergebende Hilfe erst durch nationalstaatliche rote Linien ausgeschlossen und dann zum unglaubwürdigen Anhängsel, wie wenn Angela Merkel in einem Interview sagt: „Solidarität unter Europartnern darf aber nie in eine Schuldenunion münden, sondern muss Hilfe zur Selbsthilfe sein.“12

In seiner Rede vor dem Europäischen Parlament (2014) sprach Papst Franziskus davon, dass Europa Gefahr läuft, „allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen ‚humanistischen Geist‘, den es doch liebt und verteidigt“, weil im Mittelpunkt der politischen Debatte technische und wirtschaftliche Fragen vorherrschen auf Kosten einer authentischen anthropologischen Orientierung.13 Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ vertritt in seinem 2017 erschienenen Buch „Was ist los mit dir, Europa“ den Standpunkt , dass die EU nur gelingt, wenn die Institutionen und Verfahren der EU sich ernsthaft auf der Ebene der Nationen, Regionen und Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürgern ausrichten und sie beteiligen. Nach seiner Meinung ist „seit dem Maastrichter Vertrag das marktradikale Erbgut in die Konstruktion des Europäischen Binnenmarktes und der Währungsunion eingeflossen und hat dort große Schäden verursacht“.14 Den „vier großen Freiheiten“ des grenzüberschreitenden Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital wurde gegenüber den sozialen Grundrechten der abhängig Beschäftigten ein so großer Vorrang eingeräumt, dass die föderale Solidarität erodierte.

Solidarische Subsidiarität in Europa

Das Ziel eines geeinten Europas, das sich neben der nationalen Ebene im Sinne des Subsidiaritätsprinzips auch auf lokale und regionale Selbstverwaltung stützt, wurde zwar schon sehr früh in den Blick genommen, allerdings nur in Form von Räten und Initiativen, die ziemlich wenig Einfluss auf die Entscheidungen der EU-Politik hatten. Ein Beispiel dafür ist der mit beratender Funktion ausgestattete „Rat der Gemeinden und Regionen Europas“, der schon 1951 gegründet wurde. Ein anderes Beispiel ist die „Europäische Bürgerinitiative“, die im Vertrag von Lissabon als Möglichkeit eröffnet wurde. Mit ihr kann erreicht werden, dass die Europäische Kommission sich mit einem Thema beschäftigen muss, wenn mindestens eine Million Voten in einem Viertel der EU-Mitgliedsstaaten gesammelt worden sind. Da solche Bürgerinitiativ-Anträge kaum zum Zuge kamen und nachdem in einem Untersuchungsbericht Mängel an dem Instrument der Europäischen Bürgerinitiative festgestellt worden waren, kam 2017 der Vorschlag für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Bürgerinitiative“. Darin wird als Beitrag zu größerer Bürgernähe der EU weniger Bürokratie und bessere Handhabung gefordert sowie die Entfaltung des vollen Potentials der Europäischen Bürgerinitiative auch für junge Menschen.

Nach Meinung des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie braucht es aber eine systematische Verstetigung von Bürgerforen, die deutlich über „das zaghafte Instrument der Europäischen Bürgerinitiativen“ hinausgehen. In seinem einleitenden Essay zum Schwerpunktheft der Bundeszentrale für politische Bildung „Europa wählt“ schreibt er: „Konsultative Beteiligung sollte zur vierten Gewalt’ werden, von der lokalen bis zur supranationalen Ebene.“15 Damit würde sich die Legitimation direkter wie indirekter Abstimmungen und die Qualität politischer Entscheidungen erhöhen und den erstarkenden Gegnern der EU ein wichtiges Argument entzogen. Von ihrem Anspruch her müssten vor allem die Europäischen Strukturfonds wie der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) oder der Europäische Sozialfonds (ESF) eine solidarische Wirkung haben, da sie nach der Agrarpolitik der zweitgrößte Posten im EU-Haushalt sind und die Verringerung des Strukturgefälles zwischen allen Regionen der Europäischen Union zum Ziel haben. Allerdings wussten aufgrund schlechter Kommunikation bisher nur ein Drittel aller europäischen Bürger über die Auswirkungen dieser Fonds auf ihr tägliches Leben Bescheid; zu viele potentielle Träger sind außerdem abgeschreckt von der Komplexität der Umsetzung europäischer Projekte.16

