Antisemitismus

Die Hoffnung, dass Judenfeindschaft und antisemitisches Gedankengut nach Auschwitz keine Resonanz mehr in der deutschen Gesellschaft finden würden, hat sich heute als Trugschluss erwiesen - wie zuletzt auch der Angriff in Halle zeigte. In Deutschland nehmen antisemitische Gewalttaten seit einigen Jahren stetig zu, und öffentliche Debatten zeigen, dass die Ablehnung „der Juden“ noch immer tief in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt ist. Im Lauf der Geschichte hat sich der Antisemitismus als enorm wandlungsfähig erwiesen. Auch das Christentum ist an seiner Entstehung nicht unbeteiligt.

Jüdisches Gotteshaus unter Polizeischutz
Jüdisches Gotteshaus unter Polizeischutz© KNA-Bild

Definition

Als Antisemitismus bezeichnet man heute die pauschale Ablehnung alles Jüdischen. Darunter werden auch alle Formen von Ressentiments, Judenhass und Judenfeindlichkeit gefasst. Antisemiten unterstellen „den Juden“ durchweg negative Eigenschaften und rechtfertigen damit ihre Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung bis hin zur Vernichtung jüdischer Minderheiten. Das Judentum wird in dieser Sicht von einer Religion zu einer Rasse umgedeutet. Als Semiten bezeichnete man – vor allem in Abgrenzung zu „Ariern“ - seit dem 18. Jahrhundert Völker, die eine semitische Sprache sprechen. Dazu gehören unter anderem Hebräisch, Arabisch und Aramäisch. Der Begriff Antijudaismus wird dagegen vor allem dann verwendet, wenn sich die Ablehnung mit der jüdischen Religion und ihren Ritualen begründet.

Entstehung und Ursachen

Woher der Antisemitismus kommt, lässt sich nicht eindeutig klären. Es scheint, als bräuchte der Mensch einen Sündenbock, dem er die Schuld an seinem empfundenen Elend geben kann. Dazu eignen sich Gruppen, die „anders“ und „fremd“ sind, am besten. Juden stellen bis heute meist eine Minderheit dar, die sich durch ihre religiösen Traditionen von den christlich oder muslimisch geprägten Gesellschaften unterscheidet. In den allermeisten Fällen findet die Ablehnung der Juden ihre Ursache jedoch nicht in ihrem Glauben. Der moderne Antisemitismus wird heute in erster Linie von diffusen Zukunftsängsten und Sozialneid getragen.

Michael Blume, der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte, erklärte in einem Gespräch mit Journalisten, Antisemitismus funktioniere einerseits wie jeder andere Rassismus, indem er einer bestimmten Gruppe vermeintliche Negativ-Eigenschaften zuschreibe. Seinen besonders gefährlichen Charakter bekomme der Antisemitismus jedoch durch die Behauptung einer Weltverschwörung und durch den Wunsch, alle angeblich Beteiligten zu vertreiben oder gar zu vernichten. Dieser Gedanke einer jüdischen Weltverschwörung existierte schon in den antiken Gesellschaften der Ägypter, Griechen und Römer und ist heute der bekannteste und wirkmächtigste Verschwörungsmythos.

Antisemiten schrieben alles, was ihrer Meinung nach in der Gesellschaft falsch läuft, bösen weltbeherrschenden Mächten zu, so Blume. Vor diesen Mächten fühlen sich Antisemiten hilflos und bedroht. Solche Zukunftsängste seien keine Frage der Bildung. Als Schuldige machen diese Menschen schnell die Juden aus. Eine logische Begründung dafür gibt es nicht: „Das weiß man doch.“ Es ist daher kaum möglich, Antisemiten mit rationalen Erklärungen zu erreichen.

Warum gerade den Juden mit so viel Ablehnung begegnet wird, begründet Blume mit ihrer traditionell überdurchschnittlichen Bildung. Sie waren die ersten, die aus religiösen Gründen die Alphabetisierung vorantrieben. Das Judentum ist die älteste Schriftreligion. Die jüdischen Bräuche forderten, dass Männer lesen und schreiben konnten und sich mit den heiligen Schriften auseinandersetzten. Vielfach nutzten Menschen jüdischen Glaubens in späteren Jahrhunderten die Aufstiegschancen, die sich ihnen aufgrund ihrer Bildung boten.

