Exegese

Mit der Erforschung und Auslegung der Heiligen Schrift erfüllt die Exegese innerhalb der Theologie eine ihrer wesentlichsten Aufgaben. So sehr christliche Theologie immer schon Schriftauslegung war, so sehr ändern sich im Verlauf von deren Geschichte ihre Methoden und Zugangsweisen.

Exegese

Wie in der Theologie insgesamt stellt sich der Exegese dabei die Aufgabe, sich von benachbarten Wissenschaften „inspirieren“ zu lassen, ohne damit die ihr von ihrem Gegenstand her aufgegebenen Alleinstellungsmerkmale aufzugeben.

Was ist Exegese?

Der griechische Begriff Exegese bezeichnet die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der theologischen Wissenschaft. Leitend sind dabei heute die Maßstäbe der historischen Kritik. Letztere lässt besonders den menschlichen Charakter der biblischen Schriften, ihre Spannungen und ihre Vielfalt in Erscheinung treten.

Während sich im Protestantismus die historische Bibelkritik – begünstigt durch die Anliegen der Reformation – bereits im 19. Jahrhundert durchzusetzen vermochte, anerkennt die katholische Kirche die historisch-kritische Exegese seit der päpstlichen Enzyklika Divino afflante Spiritu von 1943 und dem Konzilsdokument Dei Verbum von 1965.

Wendepunkte in der Geschichte der Exegese

Lehre vom mehrfachen Schriftsinn

Im späten Mittelalter stand die Exegese noch ganz im Zeichen der Dogmatik. In der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn wurden vier Arten der Interpretation unterschieden: historisch, allegorisch (die christliche Lehre betreffend), moralisch (das sittliche Handeln betreffend) und anagogisch (die Vollendung betreffend). In ähnlicher Weise unterschied Augustinus zwischen Deutungen, die Glaube, Liebe oder Hoffnung bewirkten.

Reformatorische Impulse für die Exegese

Martin Luther fokussierte alle Schriftauslegung auf Christus als Mitte der Schrift. Von diesem Sinnzentrum her würde die ganze Schrift einsichtig werden (Klarheit der Schrift), weshalb es keine Autorität neben oder gar über der Schrift geben dürfe. Auch keine, die sich nach seiner Meinung durch deren Auslegung faktisch über sie und damit zwischen die Schrift und den einzelnen Gläubigen stellen müsste. Von der Christusbotschaft als Mitte der Schrift her gelangte Luther zu einer besonderen (christologischen) Methode der Schriftkritik. Er beurteilte die einzelnen Schriften der Bibel danach, wie sehr sie „Christus treiben“. Mit seiner Ablehnung des mehrfachen Schriftsinns und der Zuwendung zum „einfachen Wortsinn“ wurde Luther auch zum Wegbereiter der modernen Exegese, die dem humanistischen Credo ad fontes (zurück zu den Quellen) folgte.

Gegen Luther und die Reformation betont die römisch-katholische Kirche die Rolle der Kirche bzw. des Lehramts für eine sachgemäße Auslegung. Da die Schrift und ihr Kanon nicht nur Zeugnis, sondern auch Wirkungsgeschichte der Kirche sei, könne auch deren Auslegung nicht abseits der Kirche und ihrer Auslegungstradition erfolgen.

Die historisch-kritische Methode

Ihren markantesten Wendepunkt erfuhr die Exegese mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Methode seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Zunächst an profanen Texten entwickelt fand sie allmählich Eingang in die Bibelforschung. Heute ist sie angesichts des allgemeinen Bewusstseins für das geschichtliche Werden der Bibel nicht mehr aus der Bibelforschung wegzudenken. Es ist das Verdienst der historisch-kritischen Methode, über verschiedene Arbeitsschritte wie Text-, Literar-, Traditions- und Redaktionskritik verschiedene Entwicklungsstufen des Textes sichtbar zu machen und so idealerweise den Urtext zu rekonstruieren. Für die Evangelien wurde beispielsweise eine Zweiquellentheorie aufgestellt, nach der das Matthäus- und das Lukas-Evangelium auf zwei Quellen zurückgehen: das Markus-Evangelium und die sogenannte Logienquelle Q.

Das Verhältnis von Dogmatik und Exegese und die Frage nach einem gelingenden Transfer ihrer Ergebnisse füreinander muss stets ausgehandelt werden. Fragwürdig wäre beispielsweise die Zuweisung der Exegese zur Dogmatik als Lieferantin von bloßen „Vorarbeiten“. Ihrem Selbstverständnis entsprechend formuliert die historisch-kritische Methode zwar keine Ergebnisse von absoluter Geltung, doch zieht sie gerade darin so manche dogmatische „Selbstverständlichkeit“ in Zweifel.

