Palliativmedizin und SterbehilfeDie Hilfen beim Sterben

Die Grenzen zwischen Palliativmedizin und Sterbehilfe verschwimmen. In einer pluralistischen Gesellschaft erwarten Menschen vom "Medizinsystem" auch spirituelle Hilfe.

Sterben und Tod sind keine Tabus mehr, über die allenfalls in der dunklen Jahreszeit um Allerseelen und Totensonntag geredet wird. So privat das Sterben für den Einzelnen auch ist, die Umstände, unter denen gestorben wird, werden zu einer öffentlichen Angelegenheit. Die Gründe liegen auf der Hand: Die schnelle Alterung der Gesellschaft lässt die Anzahl derer, die dem Sterben nahe sind, steigen. Der medizinische Fortschritt wiederum lässt uns zwar länger leben - aber auch länger sterben. Davor haben die meisten Angst.

Hier aber setzen nun all die Bemühungen ein, die Rahmenbedingungen des Sterbens neu zu bestimmen. Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen sollen die Selbstbestimmung an die Stelle der Fremdbestimmung durch den Medizinbetrieb setzen. Das Medizinsystem soll andererseits das Sterben palliativ, also schmerzlindernd, erleichtern - einschließlich einer spirituell-psychotherapeutischen Begleitung - oder es gar durch Beihilfe zur Selbsttötung verkürzen.

Palliativmedizin zielt auf Erleichterung des Sterbens insbesondere durch Schmerzbekämpfung, aber auch durch Linderung von Atemnot oder Übelkeit. Sie schließt auch die sogenannte indirekte Sterbehilfe und den gerechtfertigten Behandlungsabbruch („passive Sterbehilfe“) ein. „Indirekt“ bedeutet, man nimmt es in Kauf, dass eine schmerzlindernde oder bewusstseinsdämpfende Behandlung den Todeseintritt beschleunigt. Beim Behandlungsabbruch lässt man dem Sterben seinen Lauf, unterlässt also das, was landläufig als unsinnige Lebensverlängerung bezeichnet wird.

Geschäfte mit dem Tod?

Das alles ist legal - vorausgesetzt der Patient oder seine Angehörigen haben zugestimmt - und gilt als moralisch akzeptabel, auch seitens der Kirchen. Die Ärzte, die lange in der Sorge lebten, ihnen könnte unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen werden, beginnen umzudenken, nachdem die Rechtslage halbwegs geklärt scheint. Dennoch bleibt die Entscheidung für den Behandlungsabbruch im Einzelfall schwierig.

Noch schwerer zu handhaben ist die Beihilfe zur Selbsttötung, auch assistierter Suizid genannt. Dabei stellt ein Angehöriger oder anderer Helfer einem Sterbewilligen das tödliche Medikament bereit (um solche Fälle geht es durchweg), verabreicht es aber nicht. Diese assistierte Selbsttötung ist straffrei, aber umstritten. Und das nicht allein aus moralischen Bedenken, weil etwa der „Selbstmord“ aus religiösen Gründen abgelehnt wird, sondern wegen einer schwer durchschaubaren Gemengelage.

Die Grenze zwischen der Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen ist fließend. Das zeigte sich paradigmatisch bei den Ermittlungen gegen den früheren Hamburger Justizsenator Roger Kusch, der 2008 einer 79-jährigen Frau, die nicht ins Pflegeheim wollte, zum Tod verhalf. Der Verdacht, der Straftatbestand der Tötung auf Verlangen habe vorgelegen, konnte indes nicht erhärtet werden. Kusch wirbt seitdem mit Hilfe eines eigens gegründeten Vereins für die Sterbebeihilfe und bietet geeignete Dienstleistungen an. Er ist nicht allein.

Die Schweizerische Organisation „Dignitas“ bietet ebenfalls in Deutschland ihre Dienste an, während deren Konkurrent „Exit“ sich auf die Schweiz beschränkt; ähnlich eine holländische Stiftung, die ihre ambulanten Sterbehelferteams nur in den Niederlanden reisen lässt. Die Dienste der Sterbehelfer sind nicht umsonst. Das legt die Vermutung nahe, die organisierte Sterbehilfe werde gewerblich betrieben. Zumindest scheint die Grenze wiederum fließend zu sein: Wann wird aus Hilfe ein Geschäft?