Antisemitismus gibt es auch in Regionen, in denen keine Juden leben. Je weniger eine Gesellschaft mit Juden in Kontakt komme, desto einflussreicher werden die Mythen, die man über sie erzählt, betont Michael Blume. Die „International Holocaust Remembrance Alliance“ geht davon aus, dass sich Antisemitismus in Worten oder Taten gegen jüdische und nichtjüdische Menschen manifestieren kann. Er könne sich mit jeder anderen Form der Menschenverachtung verbinden und bedrohe daher nicht nur Menschen jüdischen Glaubens. Die IS-Ideologen etwa beschuldigten Jesiden und andere nicht-jüdische Minderheiten, sie seien Teil dieser Weltverschwörung und rechtfertigten damit Vertreibung und Massenmorde, so Blume. „Antisemitismus zerstört Gesellschaften, auch solche, die keine Juden haben.“

Antijudaismus in der Bibel

Daran, dass die Juden als Verschwörer wahrgenommen werden, ist die christliche Theologie nicht unschuldig. Im Neuen Testament, das auch in der Auseinandersetzung mit dem Judentum seiner Zeit entstanden ist, finden sich manche Aussagen, die eindeutig gegen die Juden gerichtet sind. So wird der jüdische Anteil an der Verurteilung und Hinrichtung Jesu in den Evangelien besonders betont, die Rolle der römischen Herrscher aber heruntergespielt. Zudem werden jüdische Schriftgelehrte meist als geldgierige Heuchler und entschiedene Gegner Jesu beschrieben. Im Brief an die Thessalonicher macht sich Paulus verschiedene Vorwürfe zu Eigen: Die Juden „haben Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen“ (1 Thess 2,15 f. )

Selbst der Bund, den Gott mit seinem Volk im Alten Testament schloss, lässt sich in einigen Stellen des Neuen Testaments als gekündigt deuten. Im Hebräerbrief heißt es, Gott habe einen neuen Bund – mit den Christen – geschlossen und den bisherigen – mit den Juden – für veraltet erklärt. Die Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas erzählen in einem Gleichnis von Winzern, die dem Besitzer des Weinbergs seinen Anteil nicht auszahlen wollen. „Was wird nun der Besitzer des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Winzer vernichten und den Weinberg anderen geben“ (Mk 12, 9). Unter Theologen besteht heute noch keine völlige Einigkeit über die sogenannte Substitutionstheorie, wonach die Kirche an die Stelle des Volkes Israel getreten sei.

Judenfeindschaft bei Martin Luther

Gerade im Mittelalter war das Verhältnis der Bevölkerung zu den jüdischen Gemeinden stark von solchen biblisch begründeten Antijudaismen geprägt. So ist es wenig überraschend, dass sich dieses Denken auch bei Martin Luther findet. Im Zentrum seiner Theologie stand die Gnade Gottes, der den Menschen die Sünden vergibt. Der Mensch kann dazu keinen eigenen Beitrag leisten. Das Judentum band in den Augen des Reformators das Heil der Menschen an das Befolgen von Gesetzen und gefährdete dadurch den wahren Glauben.

Zu Beginn der Reformation stand für Luther noch die Judenmission im Vordergrund. Schlussendlich entwickelte er sich jedoch zum absoluten Gegner der Juden und leistete mit seinen teils brutalen Worten einer Verfolgung Vorschub, indem er die Fürsten dazu aufrief, jüdische Gottesdienste zu verbieten, oder die Juden gar aus den evangelischen Ländern zu verjagen.

Ohne Frage hat Luthers Antijudaismus das protestantische Denken über lange Zeit hinweg wesentlich beeinflusst. Luthers harsche Ablehnung der Juden und der christliche Antijudaismus beider Konfessionen waren für die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten sicherlich nicht ursächlich, führten aber zweifelsohne zu einem Schweigen vieler Christen angesichts der Gräueltaten.

Antijudaismus in der Kirche

Erst nach dem Holocaust habe die westliche Welt das Judentum als gleichwertige Religion anerkannt, schreibt Walter Homolka in dem Buch „Christologie auf dem Prüfstand“, das er gemeinsam mit Magnus Striet verfasst hat (Herder 2019). Mit diesem Umdenken sei der Weg für einen konstruktiven theologischen Dialog frei geworden. In der katholischen Kirche nimmt dabei die Anerkennung der Religionsfreiheit in den sechziger Jahren durch das Zweite Vatikanische Konzil einen besonderen Stellenwert ein. Damals setzte sich die Überzeugung durch, dass auch andere Religionen im Besitz gültiger Wahrheit sein können.

