Aus den Quellen lebenDer Grundinspiration meines Lebens trauen

Der Begriff der „Spiritualität“ ist heute in aller Munde. Es gibt so viele verschiedene Definitionen, so viele Assoziationen und Kontexte. Sollte man einen neuen Begriff erfinden, eine neue Terminologie? Sagt der Begriff mittlerweile so viel, dass er schon gar nichts mehr zu sagen hat? Ein fast schon inflationärer Gebrauch macht es nicht gerade einfach, mit ihm zu arbeiten.

Sehr bewusst plädiere ich für eine weitere Benutzung dieses Begriffs, weil er wie kaum ein anderer zum Ausdruck bringt, was den Menschen wesentlich mitbestimmt und ausmacht. Dafür fällt mir kein anderer Begriff ein – und als ein ursprünglich christlich geprägter Begriff bringt dieses Wort gleichzeitig fundamentale Glaubenswirklichkeiten und Glaubenswahrheiten zum Ausdruck.
Wenn ich in den vielen Kontexten, in denen ich mich bewege, danach gefragt werde, was Spiritualität ist, dann antworte ich mittlerweile immer gerne mit einem Wort, nicht mit einer Definition oder einer langen Erklärung. Dieses eine Wort lautet „Grundinspiration“. Ich verbinde das Wort mit den elementaren Fragen: Was gibtmeinem Leben die Inspiration und den Geist, der mich trägt, leitet und führt? Wes Geistes Kind bin ich – und was ist von daher für mich unverzichtbar? Diese Fragen berühren die Existenzmitte jedes Menschen, egal welcher Religion, Konfession oder Weltanschauung. Der Münsteraner Moraltheologe Bernhard Fraling sprach einmal davon, dass Spiritualität ein Grundexistential des Menschen darstellt, eines jeden Menschen. Die Frage ist nur, wie bewusst dieses dem Einzelnen ist und wie ausdrücklich es gelebt wird. Spiritualität gehört zum Menschen dazu: die Sehnsucht nach dem Mehr, nach dem, was in und hinter den Dingen steckt, nach dem Sinn im Leben. Spiritualität bringt genau das zum Ausdruck.

Christlich geprägter Begriff

Ursprünglich ist Spiritualität ein christlich geprägter Begriff, der die ganze Existenzweise des Christen umfasste: Ein Christ ist spirituell (im Lat. „spiritualiter“), oder er ist kein Christ. Der Apostel Paulus nutzt in seinen Schriften diesen Begriff, um sich von dem Leben gemäß dem Fleisch (sarx), der Materie, abzusetzen. Ein Christ lässt sich nicht von der Welt des Fleisches bestimmen, sondern vom Geist (pneuma), weil er weiß, dass diese Welt nicht alles ist, weil er eine Hoffnung auf Vollendung und Vervollkommnung hat, eine Hoffnung, die sich mit dem Reich Gottes, dem „Schon-undnoch-Nicht“ dieses Reichesergibt. Von daher macht sich der Christ nicht von dieser Welt abhängig. Die Kirchenväter beschrieben es mit der umstrittenen Aussage, dass der Christ zwar in dieser Welt sei, aber nicht von dieser Welt.
Spiritualität ist der „Terminus technicus“ für die christliche Existenz, also auch nicht nur eine Haltung, Erfahrung oder Gestaltung des Lebens für einige wenige Augenblicke am Tag oder in der Woche. Der sonntägliche Kirchgang oder andere Momente in der Kirche, das sind nur Teile einer spirituellen Lebenshaltung. Diese umfasst mehr, eben das gesamte Leben, das gesamte Tun und Lassen, Haltungen und die Gestaltung des Alltags, die Begegnungen mit anderen Menschen, Solidarität und Liebe. Im gelebten Leben, nicht nur in der Liturgie oder Meditation, zeigt sich das Antlitz der Spiritualität, die Liebe zum Leben, zur Welt und zum anderen. Zwangsläufig hat das Auswirkungen auf die Quellen der Spiritualität. Diese sind vielfältig, eben so vielfältig, wie das Leben ist und sein kann.

