Europa

Über Europa, über die politische Lage im europäischen Raum wird zur Zeit viel nachgedacht und diskutiert. Die Debatten stehen im Zeichen einer offenkundigen politischen Krise. Fragen werden aufgeworfen, die früher kaum gewagt wurden: Hat der Kontinent in einer Welt der Riesen – China, Indien, die USA, Russland – überhaupt noch Gewicht, ist er in einer globalen Welt noch wahrnehmbar? Ist Europa fähig zu eigenständigem Handeln – einem Handeln, das alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet? Bildet Europa für sie alle ein gemeinsames Vaterland – oder setzt es sich zusammen aus vielen einzelnen Vaterländern, die nur provisorisch miteinander in Kontakt sind? Werden die 28 Nationen der EU künftig in einem europäischen «Staatenverbund» aufgehen, oder stehen alle nur vereinzelt für sich selbst – und oft auch im Gegensatz zueinander?

Communio hat das Thema «Europa» seit jeher – wie könnte es anders sein! – nicht nur unter politischen, sondern auch unter religiösen Gesichtspunkten betrachtet. Dies lag umso näher, als die Europäische Gemeinschaft ihr Leben dem Anstoß katholischer Staatsmänner verdankt. Der Prozess der europäischen Einigung berührt auch die Religionsgemeinschaften. Zwar hat die Europäische Union keine Kompetenz, das Religionsrecht ihrer Mitgliedstaaten zu vereinheitlichen. Indirekt beeinflusst sie freilich dessen Entwicklung, und das in wachsendem Maß. So wirft zur Zeit die Rechtsprechung europäischer Gerichte die Frage auf, wie weit die Spielräume, die das deutsche Arbeitsrecht den Kirchen bietet, in künftigen europäischen Regelungen noch erhalten bleiben werden.

Aber das Problem reicht tiefer. Welchen Anteil haben religiöse Kräfte am Prozess der «Europäisierung Europas»? Ist der religiöse Einschlag im Gewebe des alten Kontinents noch spürbar, ist er im Verblassen, wird er wiederkommen? Wird es dabei bleiben, wie in den vergangenen Jahrzehnten, dass Europa zwar immer wieder seine Zukunft enthusiastisch beschwört, zugleich aber dazu neigt, seine Herkunft zu verneinen (Rémi Brague)?

Dieses Heft versucht – ähnlich wie schon im Jahr 2005 – den gegenwärtigen Zustand Europas und der Europapolitik zu beschreiben und zu erklären.

Nach Werner Weidenfeld ist Europa gegenwärtig in einer Legitimationskrise, in einer «strategischen Sprachlosigkeit». Gleichzeitig wächst jedoch nach seiner Meinung das Bedürfnis nach Perspektiven und Orientierungen. Welchen Sinn hat das Experiment Europa, wo liegt seine Zukunft, seine Finalität – diese Frage wird heute erstmals in der Integrationsgeschichte der Nachkriegszeit mit Nachdruck aufgeworfen. Das hat gewiss auch mit dem Generationswechsel zu tun, mit neuen politischen Perspektiven, mit dem Historisch-Werden alter Erfahrungen (Totalitarismus, Krieg), welche die europäische Bewegung in den fünfziger Jahren konstituierten und leiteten. Weidenfelds Fazit: «Europa braucht normative Horizonte.»

Hans Maier erinnert daran, dass die europäische Integration in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Handvoll alter katholischer Staatsmänner in Gang gebracht wurde, die ihre politische Sozialisation in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg erfahren hatten. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben «katholische Ideen» wie das Subsidiaritätsprinzip die Politik im europäischen Raum beeinflusst. Taugt dieser Anstoß noch in einer Zeit, in der sich vieles umzukehren scheint, in der katholische Länder wie Polen, Ungarn, Italien gemeinsame Antworten in Frage stellen, antieuropäische Akzente setzen (und ihrerseits vor europäischen Gerichten verklagt werden)?