Ein besonderes Forschungsfeld etablierte sich im Zuge der historischen Kritik mit der sogenannten Leben-Jesu-Forschung, die ihre Blüte im 19. Jahrhundert erlebte. Ihr Anliegen war es, die Person Jesu Christi fernab (späterer) christologischer Überhöhung in ihrem historischen Kontext neu zu entdecken. Jesus-Bilder, die mit dem Anspruch auftraten, den „wirklichen“ (historischen) Jesus darzustellen, wurden jenen gegenübergestellt, die als spätere, dogmatisch voreingenommene Interpretationen identifiziert wurden. Der vorösterliche („authentische“) Jesus wurde vom nachösterlichen, von der Gemeinde verkündigten Jesus unterschieden. Voraussetzung hierzu war eine Betrachtung der biblischen Schriften als historische Dokumente menschlichen Ursprungs. Von der Annahme, die Schriften seien göttlich inspiriert, wurde dafür abgesehen.

Damit einher ging eine historisch-kritische Infragestellung des Wahrheitsgehalts der Evangelien, welche die historische Bibelkritik bis heute kennzeichnet.

Martin Kähler und Albert Schweitzer haben schließlich aufgezeigt, dass die Rückfrage nach dem historischen Jesus ihrerseits eigene Jesus-Bilder produziert. Es handle sich um Bilder einer historisch-kritischen Wissenschaftsgemeinde, die allein historische Maßstäbe an die biblischen Texte anlegt und dennoch anfällig bleibt für die wechselhaften politisch-religiösen Motivlagen ihrer eigenen Zeit.

Die Sensibilität für Textentstehungs- und Texttradierungsprozesse ist die Stärke der historisch-kritischen Methode. Aber sie schwächte zugleich ihr Vermögen, Textsinn zu erschließen. Martin Ebner sieht darin das Aufkommen alternativer Zugänge begründet: „Über den endlos diskutierten Schichtenmodellen und den Streit um die redaktionelle Zugehörigkeit von Halbversen schien der Blick für den Sinn des Textes tatsächlich verloren zu gehen und Exegese um sich selbst zu kreisen. Das blieb nicht ohne Konsequenzen.“

Kanonische Exegese

In Reaktion auf dieses Problembewusstsein erwuchs der Bibelwissenschaft in den letzten Jahrzehnten eine exegetische Methode, die den Text wieder stärker in seiner Endgestalt zum Ausgangspunkt der Untersuchung nehmen will. Dieser Ansatz, der sich nicht als Gegenmodell zur etablierten modernen Exegese, sondern als dessen konstruktive Weiterführung versteht, firmiert unter dem Begriff der kanonischen Exegese (canonical approach). Wahrgenommen wird sie mancherorts als akademische Rückgewinnung des biblischen Textes für die kirchliche Praxis. Begründet wird das mit dem Argument, dass sich nur der kanonische Endtext, nicht aber seine in der Fachwelt oftmals strittigen Vorstufen dazu eignen, für die christliche Praxis in Lehre und Verkündigung als Gotteswort zu gelten. Der Herausforderung, die sich daraus grundsätzlich für die Exegese ergibt, wenden sich die Autoren des von Thomas Söding herausgegebenen Sammelbandes Geist im Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese zu.

Einen berühmten Fürsprecher hatte die kanonische Exegese in Papst Benedikt XVI. Die Absicht, die er mit seinen Jesus-Büchern verfolgte, markierte die Differenz zwischen historisch-kritischer Leben-Jesu-Forschung und kanonischer Exegese recht deutlich: „Der wahre Jesus ist nicht eine hinter den Texten des Neuen Testaments zu rekonstruierende Gestalt der Vergangenheit, sondern eine in den Texten der Schrift zur Sprache kommende Person der Gegenwart“. So jedenfalls fasst Ludger Schwienhorst-Schönberger die Intention Benedikts XVI. in einem Aufsatz für die Herder Korrespondenz zusammen.

In einem weiteren Aufsatz zur gegenwärtigen neutestamentlichen Exegese charakterisiert Martin Ebner das Anliegen der historisch-kritischen Exegese im Unterschied zur kanonischen Exegese wie folgt: „Sie analysiert theologische Prozesse in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext. Kanonische Exegese möchte Theologie für heute aus den biblischen Schriften produzieren.“

Die kanonische Exegese stammt aus dem angloamerikanischen Raum. Dort wurde auch der Ansatz New Perspective on Paul entwickelt. Er hebt die soziologische Dimension  der Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre besonders hervor.

Einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen und Forschungsansätze in der alttestamentlichen Wissenschaft bietet Christoph Dohmen in seinem Aufsatz für die Herder Korrespondenz.