Volk dafür - Ärzte dagegen

Die Bundesregierung hat im vergangenen Sommer einen Gesetzentwurf für einen neuen Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs auf den Weg gebracht, mit dem die „gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe gestellt werden soll. Der „Deutsche Ärztetag“ hatte im letzten Jahr sogar gefordert, jegliche organisierte Sterbehilfe zu unterbinden. Eine solche Forderung wiederum hielt das Bundesjustizministerium für zu weitgehend. Der Bundesrat ließ den Gesetzesentwurf trotz einiger Rechtsbedenken passieren. Bei einer Veranstaltung der Justizpressekonferenz neulich in Karlsruhe wurde allerdings deutlich, dass die Regierungskoalition das Projekt für diese Legislaturperiode aufgibt. Man könne sich nicht einigen, wie weit das Verbot tatsächlich gehen soll, sagte ein CDU-Vertreter bedauernd.

Freilich ist fraglich, ob ein neuer Paragraf 217 mit einem bloßen Verbot gewerblicher Sterbehilfe wirksam wäre. Das sollte in der nächsten Legislaturperiode, sollte es zu einem erneuten Gesetzesvorstoß kommen, bedacht werden. Denn die professionellen Sterbehelfer dürften alsbald Wege finden, den Tatbestand des Gewerbsmäßigen zu umgehen. Damit fielen sie nicht unter das Gesetz. Der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Karl Jüsten, befürchtet, das Tun der Sterbehelfer könnte mit einem solchen Gesetz ungewollt sogar legitimiert werden und „die Hilfe zum Selbstmord Schritt für Schritt zu einer normalen Dienstleistung“ werden. Eins zeigt die öffentliche Diskussion über das Gesetzesvorhaben schon jetzt: wie selbstverständlich heute über Selbsttötung - der Begriff „Selbstmord“ wird zunehmend vermieden - und die Beihilfe dazu gesprochen wird.

Nicht einmal die aktive Sterbehilfe ist gesellschaftlich noch tabuisiert. In zwei Allensbach-Umfragen haben sich 2008 und 2010 jeweils 58 Prozent der Befragten dafür ausgesprochen. Die Unterscheidung nach Konfessionen war minimal. 56 Prozent der Evangelischen äußerten sich positiv, exakt jeder zweite Katholik dachte ebenso. Zurückhaltender geben sich hingegen die Ärzte, die ja in erster Linie die Sterbehilfe zu leisten hätten. Das ergibt sich aus einer Umfrage, die das Allensbacher Institut 2010 im Auftrag der Bundesärztekammer durchführte. 78 Prozent der Mediziner lehnen demnach aktive Sterbehilfe rundweg ab. 17 Prozent wären dazu bereit, wenn es eine gesetzliche Regelung gäbe. Beihilfe zum Suizid würden 61 Prozent der Ärzte „auf keinen Fall“ leisten. 37 Prozent wären dazu jedoch bei hoffnungsloser Prognose und bei guter Kenntnis des Patienten bereit. Der vorformulierten Aussage „Schon aus religiösen Gründen verbietet es sich, einen Sui­zid zu unterstützen“ stimmen 44 Prozent zu. 57 Prozent befürchten negative Auswirkungen auf das ärztliche Selbstverständnis (immerhin 16 Prozent vermuten positive). 89 Prozent befürchten, Menschen könnten zum Suizid getrieben werden, weil sie sich als Belastung für Familie und Gesellschaft sehen.

Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, der beim Ärztetag 2012 maßgeblich dazu beigetragen hatte, das Ziel eines berufsrechtlichen Verbots der Suizidbeihilfe durchzusetzen, zweifelte später an diesem Verbot - aufgrund juristischer Unklarheiten. Es gehe ihm um die Frage, ob sich die Ärzteschaft strengere Grenzen auferlegen dürfe als die, die für die Allgemeinheit gelten.