Frei von Störungen war das Verhältnis des Vatikans zu den jüdischen Gemeinden jedoch auch nach 1945 nicht. 2008 änderte der damalige Papst Benedikt XVI. – der auch heute noch mit manchen Äußerungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis irritiert – die „Karfreitagsfürbitte für die Juden“ im lateinischen Ritus. Der neue Text erweckt den Eindruck, als sei die katholische Kirche zur Judenmission zurückgekehrt. Dort heißt es, Gott solle die Herzen der Juden erleuchten, damit sie Jesus Christus erkennen.

Auch für die evangelischen Kirchen in Deutschland ist die Frage nach der Judenmission ein wiederkehrendes Thema. Zwar hatte sie antijudaistischem Gedankengut schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Absage erteilt. Erst im Jahr 2016 hat sich die Synode der EKD jedoch offiziell von der Judenmission abgewandt, da Christen nicht berufen seien, Israel den Weg zum Heil zu weisen. Lange scheute man sich auch, den Antijudaismus Luthers genauer in den Blick zu nehmen. In den letzten Jahren, vor allem im Umfeld des Reformationsjubiläums, hat hier ein jedoch ein Umdenken stattgefunden, und die evangelischen Kirchen haben sich klar von Luthers Schmähungen der Juden distanziert.

Gegen die aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus haben Vertreter beider Konfessionen immer wieder eindeutig Stellung bezogen. Auch in der Theologie findet zunehmend eine Aufarbeitung des Antijudaismus statt, selbst wenn die alten Denkmuster noch immer nicht überwunden sind – was beispielsweise die Kontroverse um einen Aufsatz des Berliner Theologen Notger Slenczka zeigt, der in einem Artikel die Position vertreten habe, das Alte Testament solle für die Kirche keine normative Geltung mehr haben. In dem Maße, in dem jüdische Theologen sich dem historischen Jesus näherten, akzeptierten christliche Theologen, dass Jesus in erster Linie Jude war. Trotz mancher Rückschläge und Irritationen gibt es heute einen lebendigen Dialog zwischen Christen und Juden und den Willen, antijudaistische Vorurteile abzulegen. „Unsere Hoffnung: Aus dem jüdisch-christlichen Gespräch möge ein religiös begründeter Widerstand gegen den Antisemitismus erwachsen“, schreiben Walter Homolka und Magnus Striet in der Einleitung zu ihrem Buch „Christologie auf dem Prüfstand“.

Geschichte

Wie wirkmächtig religiöse Überzeugungen sein können, zeigt sich in der Geschichte des Antisemitismus. Juden sahen sich die meiste Zeit Anfeindungen durch die Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. In etwa zu der Zeit, als die Kirche in den modernen Gesellschaften an Deutungshoheit verlor, lieferten die Rassentheoretiker neue Begründungen. Heute können sich Antisemiten im Internet schnell mit Gleichgesinnten vernetzen.

Antike

Um Christi Geburt gab es weltweit rund acht Millionen Juden, die meisten davon in Judäa, Babylonien, Ägypten, Syrien und Kleinasien. Spätestens mit der Umwandlung des jüdischen Königreichs in eine römische Provinz und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. zerstreuten sich die Juden. Historische Quellen belegen, dass es schon in der Antike vereinzelt zu Feindseligkeiten gegenüber dem jüdischen Volk kam. In den Schriften dieser Epoche finden sich Vorurteile, die sich bis heute gehalten haben. Zeitgenössische Polemiken verunglimpften etwa die jüdischen Speiseverbote oder das Verbot der Ehe mit Nichtjuden als Ausdruck des hochmütigen Wunsches, mit anderen Völkern nichts zu tun haben zu wollen.

Bereits in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gab es Spannungen zwischen Juden und Urchristen, die sich verschärften, als das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich aufstieg. Der Konflikt entzündete sich an der Frage, ob Jesus der verheißene Christus war oder nicht. Die Juden wurden ihrer vermeintlichen Blindheit wegen ausgegrenzt, aber nicht vernichtet. Aus christlicher Sicht würden sie am Ende der Heilsgeschichte bekehrt werden.

Im Mittelalter

War es schon in der Spätantike zu vereinzelten gewalttätigen Übergriffen von Christen auf Juden gekommen, verwüsteten religiöse Eiferer im Gefolge der Kreuzzüge Zentren jüdischer Gelehrsamkeit. In den mittelalterlichen Städten mussten die Juden abgeschieden in eigenen Vierteln leben, den sogenannten Gettos. Meist waren sie verpflichtet, sich durch ihre Kleidung als Juden zu erkennen zu geben. Viele Berufszweige waren ihnen verboten, daher waren etliche Juden im Handel oder dem Geldverleih tätig. Das begründete das Vorurteil des jüdischen Wucherers.

