Religionsfreie ZukunftReligionspolitik des evolutionären Humanismus

Ist Gott nur ein imaginäres Alphamännchen im ewigen Kampf um Ressourcen und Fortpflanzungschancen? Anhänger des „evolutionären Humanismus“ glauben das: Religiöse Systeme und Ideen dienen demnach bloß der Mehrung eigener Macht und damit der Sicherung eines Überlebensvorteils. Die evolutionären Humanisten wollen Politik machen, um religiöse Traditionen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Die Autoren dieses Beitrages untersuchen das „Manifest“ dieser Bewegung kritisch: Markus Globisch promoviert an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Jonas Maria Hoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fundamentaltheologischen Seminar der Universität Bonn.

Religions-, Ethik- und Philosophieunterricht sind ohne sie kaum denkbar: die großen Religionskritiker wie Feuerbach, Nietzsche, Marx oder Freud. Einflussreicher als die ausgefeilten Entwürfe dieser Vier scheint in der Gegenwart aber ein anderes religionskritisches Modell zu sein. Unter dem Schlagwort „Neuer Atheismus“ werden seit ungefähr fünfzehn Jahren jüngere Konzepte verzeichnet. Einer dieser Ansätze, der sogenannte „evolutionäre Humanismus“, erweist sich im deutschsprachigen Raum als besonders umtriebig. Zwar argumentiert diese Position, wie etwa Saskia Wendel dargelegt hat,1 nicht auf dem gleichen philosophischen Niveau wie die eben genannten Geistesgrößen um Nietzsche und Freud. Dennoch lohnt sich eine Beschäftigung mit ihr. Die Relevanz ergibt sich nämlich nicht zuerst aus der Güte ihrer Argumente, sondern vor allem aus ihrer Reichweite. Diese wiederum hängt mit einem gut organisierten Netzwerk zusammen, das auf der Grundlage des „evolutionären Humanismus“ religionspolitische Forderungen stellt. Grund genug, diesen Ansatz und sein Netzwerk genauer zu betrachten.

Der evolutionäre Humanismus ist eine säkulare Weltanschauung, die sich insbesondere an der namensgebenden Evolutionstheorie sowie an Methoden (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung ausrichtet. Kennzeichen seines humanistischen Welt- und Menschenbildes ist eine optimistische Einschätzung des Entwicklungspotentials von Individuum und Gemeinwesen, befreit von ideologischen Weltbildern und religiösen Traditionen. Gotteskonzepte werden abgelehnt, weil sie auf nicht-beweisbaren Annahmen gründen. Das bekannteste deutschsprachige Werk zum evolutionären Humanismus ist ein von Michael Schmidt-Salomon 2005 im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) vorgelegtes Buch mit dem Titel „Manifest des evolutionären Humanismus“.2 Es bildet das Leitbild dieser 2004 gegründeten Stiftung und ihres Netzwerkes ab. Darüber hinaus strahlt es in gesamtgesellschaftliche Diskurse hinein – nicht zuletzt aufgrund des populärwissenschaftlichen Sprachstils und der provokanten Rhetorik.

Das Konzept des evolutionären Humanismus basiert auf einer spezifischen Lesart der Evolutionstheorie. Eine Kernannahme steht dabei besonders im Fokus: der Eigennutz. Dieses Leitprinzip durchziehe den gesamten evolutionären Prozess und motiviere direkt oder indirekt das Verhalten von Lebewesen: „Alle Organismen […] verdanken ihre Existenz dem eigennützigen Streben ihrer Vorfahren nach Vorteilen im Kampf um Ressourcen und genetischen Fortpflanzungserfolg“ (17). Die Entstehung von Religion lasse sich ebenfalls auf dieses Prinzip zurückführen. Der Glaube an einen Gott oder mehrere Götter war demnach eine kulturell-ideologische Überformung des Eigennutzes, die das Überleben begünstigen konnte: „Evolutionsbiologisch lässt sich ‚Gott’ als ein ‚imaginäres Alphamännchen’ beschreiben […] Wer es versteht, den Eindruck zu erwecken, einen besonders‚ guten Draht’ zum ‚jenseitigen Silberrücken’ zu besitzen, der kann allein dadurch seine Stellung innerhalb der menschlichen Säugetierhierarchie aufbessern“ (61-62).