Die Exegese und ihre Bezugswissenschaften

Neben der Geschichts-, der Literatur- und den Sprachwissenschaften profitiert die biblische Exegese von einer Reihe weiterer Disziplinen. Zu nennen sind hier vor allem die (Alt-)Orientalistik, aber auch die Archäologie/Topologie. Deren Bedeutung für die Exegese sieht Wolfgang Zwickel, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Biblischen Archäologie, durch die historisch-kritische Exegese gesteigert: „Angesichts einer zunehmenden Unsicherheit in der Datierung biblischer Texte und Redaktionsschichten steigt auf der Seite der Exegeten die Hoffnung, durch die Archäologie neue Einsichten in die Geschichte Israels zu erhalten.“

Zur Wirkungsgeschichte der Bibel gehört auch die musikalische Bibelauslegung als ein besonders kreatives Feld der Exegese. Der Theologe und Musikwissenschaftler Meinrad Walter bietet hierzu in seinem Aufsatz Klingende Exegese. Komponisten aller Epochen als Ausleger der Bibel einen kenntnisreichen Überblick, der in die Einsicht einmündet: „Musik ist eine vielstimmige Möglichkeit, die Bibel zu entdecken.“

Exegese in Theologie und Kirche

Die Exegese ist eine essenzielle Teildisziplin der Theologie. Manche nennen sie gar ihre Leitdisziplin und sind der Ansicht, Theologie sei an sich gar nichts anderes als Schriftauslegung. Dennoch ist Schriftauslegung mehr als ein rein akademisches Geschäft einiger Experten, sie ist Voraussetzung für jede Form der Verkündigung. In dem Sammelband Die Bedeutung der Exegese in Theologie und Kirche gehen die beitragenden Autor(inn)en der These nach, bei der Kirche handle es sich um eine „Auslegungsgemeinschaft“, in der jede Christin und jeder Christ mit je eigener Berufung, Hingabe und Intensität einen Beitrag zur Schriftinterpretation leiste.

In steter Folge finden sich exegetische Fachbeiträge in folgenden Buchreihen des Verlags Herder:

  • Herders biblische Studien (HBS): Mit dieser Reihe werden der bibelwissenschaftlichen Diskussion über das Verhältnis von Judentum und Christentum neue Impulse gegeben. Sie soll außerdem die in Lehre und Forschung etablierte Teilung in Exegese des Alten und des Neuen Testaments überwinden und die sozialen und religionsgeschichtlichen Zusammenhänge der biblischen Texte beachten.
  • Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT): Die Bände dieses großen von Erich Zenger †, Ulrich Berges, Christoph Dohmen und Ludger Schwienhorst-Schönberger herausgegebenen Kommentarwerkes setzen Standards im Fach Altes Testament. Die jüdischen, katholischen und evangelischen Autor(inn)en legen Wert auf eine gute Lesbarkeit und auf einen überschaubaren Umfang. Neben der historisch-kritischen Analyse und den Überlieferungsprozessen, die den Texten zugrunde liegen, wird der Endtext zusätzlich kanonisch interpretiert. Das Alte Testament wird als bleibend Heilige Schrift Israels ernst genommen und in seiner Beziehung zum Neuen Testament ausgelegt.
  • Die Zeitschrift Biblische Notizen wendet sich an die Bibelwissenschaften und ihre Grenzgebiete. Neben den alt- und neutestamentlichen Schriften wird auch außerbiblische Literatur einbezogen. Die Beiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache finden Leser(innen) in mehr als 30 Ländern und auf allen Kontinenten.

Zur Bedeutung der Heiligen Schrift für die übrigen theologischen Fächer äußern sich ausgewiesene Experten in dem Sammelband Bibel verstehen. Schriftverständnis und Schriftgebrauch.

Wer nach einer grundlegenden Einführung in die Methoden der Exegese des Neuen Testaments sucht, wird bei Peter Wick in seiner völlig neu bearbeiteten Auflage der Methodenlehre zum Neuen Testament von Wilhelm Egger fündig. Diese anwenderfreundliche „Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten an neutestamentlichen Texten“ zeichnet sich dadurch aus, die synchronen (d.h. den Text als Einheit betrachtenden) Methoden in Ergänzung zu den in der historisch-kritischen Exegese dominierenden diachronen Methoden, die die Entwicklung eines Textes nachzeichnen, stärker in den Blick zu nehmen. Zudem verbindet Wick die Zugänge der Literatur- und Sprachwissenschaft mit denen der Theologie und überführt die Text- und Kommunikationsmodelle Eggers in ein umfassendes Modell. Wick plädiert damit zugleich glaubwürdig für Methodenvielfalt: „Jede Methode ist eine Perspektive, die dafür geeignet ist, bestimmte Dinge besonders scharf wahrzunehmen.“

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