Nach Meinung der Jungen Europäischen Föderalisten17 ist die EU an einem Punkt angelangt, an dem es notwendig ist, den Weg zu einer effizienten, am Subsidiaritätsprinzip orientierten Aufgabenteilung zwischen EU und den Mitgliedstaaten einschließlich ihrer Länder und Regionen entschlossener als bisher zu gehen. In Zeiten globalisierter Märkte, von Finanz- und Wirtschaftskrise, gesteigerter Mobilitätserwartungen auf dem Arbeitsmarkt, Klimawandel und Ressourcenknappheit lassen sich nach ihrer Meinung die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zumeist nur noch europäisch und nicht mehr nationalstaatlich bewältigen.

Am Beispiel der Migrationspolitik wird zumindest deutlich, was das Gegenteil von solidarischer Subsidiarität ist. Mit den äußerst fragwürdigen Beschlüssen zu Dublin I bis III haben die anderen EU-Staaten viele Jahre vor allem Italien und Griechenland die Solidarität verweigert. Hier kann – so notwendig es auch wäre – nicht auf die verfehlte Migrationspolitik der EU eingegangen werden. Aber es soll exemplarisch ein Ansatz subsidiärer Hilfe für Geflüchtete genannt werden. Die Politologin Gesine Schwan zeigt auf,18 wie Kommunen, die willens sind, Flüchtlinge aufzunehmen, von der EU in besonderer Weise unterstützt werden könnten. Sie schlägt europäische Fonds vor, mit denen projektbezogene Kredite für Infrastruktur- und Integrationsmaßnahmen direkt von Gemeinden beantragt werden können. So könnten sie nicht nur Geld für Flüchtlinge bekommen, sondern auch für Investitionen, die ohnehin notwendig sind. Damit können Brücken zwischen den Interessen der Bürger der Kommunen und den Schutzsuchenden gebaut werden.

Dass Kommunen zur Übernahme einer solchen Verantwortung bereit sind, zeigten unter anderen die Städte Düsseldorf, Köln und Bonn, die im Juli 2018 in einem offenen Brief an die Bundesregierung anboten, noch mehr als bisher in Not geratene Flüchtlinge aufzunehmen.19 Nicht nur der Deutsche Städtetag begrüßte diese Initiative, weil es Direkthilfe und intensive politische Anstrengungen geben müsse, solange Menschen auf der Flucht im Mittelmeer sterben. Dass auch in anderen europäischen Ländern Städte und Gemeinden zu solcher subsidiärer Solidarität für Geflüchtete bereit sind, zeigt das Beispiel der Bürgermeisterin Ada Colau von Barcelona oder des Bürgermeisters von Neapel, Luigi de Magistris. Dieser hat im Januar 2019 angeboten, 49 Migranten, die sich auf dem Schiff der Nichtregierungsorganisation (NGO) „Sea Watch“ in dramatischer Seenot befanden, anlegen zu lassen, nachdem sich Italien und Malta dazu weigerten; immerhin waren dann, allerdings erst nach Wochen, ein paar europäische Länder dazu bereit, die Menschen aufzunehmen.

Im März 2017 hat die Europäische Kommission ein „Weißbuch zur Zukunft Europas“ veröffentlicht. Damit will sie eine „ehrliche und umfassende Debatte mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber anstoßen, in welche Richtung sich Europa in den kommenden Jahren entwickeln sollte. Jede Stimme sollte gehört werden“. Diese Debatten will die Kommission „zusammen mit dem Europäischen Parlament initiieren und in den nationalen Parlamenten, Städten und Regionen Europas“ durchführen. Fünf mögliche Szenarien für Europa im Jahr 2025 werden vorgestellt. Die NGOs, die auf europäischer Ebene aktiv sind, waren mit den fünf Szenarien nicht zufrieden und haben ein sechstes Szenario nach Brüssel geschickt, nämlich das Szenario 6: „Nachhaltiges Europa für seine Bürger“20. Darin fordern sie die Realisierung der Nachhaltigkeitsziele, der Sustainable Development Goals (SDGs), und einen größeren „Einfluss der Bürger und der Zivilgesellschaft auf die wichtigsten europäischen politischen Fragen“ durch mehr Transparenz, Beteiligung und Rechenschaftspflicht.