Nach diesem Verständnis lässt sich Gott als Selektionsvorteil besser erklären als mithilfe religiöser Deutungsversuche. Das Überdauern des Gottesglaubens bis in die heutige Zeit zeigt nach Schmidt-Salomon, wie wirkmächtig dieser Selektionsvorteil immer noch ist. Mithilfe von Religion sei es den Menschen in Vergangenheit und Gegenwart möglich (gewesen), „Herrschafts- und Machterschleichungsstrukturen“ (62) zu etablieren und zu stabilisieren. Religionen sicherten in dieser Weise Unterdrückung und Machtmissbrauch begründungslogisch ab. Dazu griffen sie auf Welterklärungen zurück, die in der Gegenwart aber keinerlei Geltung mehr beanspruchen können, da man „Naturphänomene auf weit elegantere Weise erklären“ (ebd.) kann – etwa mithilfe der Naturwissenschaften. Die Perspektive des evolutionären Humanismus auf naturwissenschaftliche Forschung ist dabei von einem positivistisch-naturalistischen Wissenschaftsverständnis geprägt, nach dem nur solche Ergebnisse brauchbar sind, die sich empirisch nachweisen lassen. Alles, was sich nicht in diesem Sinne beweisen lässt, kann nicht zur Erklärung der Welt beitragen – mit Ausnahme des „philosophischen Denkens“, da dieses „große Übereinstimmungen zum wissenschaftlichen Denken aufweist“ (43). Religiosität und religiöser Glaube, die über einen anderen epistemologischen Weltzugang verfügen, werden so von vornherein diskreditiert.

Ein solcher Wissenschaftsbezug, wie er konstitutiv für den evolutionären Humanismus ist, wirft zugleich die Frage nach dessen eigenem weltanschaulichen Standpunkt auf. Denn weder ist das Manifest eine wissenschaftliche Studie, noch ist es eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu Evolutionstheorie und Humanismus. Bereits die Begriffe „Manifest“ und „Humanismus“ verweisen darauf, dass hier idealtypische Ideen vom gesellschaftlichen Zusammenleben thematisiert werden. Der evolutionäre Humanismus versucht diese Ideen mit einem verengten Verständnis von Wissenschaft und Philosophie in Einklang zu bringen – was nicht immer gelingt. Ein Beispiel hierfür ist die Aussage, dass „der evolutionäre Humanismus keine absoluten Kategorien“ kenne.3 Dies gilt jedoch offensichtlich nicht beim Thema Religion, wenn Schmidt-Salomon schreibt, dass es „von absoluter Dringlichkeit [ist], auf einen Prozess weltweiter religiöser Abrüstung hinzuwirken“ (49). Für evolutionär-humanistische Ziele nimmt Schmidt-Salomon auch theoretische Inkonsistenzen, sprich wissenschaftliche und argumentative Ungenauigkeiten, in Kauf.

Auch an anderen Stellen findet sich dieses inkonsistente Argumentationsmuster: Statistische Erhebungen zum Rückgang des Kirchgangs, zu sinkenden Mitgliederzahlen und zu niedrigen Zustimmungswerten bei Glaubensaussagen werden als Belege dafür geführt, dass eine Bevölkerungsmehrheit die Anliegen des evolutionären Humanismus längst vertritt.4 Dass dabei die in einer Restkategorie zusammengetragenen Konfessionslosen zu einer homogenen Gruppe stilisiert werden, ist aber argumentativ nicht schlüssig. Es hat den Anschein, als würden wissenschaftliche Daten absichtsvoll durch eine voraussetzungsreiche weltanschauliche Brille interpretiert. Die Brille selbst wird jedoch nicht sichtbar gemacht.

