Die Nächstenliebe globalisierenInterview mit Michael Czerny SJ, Flüchtlingsbeauftragter des Papstes

Noch in diesem Jahr, am 11. Dezember in Marrakesch, wollen die Vereinten Nationen zwei Vereinbarungen zum Umgang mit Geflüchteten und Migranten unterzeichnen. In die Vorgespräche hat sich der Heilige Stuhl mit 20 Handlungsempfehlungen eingebracht. Michael Czerny SJ ist der Flüchtlingsbeauftragte des Papstes, genauer: Untersekretär des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen.

Noch in diesem Jahr, am 11. Dezember in Marrakesch, wollen die Vereinten Nationen zwei Vereinbarungen zum Umgang mit Geflüchteten und Migranten unterzeichnen. In die Vorgespräche hat sich der Heilige Stuhl mit 20 Handlungsempfehlungen eingebracht. Michael Czerny SJ ist der Flüchtlingsbeauftragte des Papstes, genauer: Untersekretär des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, seit 2017 zuständig für die Sektion für Migranten, Flüchtlinge und Opfer von Menschenhandel.

Im Alter von zwei Jahren ist der Jesuit 1948 selbst mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach Kanada geflohen. 1963 trat er in den Orden der Jesuiten ein, 1979 gründete er in Toronto das Zentrum für Glaube und Soziale Gerechtigkeit. Nach einem Aufenthalt als Universitätsdirektor in San Salvador war er ab 1992 für zehn Jahre an der Generalskurie der Jesuiten in Rom als Sekretär für Soziale Gerechtigkeit tätig – im Anschluss gründete er das Afrikanische AIDS-Netzwerk der Jesuiten und lehrte in Nairobi.

Diesen Sommer bereiste Pater Czerny Deutschland, um Gespräche mit Politikern und Kirchenvertretern zu führen. Am 29. Juni hielt er einen Vortrag in der Katholischen Akademie Berlin – dort gab er am nächsten Morgen das folgende Interview.

Pater Czerny, was ist Ihre Aufgabe im Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen im Vatikan?

Ich bin neben Fabio Baggio CS einer von zwei Untersekretären, die verantwortlich für die 2017 gegründete Sektion für Migranten und Flüchtlinge sind – die Sektion ist auch verantwortlich für die Opfer von Menschenhandel. Sie untersteht direkt dem Heiligen Vater.

Was sind ihre größten Erfolge bislang?

Unsere wichtigste Mission ist es, den Bischöfen auf der ganzen Welt zu helfen, ihnen beizustehen, sie zu unterstützen und zu motivieren – Gleiches gilt für die Asylsuchenden, Migranten, Flüchtlinge und Opfer von Menschenhandel. Unser Job ist es, der Kirche dabei zu helfen, Lösungen zu entwickeln. Der wichtigste Erfolg ist, wie wir es geschafft haben, die Kommunikation mit den Bischöfen aufzubauen und sie miteinzubeziehen.

Die Situation der Bischöfe stellt sich bestimmt sehr unterschiedlich dar, von afrikanischen Ländern bis hin zu reichen europäischen Ländern, die sich zunehmend abschotten – das muss schwer zu koordinieren sein.

Das ist es nicht, weil es unser Job ist, jedem Bischof jeweils so zu helfen, wie es in seiner jeweiligen Situation angemessen ist. Wir erwarten also nicht – es ist gar nicht notwendig, dass jeder Bischof vor denselben Problemen steht. Es geht gerade darum, diese schematische einheitliche Vorgehensweise zu vermeiden – die auch gar nicht funktionieren würde. Wir ermutigen jeden Einzelnen, jede Bischofskonferenz und sogar jede Diözese, sich der Situation zu stellen, die sich ihnen bietet. Das geht auch aus den 20 pastoralen Handlungspunkten hervor, die wir kirchlichen Institutionen empfehlen. Diese differenzierte Herangehensweise bedeutet, dass wir sensibel und uns verschiedener Situationen bewusst sein müssen. Aber unsere Arbeit wird auf einer regionalen Basis organisiert – in anderen Worten: Unsere Mitarbeiter sind regionale Koordinatoren. Da ist zum Beispiel jemand, der sich immer mit Westeuropa befasst und ein anderer, der für Osteuropa verantwortlich ist.

Wie sieht Ihre Arbeit für Westeuropa aus, insbesondere für Deutschland?

Ich bin zwei oder drei Mal in Deutschland gewesen, seitdem das Dikasterium die Arbeit aufgenommen hat. Wir helfen den Bischöfen vor Ort mit Besuchen, indem wir korrespondieren und ihre Fragen beantworten, aber auch, indem wir sehen – das trifft auf Deutschland zu –, dass die Bischöfe sich bereits mit der Situation auseinandersetzen. Die deutschen Bischöfe haben mit Erzbischof Stefan Heße ja sogar einen eigenen Sprecher für Migration ernannt. Vielleicht müssen wir hier bloß „Weiter so!“ sagen und sie motivieren. Wenn sie nicht viel Hilfe brauchen, haben wir hier nicht viel zu tun.

Und entspricht das Ihrer persönlichen Einschätzung, dass bei der deutschen Kirche alles gut läuft?

