Misericordien

Vielleicht haben sie bei den Klappsitzen alten Chorgestühls schon einmal die Konsolen, kleine hölzerne Unterstützer, entdeckt, die den betenden Mönchen und Nonnen Halt boten. Diese werden Misericordien genannt. Mir haben die immer schon gefallen, da sie etwas Einladendes an sich haben. Ursprünglich wohl für ältere, kranke oder geschwächte Mönche und Nonnen als Stütze für lange Stehzeiten gedacht, ermöglichen sie es den Betenden, sich etwas abzustützen und auszuruhen. Mir gefällt die Bezeichnung für diese Stützen, die auf das Wort misericordia zurückgeht, das mit Barmherzigkeit übersetzt wird. Denn darum geht es bei ihnen: sich der Betenden zu erbarmen, die mehrere Male am Tage, zum ersten Mal oft schon in aller Herrgottsfrühe, manchmal noch mit dem Schlaf in den Augen, im Chor stehen.

Ich staunte nicht wenig, als ich vor einiger Zeit in den neuen Waggons der Münchner U-Bahn, gleich links und rechts am Eingang, solche Misericordien entdeckte. Die Fahrgäste, die keinen Sitzplatz mehr bekommen, können sich wie das beim Chorgestühl der Fall ist, auf diesen Konsolen abstützen. Ich mache mir einen Spaß daraus und probiere sie immer wieder aus. Ich genieße, auf ihnen zu sitzen und kann mich dabei richtig entspannen.

Während ich mich an meiner neuen Entdeckung erfreue, auch darüber, wie mittelalterliche Einfälle auch heute noch gut sein können, frage ich mich, welche Anregungen könnten von diesen Misericordien für Seelsorger und ihre Arbeit ausgehen? Wo können Seelsorger und Seelsorgerinnen sich und den Menschen, für die sie da sind, mit solchen Misericordien etwas Gutes tun.

Fangen wir bei den Seelsorgerinnen an. Wo gestatten sie es sich, sich zwischendurch einmal abzustützen? Oder auch, es sich während der Arbeit bequem zu machen? Sie können ihrem Dienst nachkommen, ihre Sache gut machen, dabei aber nicht vergessen, zwischendurch immer wieder einmal durchzuschnaufen. Darauf zu schauen, dass ihnen nicht die Luft ausgeht. Sie lehnen sich innerlich etwas zurück, entspannen, gönnen sich für eine Weile auf ihrer imaginären Misericordia- Konsole Rast. Für andere bedeutet, sich abzustützen und zurückzulehnen, ein Stoßgebet zu sprechen, ein kurzes Verweilen vor dem Allerheiligsten, ein bewusstes Sich-Verankern in Gott.

Sie tun sich damit etwas Gutes. Schenken sich selbst Aufmerksamkeit. Sie sind dabei sich selbst gegenüber barmherzig, würdigen damit, dass sie das auch wert sind.

Sie unterstützen damit eine Haltung, die sagt: Es ist mir nicht egal, wie ich mit mir umgehe. Ich will vielmehr, dass es mir gut geht. Das ist ja auch die sympathische Botschaft, die für mich von den Misericordien in der U-Bahn ausgeht. Man hätte auch darauf verzichten können. Es hätte einem egal sein können, ob da jemand stehen muss oder sich abstützen kann und dadurch für ihn die Fahrt angenehmer wird.

Wo können Seelsorger für andere eine kleine Stütze sein, vergleichbar den Misericordien? Es geht zunächst einmal etwas Sympathisches davon aus, insofern es sich um nichts Gewaltiges handeln muss. Eher so etwas wie Snacks für zwischendurch. Zwischen den großen Mahlzeiten. Den großen Events, wie Gottesdienste oder besondere Festtage. Das kann sein: ein Anruf, ein Gedenken, eine Kerze für einen kranken Menschen aufstellen, ein bewusstes Begrüßen, ein kurzer Besuch, eine liebevolle Berührung, ein aufmunternder Schlag auf den Rücken usw.

Misericordien dieser Art verschönern den Tag, manchmal helfen sie auch, etwas leichter zu nehmen. Sie konkretisieren im Alltag, was am Festtag gefeiert wird. Machen deutlich, dass es nicht nur bei Worten bleibt, was einem da zugesagt wird. Wie ja auch die Misericordien in der U-Bahn konkret sind, konkret Stütze sind, es möglich machen, dass man sich für einen Moment zurücklehnen, ausruhen, entspannen kann.

Manche der Misericordien können, so berichtet mir eine Ordensfrau, heute nicht mehr benutzt werden, da sie für Menschen gedacht waren, die kleiner waren. Sie heute zu benutzen, wäre nur mit Verrenkungen möglich, die ihre ursprüngliche Bedeutung, sich etwas ausruhen zu können, Stütze zu erfahren, konterkarieren würden. Auch das gilt es zu bedenken: Vielleicht haben so manche Misericordien, die einmal wichtig und eine echte Hilfe waren, inzwischen ihre Funktion verloren. Doch sie erinnern uns daran, wie das bei den kleinen Stützbrettern im kirchlichen Chorgestühl und in den neuen Waggons der Münchner U-Bahn der Fall ist, dass es gut ist, sich zwischendurch unserer und anderer zu erbarmen, uns und ihnen etwas Gutes zu gönnen.

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