Was ist Schöpfungsspiritualität?

„Wir müssen es uns eingestehen: Einige engagierte Christen bespötteln unter dem Vorwand von Realismus und Pragmatismus die Umweltsorgen. Andere sind passiv und entschließen sich nicht dazu, ihre Gewohnheiten zu ändern. Es fehlt ihnen eine ökologische Umkehr. Diese besagt, dass sie alles, was ihnen aus der Begegnung mit Jesus Christus erwachsen ist, in ihren Beziehungen zur Welt zur Blüte bringen. Die Berufung, Beschützer von Gottes Werk zu sein, praktisch umzusetzen, gehört wesentlich zum Leben nach dem Evangelium. Sie ist nichts Fakultatives. Sie ist kein sekundärer As- pekt christlichen Lebens. Wir erinnern uns an Franziskus von Assisi, der die gesunde Beziehung zur Schöpfung als eine Dimension der Umkehr des Menschen gelebt hat.“ (Papst Franziskus, Laudato si’, Nr. 217f.)

Der gesamte Kosmos hat nach der christlichen Überzeugung seinen Ursprung in Gott. Vom Beginn der christlichen Tradition an gibt es eine kosmische Mystik. Im europäischen Bereich finden wir sie unter anderem bei Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhard. Ignatius von Loyola hat diese Mystik auf die Formel gebracht „Gott in allen Dingen suchen und finden.“ Das sind keine esoterischen Spekulationen. Bereits in der Rede des Paulus vor dem Areopag finden wir die Worte. „Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Himmel und Erde gemacht hat, er ist keinem von uns fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17). Ähnlich wie die Luft alle Lebewesen einhüllt, atmen und leben lässt, ist Gott selber wie ein Urelement für alles Leben, alles Sein, alle Aktivitäten. Die Bibel spricht davon, dass Gott den ganzen Kosmos ausfüllt: „Bin nicht ich es, der Himmel und Erde erfüllt?“ (Jer 23,24). Thomas von Aquin bringt den Vergleich: „Wie die Seele ganz in jedem Teil des Körpers ist, so ist auch Gott in allem und in jedem einzelnen.“ Zusammenfassend lässt sich also sagen: Gott ist in 31 allem, er ist überall. Hieraus erwächst eine Grundhaltung, eine Spiritualität, die das ökologische Bewusstsein und Denken prägt: Alle Wesen von Natur und Weltall haben einen Wert. Gott ist in ihnen gegenwärtig.

Die christologische Grunddimension

Nach dem neutestamentlichen Zeugnis ist Jesus Christus als der Sohn Gottes Mittler der Schöpfung, weil er ihr Anfang und ihr Ende ist. Er hat die kosmische Natur in sich aufgenommen. Er durchdringt sie und ist in ihr gegenwärtig. In seiner Auferstehung hat er die Materie verwandelt. Das wird in besonderer Weise in den eucharistischen Zeichen von Brot und Wein sichtbar. Teilhard de Chardin spricht in diesem Zusammenhang von der kosmischen Mystik. Dabei wird uns bewusst, dass auch die leblosen und immateriellen Dinge einen Wert und eine Würde haben. Nach dem biblischen Zeugnis ist es der Geist Gottes, der Geist des auferstandenen Christus, der das All erfüllt, den Kosmos durchwirkt und alles und alle mit Leben erfüllt. Er treibt an, er erhellt und schafft. In allen Wirklichkeiten, besonders in den Lebewesen, wohnt der Geist Gottes. Diese Mystik macht uns bewusst, dass alle Dinge der Welt Achtung verdienen, weil sie eine Spur göttlichen Geistes und Lebens in sich tragen.

Der Mensch ist Mit-Geschöpf

In allen Wesen kann der Mensch Schwestern und Brüder sehen. Alle haben den gleichen Ursprung. Aber bereits das Buch Genesis schreibt dem Menschen bereits eine Sonderstellung zu. Er ist über alle Lebewesen gesetzt, ohne über sie eine absolute Herrschaft ausüben zu können. Denn aus der Spiritualität der Mitgeschöpflichkeit erwachsen, wie unschwer zu erkennen ist, Grundeinstellungen, die gerade in unserer Welt von höchster Aktualität sind: Die Achtung der Würde aller Geschöpfe, Achtung der Rechte von Männern und Frauen und auch Kindern, die Solidarität mit den Schwachen und Armen. In der Spiritualität der Mitgeschöpflichkeit sind alle in ihrem Eigenwert und in ihrer eigenen Würde anzuerkennen. Niemand darf allein nach seinem „Nutzwert“ eingeschätzt werden. Denn alle haben ein unveräußerliches Lebensrecht. Deshalb gibt es auch kein Recht, Pflanzen oder Tiere, die vordergründig keinen Nutzwert für den Menschen haben, auszurotten. In dieser Spiritualität gilt es weiter, allen Mitgeschöpfen gegenüber Ehrfurcht und Respekt zu zeigen. In Mitverantwortung wurzelt im Letzten auch die moralische und ethische Verantwortung gegenüber allem Leben.