Dabei finden sich im Manifest hinreichend Ansatzpunkte für eine Verortung des evolutionären Humanismus als Weltanschauung. So geht man dort beispielsweise von einem „grundsätzlich revidierten Menschen- und Weltbild [aus].“ (14) In diesem ist „die“ Philosophie – eine Differenzierung philosophischer Strömungen nimmt Schmidt-Salomon nicht vor – explizit als Gegenentwurf zu religiöser Sinnstiftung konzipiert. Damit sind im Wesentlichen Kennzeichen einer säkularen Weltanschauung markiert. Texte wie die „zehn Angebote des evolutionären Humanismus“ sollen – wie letztlich das gesamte „Manifest“ – dieser Weltanschauung zur konkreten Umsetzung verhelfen.

In der Fortsetzung zum „Manifest des evolutionären Humanismus“, dem Buch „Hoffnung Mensch“,5 widmet sich Schmidt-Salomon ausdrücklich der weltanschaulichen Dimension des evolutionären Humanismus, und zwar im Kontext der Kategorie des Glaubens. Glauben sei auch für ihn ein konstitutives Element evolutionär-humanistischer Hoffnung: „So glaubensfern er [der evolutionäre Humanismus, MG/JMH] ansonsten auch sein mag, in seinem Zentrum steht ebenfalls ein Glaube, nämlich der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen.“6 Glauben im Sinne des evolutionären Humanismus heißt demzufolge: auf die Wirksamkeit der Evolutionstheorie vertrauend auf ein besseres Leben hoffen. Eine Konkretisierung, wie dieser Glaube beispielsweise soziale oder wirtschaftliche Ungerechtigkeiten beenden kann, findet sich nicht. 

Ein religionskritisches Netzwerk

Die bis hierhin knapp vorgestellten Positionen des evolutionären Humanismus bilden die identitätsstiftende Grundlage eines wachsenden Netzwerks, das erfolgreich unterschiedliche gesellschaftliche Diskurse adressiert. Bereits im „Manifest“ ist eine vollständige Aufklärung als Leitziel grundgelegt. Aufklärerinnen und Aufklärer, wie sich die evolutionären Humanisten selbst bezeichnen, müssen „daran arbeiten, das eigenständige Profil eines konsequenten, aufklärerischen Humanismus zu schärfen und dessen Vorteile gegenüber den religiösen Konkurrenzunternehmen herauszuarbeiten.“7 Diesem Gesamtauftrag widmet sich ein ausdifferenziertes Netzwerk unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, die Argumente und Forderungen in unterschiedliche Kontexte hineintragen: in Publikationen, Wissenschaft, Politik, Nachwuchsförderung und Kunst- und Protestaktionen.

Zunächst kommen ihre publizistischen Erfolge in den Blick. Zu diesen tragen sowohl der Humanistische Pressedienst (hpd) als auch der Alibri-Verlag bei, in dem das erwähnte „Manifest“ veröffentlicht wurde. Seit einigen Jahren werden zudem in der Sparte „Religionskritik & Humanismus“ des Tectum-Verlages, dessen Gründer ein langjähriges Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung ist, religionskritische Sachbücher publiziert. Im Nomos-Verlag erscheint seit 2019 eine wissenschaftliche Reihe, die vom Institut für Weltanschauungsrecht herausgegeben wird. Letzteres besteht vorwiegend aus Mitgliedern der Giordano-Bruno-Stiftung. Die bisher veröffentlichten Bände thematisieren Fragen weltanschaulicher Neutralität des Staates und kritisieren vermeintlich einseitige, den Religionen zugewandte Gesetzesrahmen.8

Neben diesem Institut gehört auch die Forschungsgruppe „Weltanschauungen in Deutschland“ (fowid) zu diesem Netzwerk, die nationale und internationale Studiendaten zu Religion und Weltanschauung auswertet. Eine weitere wissenschaftsorientierte Einrichtung ist das Hans-Albert-Institut, benannt nach dem bekannten Philosophen und Beirat der Stiftung. Es verhandelt politische wie wissenschaftliche Themen und wirkt damit in zahlreiche Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens hinein. Letzterem widmen sich auch der Zentralrat der Ex-Muslime (ZdE) und die Partei der Humanisten (Parteiabkürzung: Die Humanisten).

