Urknall, Höllenlärm und himmlische Ruhe

Fiese Geräusche kennt jeder. Man muss nicht gleich an den Bohrer beim Zahn­arzt denken, an das Sirren von Mücken in einer heißen Sommernacht, den Laub­bläser des Hobbygärtners zur Mittagszeit. Wie schön, wenn das aufhört: Wohl­tuende Stille.

Schon in der Sprache merkt man: Stille ist einfach. Es gibt nur einen Begriff dafür. Lärm dagegen hat schier unerschöpfliche Qualitäten: Krachen, Knallen, Poltern, Schreien, Dröhnen, Gerassel, Getöse, Krawall, Rabatz, Rummel… Das Unheilvolle drückt sich auch sprachlich aus: „Heidenlärm“. „Höllenspektakel“. „Himmlische Ruhe“ ist der andere Pol. Ein Sehnsuchtswort.

Natürlich ist eine Welt ohne Geräusche nicht vorstellbar. Mit dem „Urknall“, sagt man, begann die Geschichte des Kosmos. Und im Lauf der Evolution waren auch Menschen immer auf Geräusche angewiesen, um zu überleben, sich zu orientie­ren. Eine absolute, künstliche Stille, wie sie in schalldichten Labors erzeugt wird, würden wir auf Dauer nicht ertragen. Gar nichts mehr zu hören, macht Angst.

Und natürlich kommt es immer auch auf die subjektive Einstellung an. Fröhlich und aus lauter Lebenslust lärmende Kinder können sich anhören wie Vogelge­zwitscher. Und es ist überliefert, dass der Komponist Hugo Wolf bei einem Land­aufenthalt über „das Brüllen der Nachtigallen“ klagte. Aber jenseits subjektiver Einstellungen: Lärm ist heutzutage normal und allgegenwärtig.

Rund fünf Millionen Arbeitnehmer in Deutschland sind einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge am Arbeitsplatz gehörgefährdendem Lärm ausgesetzt. Der ganze Mensch, Herz, Kreislauf, Gehirn, ist von Lärm in Mitleidenschaft gezogen. Nahezu alle Deutschen, 80 Prozent, sind in irgendeiner Weise von Lärm betroffen. Noch in der Toilette (früher „stilles Örtchen“ genannt) eines Restaurants wird man beschallt. Vom Gedudel in Kaufhallen zur „staden Zeit“ ganz zu schweigen. Ständig wird unsere Aufmerksamkeit traktiert, mit aufreizenden oder einlullenden Impulsen, die uns in Trance halten und glauben machen wollen, unsere Sehnsucht werde durch den Kauf­rausch am besten, schnellsten und unmittelbarsten befriedigt.

Stille ist heute die Ausnahme. Das macht sie kostbar. Dabei ist sie nicht nur ein Luxus Privilegierter. Hören wir über­haupt noch ihren vielfältigen Klang: die Morgenstille, die Stille der Nacht, des Mittags, Windstille? Wie intensiv kann die Stille nach einem Konzert sein, die Pause zwischen dem letzten Ton und dem Beifall! „Stille – der Ursprung jeder Musik“ (John Cage). Nicht nur Musik, auch das Wort, das gute Gespräch, das gute Miteinander kommt nicht aus ohne Stille. Übrigens auch Selbstbegegnung nicht.

Klöster sind heute Gegenwelten zur Unrast der Moder­ne. Mönche seien „Gärtner der Stille“, hat David Steindl- Rast gesagt, die ihre Früchte und Anleitungen hinterlassen haben. Vielleicht nehmen deswegen immer mehr Menschen hier eine Auszeit.

Philip Gröning, der für seinen Film „Die große Stille“ über das Leben der Kartäusermönche drei Monate im Schweige­kloster gelebt hatte, wurde gefragt: „Wie war es, als Sie wie­der in den Alltag zurückgekehrt sind?“ Seine Antwort: „Mir fiel es nach meinem Klosteraufenthalt richtig schwer, unse­re small-talk-basierte Welt ernst zu nehmen. Da habe ich mich derart gelangweilt und gedacht: Wenn die Leute schon reden, warum reden sie dann nicht wirklich?“

Gröning empfand hinter dem permanenten Geplapper, dem ständigen Rauschen und dem Lärmen etwas anderes: Angst. Und er hörte hinter dem ständigen Gerede ein Verschweigen des Wesentlichen.
Erstaunlich die Parallele mit einer Aussage von Friedrich Nietzsche (Schopenhauer als Erzieher): „Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde, und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit.“ Nietzsche spricht von dem „ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwa­chen zu grauen scheint …“

Still werden also, um aufzuwachen aus dieser Betäubung, die taub macht. Sich dem zu stellen, was man in sich selber spürt. Zu hören, was wir nicht mehr wahrnehmen, wenn es ständig laut um uns herum und in uns selber ist. Sich auf den Grund zu gehen. Aus solcher Stille kann dann etwas wachsen: Leben, Beziehung, Echtheit, Tiefe.
Lärm macht krank. Stille regeneriert, heilt, gibt neue Kraft. Und in der „großen Stille“ einen Vorgeschmack des Göttli­chen: himmlische Ruhe.

P.S. Lorenz Marti weist übrigens darauf hin, dass es beim so­genannten „Urknall“ noch keine Luft gab, welche den Schall verbreitet, und auch keine Ohren, welche die Schallwellen aufnehmen könnten: „So gesehen hat es am Anfang tatsäch­lich nicht geknallt, es war vielmehr absolut still. Ganz im Sinne Nietzsches: Die größten Ereignisse der Welt sind nicht die lautesten, sondern die stillsten.

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