Im Vorfeld des Gipfeltreffens im rumänischen Sibiu, wo der europäische Rat am 9. Mai 2019 über die fälligen Weichenstellungen zur EU-Zukunft beraten wird, zeichnet sich allerdings bereits ab, dass weniger über die fünf Szenarien des Weißbuchs als vielmehr über die Vision Emmanuel Macrons von einer „europäischen Souveränität“ diskutiert wird. Trotz der Skepsis bezüglich der innenpolitischen Entwicklungen in Frankreich kann man Macrons „Initiative für Europa“ im Vergleich zu den bisher vorliegenden kleinteiligen Reformvorschlägen als einen großen Wurf bezeichnen, der angesichts interner und externer Problemlagen die Schaffung eines „souveränen, geeinten und demokratischen Europa“ zu einer Notwendigkeit erklärt.21

Ein Beispiel für eine ermutigende europäische Graswurzelbewegung ist die überparteiliche Bürgerinitiative „Pulse of Europe“, die es seit 2016 schafft, dass in vielen Städten Tausende mit Europa-Fahnen demonstrieren.22 Sie wollen damit den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar machen. Dafür lädt Pulse of Europe auch zu Debatten über Europas Grundwerte und Probleme in kleinen Gruppen („Hausparlamenten“) ein und übergibt konkrete europapolitische Forderungen an ausgewählte Entscheidungsträger.

Ein Europa der Regionen

Wenn von Regionen in Europa die Rede ist, denken heute viele nicht als erstes an dezentrale Demokratiemodelle, sondern an Konflikte in Gegenden, in denen Unabhängigkeitsbewegungen mehr Autonomie oder sogar Eigenstaatlichkeit erreichen wollen. Oft sind es wie in Katalonien oder in Nord-Italien florierende Regionen, die im Vergleich zu anderen Landesteilen finanziell besser dastehen. Sie beklagen, dass ihre Interessen von der nationalen Regierung zu wenig gesehen werden und leiten Selbstbestimmungsrechte aus regionalen Eigenheiten ab. Wenn die Mehrheit eines Landesteils demokratisch mehr Rechte einfordert, muss dies die Zentralregierung zwar zu einem Entgegenkommen veranlassen, allerdings ist – außer zum Beispiel im Fall kolonialer Unterdrückung – eine Sezession laut UNO-Charta ohne Einverständnis des zurückbleibenden Staates illegitim. In jedem Fall wird die Verantwortung der Zentralregierung und letztlich auch der EU gerade auch für die ärmeren Regionen deutlich. Dieser und andere Aspekte sozialer und wirtschaftlicher Verantwortung werden von engagierten EuropäerInnen vertreten, die in einem Europa der Regionen eine demokratische Vision sehen. Ihnen geht es bei Europa nicht um Einheit, sondern um Einigung und Solidarität.23

So fordern beispielsweise Vertreter von Attac ein „Europa der Menschen und der Regionen statt eines Europa der Konzerne und Finanzmärkte sowie der nationalen Egoismen“24 . Für eine solche „Neugründung Europas von unten“ hält man eine Wiederbelebung des bereits gültigen Subsidiaritätsprinzips als Schutz vor einem übermächtigen und lobbyhörigen Zentralstaat für notwendig. Angesichts der Vorgaben, Rechtsnormen und Wettbewerbsregeln sollten die Kommunen als örtliche und regionale Gemeinschaften bei der Vergabe von Finanzmitteln ihre demokratischen Rechte energisch und kreativ wahrnehmen.