Seit einigen Jahren wird eine verstärkte Nachwuchsförderung etwa durch Regional- und Hochschulgruppen betrieben. 2021 gegründet, lobt das Bertha-von-Suttner-Studienwerk nicht-staatlich finanzierte humanistische Studienstipendien aus. Im bereits erwähnten Hans-Albert-Institut sowie innerhalb der Partei Die Humanisten übernehmen vornehmlich junge Menschen Verantwortungspositionen.

Bei medial bedeutenden religiösen Veranstaltungen (Kirchentag, Katholikentag, etc.) werden durch Kunst- und Protestaktionen vermittelte politisierte Forderungen artikuliert, wie etwa ein Kooperationsverbot zwischen Staat und Kirchen. Dass solche Forderungen auch politisch wahrgenommen werden, zeigt die Entscheidung der Stadt Münster, den 2018 durchgeführten Katholikentag nur mit Sachleistungen zu unterstützen.9 Zu dieser Entscheidung haben Argumente religionskritischer Gruppierungen maßgeblich beigetragen.

All diese und weitere Bereiche und Formate, in und mit denen der evolutionäre Humanismus öffentlich in Erscheinung tritt, sind von Forderungen nach Eindämmung religiöser Traditionen und Denkweisen in gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsprozessen geprägt. Wie sich diese in politischen Maßnahmen niederschlagen, wird am Beispiel des Wahlprogramms der Partei Die Humanisten für die Bundestagswahl 2021 exemplarisch deutlich.

Mit der Partei Die Humanisten existiert seit 2014 eine Partei, die beansprucht, den evolutionären Humanismus in konkrete politische Forderungen zu übersetzen. Wichtig ist vorab der Hinweis, dass bereits im „Manifest“ politische Forderungen aufgestellt werden. Schmidt-Salomon regt dort nicht nur einen veränderten Umgang des Staates mit den Religionsgemeinschaften an, sondern greift auch auf völlig andere Themenfelder zu. So beinhaltet das „Manifest“ ebenfalls konkrete Überlegungen zu Fragen der Wirtschaftsorganisation oder des Tierschutzes. Auch diese Forderungen sind immer vor dem Hintergrund des evolutionären Humanismus als Ganzem zu lesen. Wenn Schmidt-Salomon etwa fordert, Massentierhaltung solle verboten werden, dann hängt dies unmittelbar mit der Kritik einer religiös begründeten Sonderstellung des Menschen zusammen.10 Auch die politischen Konzepte der Partei der Humanisten sind in dieser Weise an ihre weltanschauliche Begründung gebunden. 