Im Mittelalter war der Antisemitismus nicht länger ein Phänomen theologischer Kreise sondern fand Eingang in die Volksfrömmigkeit der breiten Masse. Gegen Ende des Mittelalters spielte daher der Aberglaube bei der Judenfeindschaft eine immer größere Rolle. Während der Pestepidemien wurden ganze jüdische Gemeinden vernichtet, weil man ihnen unterstellte, sie hätten Brunnen vergiftet und so die Krankheit hervorgerufen. Zudem begann man, die Juden nicht mehr wegen ihres religiösen Bekenntnisses abzulehnen, sondern vor allem wegen ihrer Herkunft. Das zeigt die „Judensau“ sehr deutlich, die an den Fassaden einiger Kirchen angebracht wurde. Die Juden werden hierbei als Artverwandte der Schweine dargestellt. Der Gedanke der Erlösung für die Juden am Ende der Zeit verschwand ebenfalls.

Moderner Antisemitismus

Das 19. Jahrhundert brachte mit seinen fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen nicht die erhofften Freiheiten für die jüdischen Gemeinden, sondern nur einen Wandel des Antisemitismus. „Die Juden“ wurden zur Metapher für alle Fehlentwicklungen der Modernisierung, wie Industrialisierung und Säkularisierung. Der Nationalismus dieser Zeit ernannte die Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Die“ zur entscheidenden Bezugsgröße. Die Juden wurden schnell als ein Element ausgemacht, dass sich nicht in die nationale Ordnung einsortieren ließ.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begründeten die führenden Antisemiten ihre Judenfeindschaft mit den aufkommenden Rassetheorien. Die Juden wurden als Rasse verstanden, der alle schlechten Eigenschaften zugeschrieben wurden. Mit Hitlers Machtergreifung wurde der Antisemitismus Teil der staatlichen Politik. Menschen jüdischer Herkunft wurden aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Das Ziel war die Vernichtung aller europäischen Juden. In den Konzentrationslagern wurden sechs Millionen Juden ermordet. Viele Überlebende verließen Europa.

Gegenwart

Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gingen schon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs davon aus, dass es nach Auschwitz nicht mehr möglich sein werde, sich offen zum Antisemitismus zu bekennen. Zugleich betonten sie aber auch, das werde nicht das Ende antisemitischer Ideen bedeuten. Der Hass auf Juden, die Suche nach einem Schuldigen für das eigene Elend, würde sich nur neue Wege suchen. Statistiken und Umfragen belegen jedoch, dass judenfeindliches Gedankengut keineswegs der Vergangenheit angehört.

Antisemitismus in Deutschland heute

Die große Mehrheit der Deutschen schätzt die Verbreitung antisemitischer Einstellungen als gering ein, beobachtet der „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ des Innenministeriums 2017 in seinem Bericht an den Bundestag. Die jüdische Bevölkerung in Europa sieht das anders. Einer Umfrage der europäischen Grundrechteagentur zufolge nimmt der Antisemitismus in der Wahrnehmung der europäischen Juden zu. 2012 haben 68 Prozent der Befragten jüdischen Glaubens eine Zunahme wahrgenommen, 2018 waren es schon 89 Prozent. Im Jahr 2018 erklärten 52 Prozent der Jüdinnen und Juden, innerhalb der letzten fünf Jahre antisemitische Vorfälle erlebt zu haben.

Der „Ton gegenüber Minderheiten und ‚Fremden‘ ist insgesamt rauer geworden und verunsichert so auch die jüdische Minderheit“, stellte der Expertenkreis in seinem Bericht fest. Auch die Straftaten mit einem antisemitischen Hintergrund steigen seit 2016 kontinuierlich an. Gewalttaten mit einem judenfeindlichen Motiv nahmen von 2017 auf 2018 um fast sechzig Prozent zu, erklärte die Bundesregierung.

Antisemitische Einstellungen seien in der Geschichte der Bundesrepublik nie nur ein Phänomen kleiner Randgruppen gewesen, sondern sind bis heute weit in die Mitte der Gesellschaft hinein anzutreffen. Es gebe noch immer „latent vorhandene, kulturell tief verwurzelte Ressentiments“, die jederzeit wieder aktiviert werden können, so der Bericht. „Im historischen Vergleich...“ sei der „offene Antisemitismus gesamtgesellschaftlich wohl selten so sehr an den Rand gedrängt“ gewesen „wie heute“, konstatierte der Expertenkreis in seinem Bericht. Moderne Facetten wie der Wunsch nach einem „Schlussstrich“ oder der israelbezogene Antisemitismus seien „in der breiten Bevölkerung nach wie vor weit verbreitet“.