Das schlägt auch die Politologin Ulrike Guérot vor und macht sich für eine europäische Republik stark, in der die Regionen deutlich aufgewertet werden.25 Sie plädiert für eine Art zweite Kammer, ähnlich dem Bundesrat oder dem Senat in anderen Staaten. In einem solchen Repräsentantenhaus würden die Regionen und ihre Befindlichkeiten neben dem europäischen Parlament mehr als bisher Berücksichtigung finden. Nach ihrer Meinung könnte damit auch mehr Bürgernähe jenseits von Nationen hergestellt werden. Letztere hätten quasi ausgedient, nachdem sie lange versuchten, Wohlstand und Sicherheit zumindest für einen großen Teil ihrer Einwohner zu gewährleisten.

Diese Ideen von einem Europa der Regionen werden aber auch als „ein schöner ferner Polarstern“ infrage gestellt. Im Unterschied zu den Vorstellungen Guérots von einer europäischen Republik muss man nach Meinung von Mathias Greffrath von der Realität ausgehen, dass der Nationalstaat nach wie vor gebraucht wird, solange es keine europäische Sozialunion gibt und kein finanzieller Ausgleich zwischen den Regionen unterschiedlicher Produktivität besteht.26 Da es bisher kein europäisches Arbeitsrecht gibt, würden überall in Europa Arbeitsverhältnisse dereguliert und prekäre Beschäftigungen zur Regel.

Zusammen mit der Vision von einem Europa der Regionen werden heute schon und müssen weiter intensiv folgende Fragenkomplexe diskutiert werden: Welche Elemente direkter Demokratie sind analog zu Bürgerbefragung und Bürgerentscheid auf der Ebene der EU möglich? Welche Impulse und Dilemmata ergeben sich mit dem Eintreten für ein Europa der Regionen aus der aktuellen Debatte um „Heimat“? Wie könnte eine Umorientierung der Landwirtschaft und der enormen (jährlich fast 60 Milliarden Euro) Agrarsubventionen gelingen, die statt wie bisher vor allem Großbetriebe in viel stärkerem Maße als kleinere und biologisch arbeitende Betriebe fördert und die Bedingungen für eine regionalere Vermarktung begünstigt? Müsste in Dritte-Welt-Ländern nicht eine selbstversorgende Landwirtschaft in subsidiärer Weise gestützt werden, anstatt etwa afrikanische Länder mit fragwürdigen Gegenleistungen (vgl. das EPA-Abkommen) dazu zu verleiten, ihre Märkte um bis zu 83 Prozent für europäische Importe zu öffnen?

Um all diese Fragen in demokratischer Weise bearbeiten zu können und die Bürgerinnen und Bürger dabei mehr zu beteiligen, ist es als erstes notwendig, dass das Europäische Parlament gestärkt wird. Die gewählten EU-Parlamentarier müssen das Initiativrecht und das Steuerrecht erhalten und endlich über den EU-Haushalt entscheiden können.

Subsidien für ein zukunftsfähiges Europa

Angesichts der kritischen Lage, in der sich die EU derzeit befindet, ist es notwendig ihr jede Form von Hilfe, Unterstützung und Beistand (lat. Subsidium) zu geben, mit der diese Union ein friedliches und gutes Zusammenleben in zunehmendem Maße gewährleisten kann. Diesen Frieden gewinnt die EU aber gewiss nicht dadurch, dass sie – wie das der Entwurf des Haushaltes 2021 bis 2027 plant – die Mittel für Rüstungsförderung massiv aufstockt, anstatt mehr in zivile Krisenprävention und Friedensförderung zu investieren, wie das unter anderen Pax Christi fordert.