Mit ihrem Wahlprogramm11 zur Bundestagswahl 2021, bei der Die Humanisten 0,1 Prozent der bundesweiten Zweitstimmen erhielten (47.838 Stimmen), machen sie deutlich, dass sie keineswegs eine monothematische Partei sind. Sie bedienen das gesamte Spektrum politischer Arbeitsfelder von der Klima- bis zur Außenpolitik. Wie die Grundlagen des evolutionären Humanismus hier jeweils politisch ausbuchstabiert werden, zeigt sich beispielsweise im Abschnitt zur Sozialpolitik: „Humanistische Sozialpolitik setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe, Chancengleichheit und Unterstützung in Not. Im Mittelpunkt steht für uns die Selbstbestimmung des Einzelnen“ (12). Die Verbindung zum Eigennutzprinzip bleibt klar erkennbar, da es um die Orientierung am Einzelnen geht. Doch auch die Hilfe in der Not bleibt begründungslogisch an den Maßstab des Eigennutzes gebunden, wie ein erneuter Blick in Schmidt-Salomons „Manifest“ zeigt. Anhand von Studienergebnissen wird hier der Eindruck erweckt, eine vergleichsweise schmale soziale Schere zwischen arm und reich wirke sich positiv auf die durchschnittliche Lebenserwartung aus.12 Interpretierte man „Unterstützung in Not“ nun also etwa als Auftrag, Armut zu bekämpfen, dann wäre auch dies nicht als ethischer Selbstzweck, sondern instrumentell hinsichtlich des Eigennutzes zu verstehen: Eine ansteigende Lebenserwartung der Gesellschaft wirkt sich letztendlich auch positiv auf das einzelne Individuum aus. Solidarität wird hier in Um-zu-Konstruktionen gedacht, die allesamt am Eigennutz orientiert sind.

Dieser Aspekt hängt wiederum mit dem Selbstverständnis der Humanisten zusammen. Sie verstehen ihre Politik als von einer stabilen wissenschaftlichen Grundlage abgeleitet. Wissenschaft und Rationalität, wie sie sie verstehen, kommt ein absolutes Primat zu. Zur Begründung ihrer Forderungen werden deshalb immer wieder Attribute wie „rational“ oder „wissenschaftlich“ eingestreut. Suggeriert wird eine Eindeutigkeit, die ohne Weiteres in konkrete Politik gegossen werden kann. Gefordert wird so etwa eine „evidenzbasierte Medizin“ oder auch der „Ausbau und die Weiterentwicklung sowie de[r] verantwortungsvolle[] Einsatz von Weltraumtechnologien“. Über das argumentative Muster bleiben auch diese Forderungen letztlich mit der Religionskritik verbunden. Das Wissenschaftsverständnis des evolutionären Humanismus wird nämlich in der Differenz zu religiösen Überzeugungen konturiert. Im Wahlprogramm der Humanisten wird das semantisch etwa durch die Kennzeichnung „dogmatische[r]“ Positionen angezeigt. Diese verhinderten „Möglichkeiten zur Entfaltung und Weiterentwicklung“ und müssten deshalb etwa aus der Bildung entfernt werden. Konkret soll deshalb beispielsweise der bekenntnisorientierte Religionsunterricht durch einen neutralen Ethikunterricht ersetzt werden. Zudem muss sich Sexarbeit „konservativen Vorurteilen“ entgegenstellen, Tiere müssen vor „religiösen Riten“ geschützt und „religiöse, kulturelle und historische Grenzen“ sollen überwunden werden, damit eine friedliche Weltgemeinschaft entstehen kann.

Besonders aufschlussreich ist dabei ein gestalterisches Detail im Parteiprogramm: Es ist von Symbolbildern durchzogen. Wo es um Mobilität und Infrastruktur geht, ist eine U-Bahn abgebildet, beim Thema Transparenz wird die gläserne Kuppel des Reichstags gezeigt. Die Symbolbilder unterstützen die politischen Forderungen und lockern das Programm ästhetisch auf. Bild und Text werden einander harmonisch zugeordnet. An einer Stelle wird dieses Verfahren aber durchbrochen. Die Doppelseite zur Bildungspolitik beinhaltet ein Bild, das drei Personen zeigt, die sich lesend und schreibend in Bücher vertiefen. Was auf den ersten Blick harmoniert, sorgt bei genauerer Betrachtung für Irritation. Die hohe Auflösung des Bildes erlaubt, einen der Texte zu identifizieren. Es handelt sich um das Buch „Prayer“13 des evangelischen Theologen Timothy Keller. Während die Humanisten in ihrem Text fordern, den konfessionellen Religionsunterricht abzuschaffen, zeigt das Bild einen theologischen Bildungsvorgang – vermutlich eine gestalterische Unaufmerksamkeit bei der Erstellung des Wahlprogramms. Das Detail macht aber einen wichtigen Punkt sichtbar: Bei genauerem Hinsehen zerbricht das Prinzip der Eindeutigkeit. Die hohen Standards des evolutionären Humanismus mit ihrer starken Wissenschaftsorientierung werden ausgerechnet durch einen theologischen Text ins Stolpern gebracht. Dies ist in zweifacher Weise bemerkenswert. Einerseits wird das Faible für wissenschaftlich-methodische Genauigkeit performativ konterkariert, andererseits wird der blinde Fleck in der evolutionär-humanistischen Perspektive auf Religion erkennbar.

