Selbst-OptimierungAuthentisch bis zur Verzweiflung

Auf der Jagd nach Authentizität wird die eigene Persönlichkeit zum Rätsel, das man knacken muss. Über einen „Krisenbegriff“ unserer Zeit.

Sei ganz du selbst – in zehn Schritten!“ „Werde heute noch authentisch!“ „Lerne hier, wer du wirklich bist!“ Solche Angebote überfluten seit Jahren die sozialen Medien. Und seit die Menschen im Lockdown zuhause festsitzen und mehr Zeit haben, über sich und ihr Leben zu grübeln, scheinen es täglich mehr zu werden. Selbsternannte Selbstfindungs-Coaches bieten Videoseminare und Ratgeberbücher an, wie man endlich mal „man selbst“ sein kann.

Rollen reichen nicht mehr

Die Suche nach dem „wahren Ich“ ist inzwischen ein gigantischer Markt und die Nachfrage steigt. Immer größer wird die Sehnsucht nach dem echten, authentischen Leben. Dass sich die zahllosen Berater regelmäßig gegenseitig widersprechen und in den seltensten Fällen fundierte psychologische Erkenntnisse anbieten, scheint dabei kaum eine Rolle zu spielen. Die Botschaft ist eindeutig: Wer es schafft, zu seinem geheimen innersten Ich vorzudringen, dem winkt ein glückliches Leben. Als Christ sollte man bei solchen Heilsversprechen grundsätzlich misstrauisch werden. Für den großen Philosophen und Theologen Sören Kierkegaard war „verzweifelt man selbst sein wollen“ gar eine Erscheinungsform von Sünde.

Dass es so eine Herausforderung ist, einfach man selbst zu sein, scheint dabei ein relativ neues Phänomen zu sein. Für die Grazer Kulturwissenschaftlerin Susanne Knaller ist Authentizität der „Krisenbegriff“ unserer Zeit. Bis vor wenigen Generationen waren die Menschen voll damit zufrieden, die Rollen auszufüllen, die ihnen von Gesellschaft, Familie und Beruf zugeteilt wurden. Erst als sich Lücken für Freizeit und Privatleben öffneten, fingen die Ersten an, sich zu fragen, wie sie eigentlich authentisch sie selbst sind. Sogar dieses Wort begann im 18. Jahrhundert seine Bedeutung zu ändern, wie Knaller schreibt: War es bisher vor allem benutzt worden, um originale Kunstwerke von Fälschungen zu unterscheiden, wurde es jetzt auf die menschliche Psyche übertragen und konnte mit „Unmittelbarkeit, Unverstelltheit und Wahrhaftigkeit“ plötzlich alles und nichts bedeuten.

Alle authentisch, alle gleich

Für manche war es ein befreiender Schritt, sich nicht mehr über andere zu definieren, sondern sich endlich auf die Suche nach sich selbst zu machen. Doch viele stürzte dieser neue Zwang zur Authentizität in eine ausgemachte Sinnkrise. Eine Krise, die sich noch verstärkt hat, seit man das eigene Ich rund um die Uhr digital in Szene setzen und von anderen bewerten lassen kann. Und je freier, individueller und authentischer sich die Menschen geben, desto austauschbarer werden die immer gleichen Profile auf Facebook und Co. Womöglich ist in einer so selbstversessenen Welt gerade der authentisch, der das Ratgeberbuch beiseitelegt, den Computer ausschaltet und sich nicht den Kopf über sein „geheimes inneres Selbst“ zerbricht.

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