Wolfgang Schäuble wirft einen realistischen Blick auf die gegenwärtige Europapolitik. Er sieht Europa als ein stetig zu reformierendes Gebilde – Europa semper reformanda. Europa sucht heute nach einer Balance zwischen Einheit und Vielheit, es ist in Bewegung – aber war es das nicht immer schon? Der Präsident des Deutschen Bundestages, ein bekennender Protestant, zieht Vergleiche mit der Reformation und anderen Aufbrüchen der Geschichte, er erinnert mit Dietrich Bonhoeffer an die Widerstandskraft, die Gott dem Menschen in Notlagen und schweren Krisen zukommen lässt. Wer Europa gestalten und die Europäische Union handlungsfähiger machen will, der «muss gleichzeitig die nationalen Eigenheiten, die Verschiedenheit akzeptieren und die Vielfalt der Blickwinkel und Meinungen respektieren – und nicht zuletzt auch religiöse Toleranz üben.» Dabei sollten sich die politischen Akteure der Vorläufigkeit, der Nicht-Endgültigkeit alles politischen Handelns bewusst sein – und damit einer Einsicht, die wir vor allem dem Christentum verdanken.

Ahmet Cavuldak macht in seinem Beitrag bewusst, dass sich die europäische Debatte heute nicht mehr allein, wie früher, zwischen dem Judentum und den drei christlichen Kirchen – Orthodoxie, Katholiken, Protestanten – abspielt. Mit fünfzehn Millionen Muslimen, die als Arbeitsmigranten und Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa gekommen sind, hat sich die seit jeher bestehende «Fernbeziehung» Europas zum Islam in eine «Nahbeziehung» verwandelt. Schwierige kulturelle und religionspolitische Anpassungsprozesse sind im Gang, die nach Ansicht des Verfassers durch einen «öffentlichen Reflexionsprozess begleitet und untermauert werden müssen, wenn die stumme Gewalt und Angst nicht das letzte Wort behalten sollen». Immerhin: Die Europäische Union als demokratisches Friedensprojekt fasziniert, wie Cavuldak feststellt, inzwischen auch viele Muslime in der Welt; «zuweilen träumen muslimische Politiker und Intellektuelle von einem ähnlichen Friedensprojekt für den Nahen Osten, sei es auch nur, um sich von den erdrückenden Realitäten und düsteren Aussichten zu erholen.»

Dass Europa keine festen Grenzen hat, dass es Konflikte gibt, vor allem im Osten, das macht der Beitrag von Hans Georg Mockel bewusst, der als Jurist bei der OSZE arbeitet. Der Verfasser kennzeichnet Entstehung, Ziele und Arbeitsweise der OSZE, die aus der «Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (KSZE) hervorging (diese beruhte ihrerseits auf der Schlussakte von Helsinki, die mit ihren Forderungen nach Menschenrechten und Grundfreiheiten die Wende von 1989/90 vorbereitete). Er schildert das Regelwerk, das die Institution für Rüstungskontrolle sowie vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen aufgebaut hat, ihre Hilfen beim Aufbau demokratischer Strukturen (u.a. durch Wahlbeobachtungen), bei der Gewährleistung von Minderheitenrechten und Medienfreiheit. Das europaweit bekannteste Engagement gilt der Ukraine: Diese wird seit 1999 von der OSZE bei Reformen für eine stabilie und demokratische Zukunft unterstützt. Nach dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts im Donbass wirkt die OSZE auch bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen (2014/15) mit (Waffenruhen, Gefangenenaustausch, Abzug der schweren Waffen, Eirichtung einer Sicherheitszone usw.).

Bernd Irlenborn setzt hinter seinen Beitrag «Europa als christliches Abendland» mit gutem Grund ein Fragezeichen. Während der Begriff «christliches Abendland» in den Anfängen der Europabewegung noch unangefochten die Diskussion beherrschte, droht er heute in den Bann rechtspopulistischer Strömungen abzugleiten. Irlenbaum plädiert dafür, auf den Begriff zu verzichten und die Geltung der Säkularität und das Faktum des weltanschaulichen Pluralismus in Europa anzuerkennen – das Christentum sei schließlich nicht auf einen geschichtlich sich wandelnden Projektionsraum einzuschränken. Das bedeute aber weder, «dass der christliche Glaube keine Bedeutung für die europäische Integration besäße, noch, dass Christen das Auf und Ab des europapolitischen Treibens bloß gleichgültig oder ‹entweltlicht› zur Kenntnis nehmen sollten. Christen können und sollten als Bürger die friedliche Integration Europas unterstützen und sich mit ihrem Glauben in das politische Gemeinwesen einbringen, um es in christlichem Sinne zu formen.»

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