Den Reichtum der vielen Quellen wahrnehmen

Christliche Spiritualität nährt sich aus den unterschiedlichsten Quellen, die dabei helfen können, die eigene Spiritualität wieder bewusster wahrzunehmen, die eigenen Wurzeln, die verschütteten Erfahrungen, die Sehnsüchte nach dem Mehr und dem anderen, nach der Erneuerung, nach neuen und anderen Formen, nach der Verlebendigung.
Dadurch, dass Spiritualität nicht etwas ist, das ich habe, sondern das ich durchlebe und mit dem ich lebe, unterliegt es den Gesetzen eines Prozesses und einer Dynamik, die unter vielen Einflüssen steht. Das heißt, dass es auch so etwas wie ein
„Auf und Ab“ gibt, Erfahrungen von Tiefe auf der einen und Erfahrungen von Leere und Trockenheit auf der anderen Seite. Meine Spiritualität bzw. die Formen und Rituale meiner Spiritualität sind nicht in Stein gemeißelt, sie unterliegen den Gesetzen der Veränderung, die auf Verlebendigung beruhen. Das macht Spiritualität so spannend und herausfordernd, manchmal aber auch mühsam. Ich muss mich immer wieder darum bemühen, dass ich die mir angemessene Form meiner Spiritualität lebe, und davor noch die Frage beantworten: Was ist meine Spiritualität?  Was ist unverzichtbar, und was steht in Frage? Wo muss ich mich und wo muss ich was verändern? Auch die Frage, wie viel Raum ich dem Geist gebe und ihm vertraue, muss ich mir immer wieder stellen. Spiritualität bedeutet eigene Anstrengung, aber auch Sich-beschenken-Lassen und Widerfahrnis. Bin ich dafür offen?

„In der Heiligen Schrift Wohnung nehmen“

Die erste Quelle, um die eigene Spiritualität wieder neu zu beleben, aufzufrischen und die mir angemessenen Rituale und Formen zu finden, ist der Blick auf die Quelle christlicher Spiritualität, auf die Heilige Schrift. Diese stellt mich und mein Leben, das Leben in und mit der Gemeinschaft immer wieder in Frage und rückt es in das rechte Licht der Nachfolge Jesu. Ein spiritueller Umgang mit der Heiligen Schrift stellt Fragen, manchmal durchaus sehr unangenehme. Lasse ich mich infrage stellen? Und lasse ich mich von der Heiligen Schrift infrage stellen? Die Bibel ist immer noch ein Buch, das den Geist Gottes atmet. Dieser überrascht, überwältigt und berührt manchmal. Ist dieses Überraschungsmoment noch Teil meiner Spiritualität – oder weiß ich schon alles, was in der Bibel steht, kann alles auslegen und mich kann nichts mehr überraschen? Stimmt das?
Für mich ist in diesem Zusammenhang ein Wort von Thomas von Celano, einem der ersten Biographen des hl. Franziskus von Assisi, sehr wichtig und eine stete Herausforderung. Er spricht davon, dass Franziskus in der Schrift Wohnung genommen hat (ipsum semper inhabitasse Scripturas). Eine Wohnung gehört immer wieder einmal geputzt. Das Mobiliar wird wieder an die rechte Stelle gerückt oder neu zusammengestellt. Manchmal wird ein neuer Anstrich benötigt oder eine grundlegende Renovation vorgenommen.

Der reiche Schatz der Tradition

Eine wichtige Quelle für die Renovierung der eigenen Wohnung „Spiritualität“ stellt die reichhaltige Tradition der Christlichen Spiritualität dar. Die Erfahrungen vieler Mystiker und Mystikerinnen können Impulse für die eigene Spiritualität geben. Sie können interessantes Mobiliar für eine neue Inneneinrichtung geben oder gehören renoviert, neu bezogen, anders aufgestellt. Dazu ist es gut, sich zunächst einmal zu vergewissern, ob es eine spirituelle Tradition oder auch „Schule“ gibt, die mir im Laufe der Jahre wichtig geworden ist und aus der heraus ich mein Leben zu gestalten versuche. Das kann z. B. die Franziskanische oder Benediktinische Spiritualität sein, die Wüstenväter oder die ignatianische Spiritualität mit dem Schwerpunkt auf der Unterscheidung der Geister – oder aber auch eine Gestalt der Spiritualitätsgeschichte wie z. B. Madeleine Delbrel, Franz von Sales oder andere. Der Blick über diese gewohnte und liebgewonnene „Schule“ hinaus ist der zweite Schritt, um neu Spiritualität zu atmen und zu einer gelebten Spiritualität zu kommen, die sich erneuert in Formen, Gestalten oder sogar in ihrer Ausrichtung. Die Geschichte der christlichen Spiritualität ist sehr reich an „Schulen“ und Gestalten. Ein Blick lohnt sich und hilft der Belebung und Erneuerung der eigenen Heimat. Und alle diese „Schulen“ und Gestalten versuchten mit ihrem Leben eines: die Nachfolge Jesu überzeugend und konsequent zu leben. Das kann sehr inspirierend sein. Mit welcher „Schule“ oder welcher Gestalt würde ich mich gerne einmal auseinandersetzen?