Eine Symphonie der Schöpfung

Noch eine andere Haltung ruft die Schöpfungsspiritualität wach: Ein wacher und nicht von Nützlichkeit getrübter Blick wird die unendliche Vielfalt und Schönheit dieses Werkes Gottes wahrnehmen. Bedeutende Theologen des Mittelalters wie der heilige Bonaventura sprachen mit Begeisterung davon, wie ein sensibler Mensch die Schöpfung wie ein Buch lesen kann. Andere Theologen und Mystiker haben bis in die heutige Zeit die Schöpfung mit einer Symphonie verglichen, in der eine Unzahl an Einzelstimmen und -instrumenten sowie an einzelnen Rhythmen ein unendlich schönes Konzert, ja eine unendliche Symphonie ergeben. Der postmoderne Mensch ist dagegen in der Gefahr, kein Auge, kein Ohr und kein Herz mehr zu haben für Farben und Formen, Blumen und Blüten, für Schmetterlinge und Fische, für die unendliche Vielfalt in der anorganischen Welt der Mineralien, für die Farben und Formen bei den Kristallen, für die Klarheit und Schönheit des nächtlichen Sternenhimmels, der ohnehin im nördlichen Europa durch die Veränderungen in der Atmosphäre weniger hell leuchtet als in Afrika. In unvergleichlich poetischer Weise hat Franziskus von Assisi die Schönheit der Schöpfung in seinem Sonnengesang besungen, Blumen, Kräuter, Tiere, Flüsse, Ozeane und die Sternenwelt, schließlich den Menschen selber. Er tut dies nicht allein als Poet und Ästhet, sondern als ein vom Staunen ergriffener gläubiger Mensch. In allem spürt er die Gegenwart und Schönheit Gottes. Die geschaffene Welt ist sein Abglanz und Spiegel.

Das Seufzen der Natur

Aber auch eine andere Seite der Geschöpflichkeit kommt in den Blick. Es gibt eben nicht nur Schönheiten und Wunder, sondern auch die Unvollkommenheit und das Leid. Schöpfungsspiritualität nimmt also auch wahr und ernst, dass es in der Natur gewaltsame Entwicklungen und Katastrophen, und unter den Lebewesen Schmerzen, Alter, Krankheit und Tod gibt. Paulus spricht im Römerbrief vom Seufzen und Stöhnen der Natur und von dem Leid, dass die Vergänglichkeit mit sich bringt: „Wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,22). Denn sie wartet noch auf ihre Vollendung. So sagt Paulus weiter: „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes. (…) Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,19.21). Der Glaube, der die Erde liebt, reagiert darauf mit Sensibilität und Solidarität, mit Mitgefühl und innerer Verbundenheit. Es gilt, empfindsam zu bleiben und Gespür zu haben für das Leiden anderer Menschen, die seelisch, körperlich oder sozial leiden. Es hat aber auch zu tun mit dem Mitgefühl für Tiere, die Quälereien ausgesetzt sind, etwa der Massenhaltung.

Was heißt „Macht euch die Erde untertan“?

Der biblische Auftrag, sich die Erde „untertan“ zu machen, ist lange als Aufforderung zur rücksichtslosen Herrschaft des Menschen über die Mitgeschöpfe missverstanden worden. Dieses Missverständnis lässt sich nur beseitigen, wenn Gott selber als der alleinige Herr über die Schöpfung angesehen und der Mensch, obwohl mit besonderer Würde ausgestattet, sich solidarisch als Mitgeschöpf erfährt. Denn der Mensch hat seine eigenen Wurzeln tief im Boden von Mutter Erde. Im großen ökologischen Netzwerk der Schöpfung ist er abhängig von den anderen Lebewesen. Er ist abhängig von der Natur. In der Folge heißt dies: Gott allein ist der Eigentümer und Herr aller Lebewesen. Der Mensch ist Verwalter und „Treuhänder“ Gottes in der Schöpfung. In Achtsamkeit soll er die Lebenselemente und den Lebensraum für seine Mitgeschöpfe erhalten und schützen. Aber er darf nicht alles tun, was er kann. Er darf die Umwelt nicht als bloßes Objekt behandeln, zu seinem eigenen Nutzen ausbeuten und zerstören. Er muss das Beziehungeflecht zwischen allen achten und pflegen. Denn alles existiert miteinander, füreinander und ineinander. Alle Geschöpfe sind miteinander auf dem Weg.