Europa, dieses Modell einer sich entwickelnden supranationalen Demokratie, mit Leben zu füllen, dazu sind nicht nur die Volksvertreter, sondern alle gefordert: die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die Kräfte der Zivilgesellschaft in allen Ländern, Regionen, Städten und Kommunen. Um das gemeinsame europäische Schicksal zu teilen, bedarf es eines über die nationalen Grenzen hinausreichenden Bewusstseins. Es geht darum, Europa demokratischer und sozialer zu machen und den Klimawandel und das Artensterben gemeinsam zu bekämpfen. Gestaltungswillen und Mut sind gefordert; nicht zuletzt gegen international agierende Konzerne, wenn es zum Beispiel darum geht, eine europäische Steuer auf Finanztransaktionen durchzusetzen und Mindeststeuerregeln für Digitalunternehmen, um Steuerdumping zu beenden. Dass in der Umwelt-, Klima- und Verkehrsgesetzgebung von der EU-Kommission bereits einiges erreicht worden ist, gibt Ansporn auf dem Weg zu einer europäischen Energiewende.

Solange eine demokratisch legitimierte Wirtschaftsregierung noch in weiter Ferne liegt, muss mit Friedhelm Hengsbach davon ausgegangen werden, dass vorerst nur eine koordinierte Politik der Mitgliedsländer realistisch ist, die ein umweltverträgliches Wirtschaftswachstum, eine faire Verteilung der Einkommen und Vermögen, einen hohen Beschäftigungsgrad und Stabilität des Güterpreisniveaus sowie ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht anstrebt.27

Gleichzeitig müssen Initiativen ergriffen und gefördert werden, die eine demokratisch legitimierte wirtschaftliche und politische Weichenstellung auch regional und lokal voranbringen, die sich jetzt schon an den Zielen einer Gemeinwohl-Ökonomie28 orientieren. Eine solche Wirtschaftsweise hat schließlich sogar der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss 2015 mit 86% der Ausschussmitglieder empfohlen. Als Ziel wird in diesem Beschluss „der Wandel hin zu einer europäischen ethischen Marktwirtschaft“ genannt.29 Was das Gemeinwohl konkret ausmacht, steht zwar nicht von vornherein fest und muss von der Zivilgesellschaft und den am Wirtschaftsprozess Beteiligten jeweils ausgehandelt werden; letztlich ist dies die bleibende Aufgabe aller EuropäerInnen.

Ob die in den europäischen Institutionen tätigen PolitikerInnen das verlorene Vertrauen der BürgerInnen zurückgewinnen können, wird davon abhängen, ob sie die schon so oft versprochene Intensivierung der Zusammenarbeit mit Ländern, Regionen, Städten und Gemeinden „im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip“ tatsächlich verwirklichen. Der Lackmustest dafür wird sein, ob sie beide Komponenten des Subsidiaritätsprinzips gemeinsam und angemessen zur Geltung bringen.

Mit dem Entzugsverbot können in der Tat Zuständigkeiten abgewehrt werden, die sich die EU anmaßt. Damit lassen sich aber nicht Brüsseler Beschlüsse beliebig zurückweisen und erst recht keine marktradikalen Deregulierungs-Forderungen gegenüber staatlicher Gemeinwohl-Gesetzgebung rechtfertigen. Vor allem aber können mit dem Entzugsverbot die Regionen und Gemeinden darin gestärkt werden, sich eigenverantwortlich zu entfalten und konsultative Beteiligungen einzufordern.

Das Assistenzgebot, die solidarische Komponente des Subsidiaritätsprinzips, muss wesentlich stärker als bisher zur Kenntnis genommen und mit konkreten strukturellen und praktischen Weichenstellungen zur Anwendung gebracht werden. Regionen, Städte und Gemeinden müssen die Hilfe erhalten, die sie zu eigenständigem, selbsthilfe- und gemeinwohlorientiertem Handeln befähigt. Das Assistenzgebot bedeutet nicht zuletzt auch, dass es eine Hilfe sein muss, die vor allem denjenigen zugute kommt und sie ermutigt, die bisher in verschiedener Hinsicht von den Programmen der Europäischen Gemeinschaft ausgeschlossen oder benachteiligt wurden.

In der gegenwärtigen Entscheidungssituation gilt für Europa in besonderer Weise: „Eine gerechte Gesellschaft baut auf den beiden sich ergänzenden Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität auf.“30

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