Das ärztliche Berufsrecht beurteilt die Suizidbeihilfe nicht ganz eindeutig. Einerseits lehnte der Deutsche Ärztetag 2011 die ärztliche Beihilfe zum Suizid mit großer Mehrheit ab. In der Muster-Berufsordnung wurde unzweideutig formuliert: „Der Arzt hat dem Sterbenden unter Wahrung seiner Würde und Achtung seines Willens beizustehen. Es ist ihm verboten, einen Patienten auf dessen Verlangen zu töten. Er darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Andererseits haben bisher nur zehn Ärztekammern diese strenge Fassung in ihre Berufsordnungen übernommen und damit wirksam werden lassen, sieben hingegen nicht. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, gleichfalls aus dem Jahre 2011, lassen die Frage offen und sprechen davon, die Beihilfe zur Selbsttötung sei „keine ärztliche Aufgabe“.

Religiöse Begleitung auf Rezept?

Viele Ärzte sehen die Palliativmedizin als Alternative zur Sterbehilfe, andere eher als Vorstufe, da die Palliativtherapie „indirekt“ in Sterbehilfe übergehen kann. Gelegentlich ist auch zu hören, vertrauensvolle Palliativbehandlung könne in den assistierten Suizid münden. Bei der Allensbach-Umfrage 2010 sprachen sich 79 Prozent der Ärzte für den Ausbau der Palliativmedizin aus, aber nur 17 Prozent glauben, dass die Kapazitäten ausreichen. Offenbar reichen sie nicht, wie beim letzten Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin“ zu erfahren war.

1983 machte an der Kölner Chirurgischen Universitätsklinik die erste Palliativstation auf, eine Pioniertat des Chirurgen Heinz Pichlmaier, gefördert von der „Deutschen Krebshilfe“. Heute, knapp dreißig Jahre später gibt es in Deutschland rund 400 Palliativstationen und Hospize und 6500 Ärzte, die eine Zusatzbezeichnung „Palliativmedizin“ erworben haben. Doch werden viele der schwerstkranken und sterbenden Menschen von den Angeboten nicht erreicht, bedauert Montgomery. Von den durchschnittlich rund 850 000 Menschen, die jedes Jahr sterben, benötigen etwa 600 000 eine allgemeine Palliativversorgung, rechnet der Göttinger Palliativmediziner Friedemann Nauck. Große Lücken gibt es, einem Bericht des „Deutschen Ärzteblattes“ zufolge, vor allem in den allgemeinen Krankenhäusern, den stationären Pflegeeinrichtungen sowie in der ambulanten (haus-)ärztlichen wie pflegerischen Versorgung.

In den Blick der Palliativmediziner rückt zunehmend die spirituelle Begleitung der Todkranken, ausgehend von den USA. Das „New England Journal of Medicine“, eine der weltweit führenden Ärztezeitschriften, fragte schon 2000 provokativ: „Sollten Ärzte religiöse Begleitungen verschreiben?“ („Should physicians prescribe religious activities?“) Die Publikation begründete die Frage mit einem „wachsenden Interesse der Öffentlichkeit und den Ärzten an Religion im medizinischen Bereich“.

Dies schlägt sich in Deutschland in ­einem neuen Fachgebiet nieder. An der Ludwig-Maximilians-Universität München gibt es seit zweieinhalb Jahren einen eigenen Lehrstuhl für „spiritual care“, also für spirituelle Anteilnahme, Fürsorge, Pflege. Er ist mit dem Psychiater und Jesuiten Eckhard Frick sowie dem evangelischen Theologen Traugott Roser besetzt. Der Lehrstuhl gehört zum universitären „Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin“. Spiritual care ist keineswegs religions- oder gar konfessionell gebunden. Die Lehrstuhlinhaber betreiben keine Seelsorge im kirchlichen Sinne. An ihrem Lehrstuhl wurde ein strukturiertes Interview entwickelt, anhand dessen eine Art spiritueller Anamnese, also eine Vorgeschichte religiöser Entwicklung, erhoben werden kann. Frick und Roser schulen Mediziner und Angehörige anderer Gesundheitsberufe.

Auf einem Berliner Symposium des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer berichtete Frick von seiner Arbeit. Er riet den Ärzten, ihre sterbens- oder chronisch kranken Patienten auf spirituelle Fragen anzusprechen. Diese seien zwar zunächst überrascht, wenn der Arzt darauf zu sprechen komme, dann aber häufig dankbar. Die Ärzte seien auf spiritual care zwar nicht vorbereitet, sollten sich darauf aber einstellen. Im klinischen Bereich werde die spirituelle Seite einer Krankheit zumeist ausgeblendet, weil sie scheinbar nicht in den Zuständigkeitsbereich des medizinischen Systems gehöre. Spirituelle Betreuung geht in der Tat zu 40 Prozent von der Familie aus. Immerhin schon zu 29 Prozent wird sie von den Gesundheitsberufen - nicht nur von Ärzten, sondern vor allem auch von Krankenschwestern - geleistet und - überraschend? - zu nur 17 Prozent von Seelsorgern.