Es gebe die „Judenfeindschaft im Alltag“, antisemitische Pöbeleien bis hin zu Gewalt Einzelner gegen Juden, erklärte auch der Historiker Wolfgang Benz in der Herder Korrespondenz (1/2019). „Aber das ist nicht die Regel in Deutschland und es wird streng geahndet. Es gibt aber auch Irritationen und Missverständnisse, die als Ausdruck von Antisemitismus verstanden werden.“ Dazu gehört für den Historiker etwa die Debatte um Beschneidung, die ein Urteil des Kölner Landgerichts im Sommer 2012 ausgelöst hatte. Umfragen der Universität Leipzig haben ergeben, dass der manifeste Antisemitismus in Ostdeutschland leicht gestiegen ist, in Westdeutschland dagegen leicht gesunken. Beide Werte liegen seit langem konstant bei rund fünf Prozent. Deutlich verändert habe sich jedoch die Einstellung der Deutschen gegenüber Ausländern. Mehr als ein Drittel hält das Land für überfremdet, mehr als 44 Prozent möchten Muslimen den Zuzug untersagen.

Der Antisemitismus hat sich immer an die verschiedensten Umstände und Denkmuster angepasst. Der Expertenkreis stellte fest, dass in den 90er Jahren Auseinandersetzungen mit Antisemitismus vor allem im Kontext der nationalsozialistischen Vergangenheit stattfand. Heute, in Deutschland seit 2002, rücke ein israelbezogener Antisemitismus in den Mittelpunkt, der immer dann eine Hochphase erlebe, wenn der Nahostkonflikt erneut eskaliere. Mit dieser Welle des „neuen“ Antisemitismus und der verstärkten Zuwanderung seit 2015 rückten judenfeindliche Einstellungen bei Migranten aus muslimisch geprägten Ländern stärker in den Fokus. Es scheint, als haben Geflüchtete aus dem nahe und mittleren Osten ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große Wissenslücken. Zudem spielt hier der Nahostkonflikt eine gewisse Rolle, da in den Heimatländern Israel mit einer klaren Täterzuschreibung präsent ist, so der Bericht. Bei aller Fokussierung auf die Migranten gerate jedoch die nach wie vor zentrale Tätergruppe der extremen Rechten etwas zu sehr aus dem Blick, bedauern die Experten.

Antisemitismus im Internet

Die medialen Debatten, die in Deutschland in regelmäßigen Abständen aufflammen erwecken den Anschein, die Gesellschaft würde immer antisemitischer. Aber lehnen wirklich immer mehr Menschen in Deutschland Juden pauschal ab, oder werden die Antisemiten nur lauter?

Eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung eines ansteigenden Antisemitismus spielt die zunehmende Hasskommunikation im Internet. „Antisemitismus hat in der Vergangenheit immer dann zugenommen, wenn neue Medien wie der Buchdruck oder Radio und Fernsehen aufkamen“, erklärte Michael Blume. Heute seien es die digitalen Medien, die Politik und Gesellschaft erschüttern. Im Internet finden Menschen schnell Gleichgesinnte und landen in „Echokammern“. Weil die Algorithmen der Suchmaschinen und sozialen Netzwerke bevorzugt Beiträge ausspielen, die die Interessen der jeweiligen Nutzer wiederspiegeln, verstärkt sich der Eindruck, dass die eigene Meinung von vielen Menschen geteilt wird. Dieses Gefühl der Masse und die Anonymität begünstigen zudem eine Radikalisierung. „Der Hass auf Juden radikalisiert sich im Internet und breitet sich erst dann auf der Straße aus“, so Blume. Der Anteil der Antisemiten in der Bevölkerung bleibe in etwa gleich, aber diejenigen, die ein judenfeindliches Gedankengut hegen, werden radikaler.

Wer sich bereits in derart abgeschlossenen Gruppen bewegt, lässt sich kaum noch erreichen. Daher gilt es, antisemitistischem Gedankengut möglichst früh entgegenzutreten und Räume für die Begegnung mit jüdischem Leben zu schaffen. „Wenn es ein Mittel gegen Antisemitismus gibt, dann Bildung“, erklärte Blume 2019 im Interview mit dem Freiburger Konradsblatt.

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