Meditation und Kontemplation

Josef Sudbracknenntdie Kontemplation eine Andacht zur Wirklichkeit. Wer eine solche Andacht zur Wirklichkeit lebt, der wird feststellen, wie sehr diese ihn verändert, wie sehr diese ihn zu einer Grundweise menschlichen und auch christlichen Lebens erzieht und womöglich umwandelt. Es geht um die Aufmerksamkeit dem Leben, der Schöpfung und der Welt gegenüber. Nur in Aufmerksamkeit, in einer Haltung der Wahrnehmung und des Sich-Einlassens auf die Wirklichkeit in unvoreingenommener Neugierde kann die eigene Identität gefunden und bestimmt werden. Der Philosoph Han fordert vondahereine Rückbesinnung und Refom der vita contemplativa, die von der vita activa in postmoderner Gesellschaft rücksichtslos an den Rand gedrängt worden ist, doch in Zeiten der Digitalisierung und Virtualisierung nötiger denn je erscheint: „Notwendig ist eine Revitalisierung der vita contemplativa. Die Zeitkrise wird erst in dem Moment überwunden sein, in dem die vita activa in ihrer Krisis die vita contemplativa wieder in sich aufnimmt.“ Eine gelebte Kontemplation, nicht als Übung und Methode, sondern als Haltung und Lebensform erscheint dringender denn je. Das kann eine Schule für die Erneuerung von Spiritualität sein.

Die Kunst der Wahrnehmung ist

eine der wesentlichen Weisen erfüllten und gelungenen Lebens in der christlichen Spiritualität und darüber hinaus in jeglicher religiösen Grundhaltung. Nur wer wahrnehmen kann, hinhören, in Stille, in Beschauung (im wahrsten Sinne des Wortes), der kann sich auf die Welt, das Leben, sich selbst und den anderen einlassen. Dazu gehört nämlich auch die Haltung des Respekts und der Ehrfurcht, gepaart mit der Kunst des Zuhörens und Verstehen-Wollens. Nur wer aufmerksam in sich selbst hineinhorcht, und dann auch in das Wesen, in das Sein und Wirken seiner Organisation, der kann den anderen verstehen – und begreifen, dass die Welt „Gottes voll“ ist. Das Wesen der Kontemplation ist Begegnung; eine Begegnung, die sich nicht erzwingen lässt, die vielmehr ein Geschenk ist, für dessen Gabe sich der und die Einzelne bereiten muss.

Von der Kraft der Bezie­hungen und der Leichtig­keit von Spiritualität

Gott zeigt sich konkret im Leben eines jeden Menschen, auch in meinem. Überall dort, wo mir Menschen begegnen, wo ich in das Antlitz eines anderen schaue, schaut Gott mich an: mit Augen, die nach Anerkennung oder Vergebung suchen; mit Augen, die Hilfe benötigen; mit einem Antlitz, dem Gott seine ganz eigene Würde gegeben hat. Die Spuren Gottes lassen sich im Antlitz des anderen finden, so fremd es mir sein mag. Das erfordert eine Offenheit und eine Liebe zum anderen, die ich immer wieder von neuem einüben muss. Der andere verweist mich in seinem Anders-Sein zudem auch auf das, was in mir so anders ist, als ich es mir vorstelle oder wünsche. Erneuerung der eigenen Spiritualität bedeutet ebenfalls, mich auf all das einzulassen, was mir in mir selbst und im anderen begegnet. Der Reichtum der Begegnungen ist ein elementarer Teil der christlichen Spiritualität. Das Bedenken meines Verhaltens anderen gegenüber und die Veränderung von Beziehungsgestaltung bedeuten ebenfalls eine Erneuerung der Spiritualität. Gleichzeitig sei zum Schluss der Ausführungen noch eine „Warnung“ ausgesprochen. Im Umgang mit der Spiritualität ist eine gewisse Leichtigkeit vonnöten. Druck, Erfolgszwang und vorzeigbare Erfolge gehören nicht in das Repertoire einer gelebten Spiritualität. Wenn ich meine Spiritualität erneuern will oder erneuern lassen will, wenn ich nach einer Wiederbelebung meiner Spiritualität suche, dann sollte ich es mit einer gewissen Freude und Gelassenheit tun. Spiritualität ist ein wunderschönes Geschenk, auch wenn sie verschüttet oder erstarrt zu sein scheint. Diese wiederzubeleben ist keine Last, sondern eine Freude, die mich wieder mehr zu Gott, zu mir selbst, zum anderen und zur Welt führen will. Wie kann ich das anders angehen als in einer tiefen Freude über dieses Geschenk und in Gelassenheit, weil da einer ist, der mit geht und mir den Geist schenkt, zurück zu meinem Grund und meiner Grundinspiration zu finden!

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