Religiöse Bindungen - das sogenannte religious coping - können dem Sterben einen Sinn verleihen, religiöse Riten den Tod erleichtern. Was aber ist mit dem Nichtgläubigen, der unter dem Verlust des Lebenssinnes angesichts des nahen Todes leidet? Ihm kann mit Psychotherapie eine „Sinndimension“ eröffnet werden. Martin Fegg, ebenfalls vom Palliativmedizinischen Zentrum in München, führte bei dem Berliner Symposium „narrative Therapien“ an, bei denen der Patient zum Erzählen gebracht wird, wie es beispielsweise die sogenannte „Dignity Therapie“ und die „Meaning Centered-Therapie“ tut.

Beide Methoden kommen aus Amerika. Die eine setzt an der „Würde“ des Patienten an: Was habe ich im Leben erreicht? Worauf kann ich stolz sein? Vom Arzt oder Therapeuten behutsam angeleitet, erzählt der Patient auf Tonband von prägenden Lebenserfahrungen und hinterlässt so ein Vermächtnis für die Angehörigen. Bei dem zweiten Therapieansatz setzen sich Patienten in einer Gruppe sieben Wochen lang mit existenziellen Fragen auseinander - das Verfahren eignet sich somit nicht für Patienten kurz vor dem Lebensende, anders als die „Dignity-Therapie“, die mit zwei Sitzungen auskommt. Sie gewinnen dabei vielleicht eine neue Wertorientierung und erfahren zugleich, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind. Martin Fegg berichtete von einer tatsächlich feststellbaren Verbesserung des spirituellen Wohlbefindens bei den Patienten und Trost für die Familien.

Wo aber bleibt ob solcher säkularisierter spiritual care die geistliche Betreuung, die doch über Jahrhunderte als ureigenes Feld der Kirchen galt? Mindestvoraussetzungen sind, dass die Kirchen seelsorglich überhaupt präsent sind sowie in Krankenhaus und Pfarrgemeinde Seelsorger stellen, die für kirchliche spiritual care ausgebildet sind und genügend Zeit mitbringen.

Gewisse Aufschlüsse über die Erwartungen an die Seelsorge vermittelt eine Studie, die Isidor Baumgartner, Claudia Pfrang und Barbara Haslbeck vom Institut für Christliche Gesellschaftslehre der Universität Passau 2009 vorgelegt haben. Auftraggeber war die deutsche Bischofskonferenz. Untersucht wurden die ambulante Palliativversorgung und Seelsorge.

Nachdem 1019 ambulante Dienste angefragt worden waren, schied ein Drittel davon von vornherein aus, weil sie nicht mit kirchlichen Seelsorgern zusammenarbeiteten (!). Die Dienste, die schließlich antworteten, erwarten von den Seelsorgern Begleitung der Patienten durch Gespräche, die Gestaltung religiöser (Sterbe-)Rituale und die Tröstung der Angehörigen. Weniger Wert wird von den Diensten auf ethische Beratung und Rituale außerhalb der Sterbebegleitung gelegt. Gesucht wird der kompetente Seelsorger, der Erfahrung in der Sterbe- und Trauerbegleitung hat, sein seelsorgliches Handeln psychologisch und theologisch reflektiert und Krankheit und Tod religiös zu deuten versteht. Das vorausgesetzt, entstehe unter pluralistischen Gesellschaftsbedingungen die Chance, Menschen in ihren Nöten, Hoffnungen und Ängsten nahe zu sein, heißt es. Die Verfasser raten zur Demut: „Die Kirche steht hier nicht vor der Herausforderung, das christliche Menschenbild in der Begleitung Schwerstkranker einzufordern, vielmehr kommt die Möglichkeit zur Verwirklichung eines urjesuanischen Auftrags von außen auf uns zu.“

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