Dass die Störung im Programm ausgerechnet von einem theologischen Text ausgeht, leitet abschließend zu einer kurzen Kritik der evolutionär-humanistischen Weltanschauung über.

Eine kurze Erwiderung

Die Bedrohlichkeit von Religion wird im evolutionären Humanismus darin erkannt, dass sie Macht und Unterdrückung begründen und legitimieren könne. Religionen schafften es „spielend, ihre Anhänger bis ans Äußerste ihrer Leistungsbereitschaft zu bringen“.14 Dabei ist es laut Schmidt-Salomon konstitutiv, dass religiöse Menschen „etwas zu wissen [glauben], was auch morgen noch gültig sein soll, obwohl es in der Regel schon heute widerlegt ist“.15 Religion wird hier als Transformationsmechanismus beschrieben, der Unsicherheit in Sicherheit übersetzt. Die Unerklärbarkeit von Naturphänomen führt zur Erfindung eines hinter der Welt stehenden Weltenlenkers. Eine unsichere Grundlage wird in einen absoluten Gewissheitsanspruch umgemünzt.

Dass Religion eine völlig andere Wirkung entfalten kann, zeigt das Beispiel des irritierenden Symbolbilds aus dem Wahlprogramm der Humanisten. Es lenkt den Blick auf ein anderes Religionsverständnis. Religion dient nicht einfach nur der Sicherung von Überzeugungen, sie weist zugleich immer auch auf Grenzen möglicher theologischer Gewissheiten hin. Besonders greifbar wird dieser Mechanismus im Bilderverbot der drei monotheistischen Weltreligionen. Gotteskonzepte werden durch sie auf die Unverfügbarkeit ihres Bezugspunktes hingewiesen und so letztlich an die eigenen Grenzen erinnert. Monotheistische Gottesbilder sind in dieser Weise nicht trivial. Sie legen es nicht auf Vereindeutigung an, sondern tragen ein Irritationspotential in sich. Im Christentum führt dieses Potential dazu, dass entscheidende Glaubenssätze als Paradoxien formuliert werden. Von der Inkarnation („wahrer Gott und wahrer Mensch“) über die Vorstellung einer Jungfrauengeburt bis hin zur Auferstehung werden Denkfiguren präsentiert, die sich einer eindeutigen Auflösung entziehen. Das verzerrte Religionsverständnis des evolutionären Humanismus wird diesen Irritationen nicht gerecht. Es muss dieses Irritationspotential vereindeutigen oder ausblenden, um missbräuchliche Instrumentalisierung von Religion, wie im Falle des religiösen Fundamentalismus, als authentisch, als Regelfall darstellen zu können.

In theoretischer Hinsicht könnten hier weitere kritische Aspekte referiert werden. Vermutlich würden sie aber nur davon ablenken, dass die theologische Auseinandersetzung mit dem evolutionären Humanismus allem voran deshalb relevant ist, weil er seine antitheologischen Positionen, Forderungen und schließlich auch sein Weltbild professionell vernetzt in die unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft hineinträgt. Indem er dabei ein Zerrbild von Religion aufbaut, unterschreitet er Niveaugrenzen, um politisch und gesellschaftlich eine größere Aufmerksamkeit generieren zu können, als dies mit einer differenzierten Auseinandersetzung wohl möglich wäre.

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