Schöpfungsethik

Wir sind also als Treuhänder für den gesamten Lebensraum verantwortlich. Und Verantwortlichkeit heißt: Die Weggemeinschaft mit den Geschöpfen ernst nehmen, auf sie hören und Grenzen für die Versuchung zur Macht und Herrschaft ziehen. Das Grundmotiv für die Verantwortung ist die Fürsorge. Sie fördert die Entwicklung der Mitgeschöpfe in ihrer Eigenart und behütet deren Lebensraum. Sie setzt sich ein für die Erhaltung der bedrohten Arten und die Reinheit ihrer Lebensgrundlagen. Dieses Verantwortungsbewusstsein widersetzt sich dem heute gültigen Nützlichkeitsdenken. Dieses hat immer die Tendenz, auszubeuten und den großen Zusammenhang alles Lebens nicht zu beachten. Verantwortung stellt eigene Wünsche zurück, wenn deren Verwirklichung anderen Schaden zufügt. Für das reine Nützlichkeitsdenken ist das Schwache wertlos. Eine ökologische Spiritualität hingegen übt besondere Rücksicht auf das Schwache und setzt sich für den Schutz bedrohten Lebens ein. Auf eines ist besonders hinzuweisen: Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist die Menschheit von der digitalen Informationstechnologie fasziniert. Gleichzeitig wird die Möglichkeit der Verkehrung dieses Fortschrittes in Gewalt und Terrorismus äußerst bedrückend. Es bleibt die Gewissensfrage: Darf der Mensch wirklich alles tun, wozu er aufgrund seiner Intelligenz in der Lage ist? Ist für die Zukunft unseres Planeten und der gesamten Schöpfung nicht jenseits aller technischen Rationalität ein hohes Maß an Sensibilität notwendig, das ein Auge hat für den leidenden Menschen?

Loslassen und Bescheidung

Grenzenlose Steigerung der Produktion und des Wachstums ist unmöglich. Gegen die ungebremste Konsumsucht und den nationalen Eigennutz („America first“) hilft nur eine Haltung der Rücksichtnahme und der heilsamen Beschränkung. Wir müssen uns lösen von der Vorstellung, dass wir die Herrschaft über die Natur und über die Zukunft haben. Die Rohstoffe stehen uns nicht grenzenlos zur Verfügung. Ökologisches Loslassen bedeutet, dass Menschen sich freimachen von Ansprüchen, die keine Grundbedürfnisse befriedigen, sondern die wie versklavende Ansprüche des Konsums über uns gekommen sind. Loslassen heißt Verzicht auf Vorteile und Bequemlichkeiten, welche der Umwelt und auch anderen Menschen schaden. Loslassen bedeutet den Verzicht auf Profit, der auf Kosten der Umwelt erzielt wird. Den Einsatz von erneuerbarer Energie zu fördern, ist keine Marotte weltfremder Idealisten. Es hat mit einer neuen Schöpfungsspiritualität zu tun.

Schluss

Unsere Welt ist endlich. Aus unserer sozialen und politischen Weltverantwortung können wir nicht in eine Naturromantik fliehen, die mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun hat. Der Mensch und die gesamte Schöpfung bedürfen der Vollendung. Und Gott befreit die ganze Schöpfung, nicht nur den Menschen. Christus ist das Haupt der neuen Schöpfung, nicht nur der Kirche. In vielen mittelalterlichen Darstellungen ist Christus wie selbstverständlich von den Tiersymbolen der Evangelien umgeben. Er ist eingebettet in den Lebensstrom der ganzen Schöpfung, in den Lauf der Geschichte und in die Evolution alles Geschaffenen. Alles, was lebt, hat eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Ziel. Die gesamte Schöpfung ist in Erwartung. Ihre Erfüllung liegt nicht in unsrer Hand. Sie ist das Werk ihres Schöpfers, nimmt uns aber mit auf den Weg.

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