Sie scheinen eine gute Arbeit zu machen. Wir sind bereit zu helfen, wenn sie darum bitten – oder wenn wir sehen, dass es größere Schwierigkeiten gibt. Wir freuen uns, sie dabei zu unterstützen, weiter zu machen. Letztlich wissen sie besser, was vor Ort wichtig ist, als wir.

In welchen Regionen haben die Bischöfe mehr Fragen als in Deutschland?

Am interessantesten ist es überall dort, wo grenzüberschreitende Kooperation zwischen den Bischöfen notwendig ist. Das ist für mich ein perfektes Beispiel für unsere Arbeit, zum Beispiel in Mexiko, wo die Bischöfe denen in Kalifornien und Texas gegenüberstehen. Oder die Bischöfe in Haiti, die den Bischöfen der Dominikanischen Republik begegnen. Oder Venezuela und Kolumbien; Brasilien und Guyana. In all diesen Fällen gilt: Wenn die Bischöfe der jeweiligen Diözesen auf beiden Seiten der Grenzen miteinander zusammenarbeiten, dann wird die Grenze selbst immer weniger zum Problem für alle Menschen. Dann fühlen sich die Menschen weniger verletzlich und verloren. Tatsächlich gehen sie, ohne es direkt zu bemerken, von einer Kirche zur nächsten. Sie bleiben in derselben katholischen Kirche, aber in zwei verschiedenen Einflussbereichen. Und das ist eine wundervolle Sache.

Konnten die Bischöfe durch diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit auch auf politischer Arbeit etwas verändern? Es ist ja das eine, wenn sich die Bischöfe von Mexiko und den USA gut verständigen und mit einer Stimme sprechen. Aber inwieweit kann das auch auf politischer Ebene etwas verändern? Donald Trump hört ja nicht unbedingt auf Papst Franziskus – oder auch auf die Bischöfe in seinem eigenen Staat.

Präsident Trump muss nicht unbedingt auf Papst Franziskus hören, aber er sollte auf die Bischöfe im eigenen Land hören. Und die erheben gemeinsam mit den Bischöfen in Mexiko ihre Stimme. Ihre öffentlichen Erklärungen entwickeln sie gemeinsam und sie unterzeichnen sie auf beiden Seiten der Grenze. Das ist eine sehr gute Sache.

Was können Sie tun, wenn es zwischen zwei Ländern keine direkte Grenze gibt, wie zwischen Deutschland und Syrien?

Das ist eine komplexere Frage, weil insgesamt mehr Staaten beteiligt sind. Hier muss man zuerst fragen: Wie sähe die ideale Lösung aus, was genau wollen wir erreichen? Wenn alle Kirchen, die an einer bestimmten Fluchtroute liegen, miteinander in Verbindung treten könnten, wäre das das Beste für uns. In solchen Fällen wären wir glücklich, wenn alle Hilfsbedürftigen, die unterwegs sind, sagen: „Wohin auch immer wir gehen, was auch immer geschieht – die Kirche ist mit uns.“

In manchen Ländern sind die Bischöfe skeptischer gegenüber Einwanderern, beispielsweise in Osteuropa: Ungarn, Polen …

Manche der Bischöfe sind skeptisch, manche sind es weniger. Und selbst wenn die Bischöfe skeptisch sind: In den Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort sieht es oft anders aus. Es gibt Länder, wo man erst den Eindruck hat, dass sie keine Antwort auf Einwanderer haben – aber in Wahrheit sagen die Hilfsbedürftigen: „Wir wandten uns an diese bestimmte Gemeinde und uns wurde geholfen; in diesem bestimmten religiösen Haus wurden wir aufgenommen; dieser Bischof stand uns bei.“ Wir sehen: Selbst in den Ländern, wo die Medien den Eindruck vermitteln, es gäbe keine Fürsorge, findet sie statt.

Aber vielleicht nicht in demselben Ausmaß wie anderswo.

Das ist okay. Ich zitiere Mutter Theresa: „Kümmere dich nicht um Zahlen.“ Die Statistiken sind nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes.

Allerdings gibt es doch Länder, die die Einwanderung mit aller Härte bekämpfen wollen, die Asylsuchende gewaltsam fernhalten wollen. Europa schließt seine Grenzen immer weiter und es sind nicht nur die populistischen Parteien, sondern auch traditionell christliche Parteien, die besonders kritisch gegenüber Einwanderern sind. Wie sollte die Kirche damit umgehen?

Das kommt immer auf das jeweilige Land und die jeweilige Kirche an. In Deutschland wären die deutschen Bischöfe zu fragen, für Europa allgemein der Zusammenschluss europäischer Bischöfe, CCEE und COMECE.

Würden Sie nicht zustimmen, dass es oft eine große Differenz zwischen der humanen und liberalen Flüchtlingspolitik gibt, für die Papst Franziskus steht, und der Politik, wie sie sich viele in Europa wünschen? Viele Menschen, auch Christen, sagen: Was Franziskus fordert, ist schön und gut, aber es ist nicht realistisch umzusetzen.

Das ist auch das, was sie über das Evangelium sagen. Die Einstellung ist dieselbe. Wir müssen unseren Glauben in die Praxis umsetzen und ihn entsprechend der realen Verhältnisse vor Ort leben. Wir müssen das Evangelium im Hier und Jetzt vertreten, nicht nur auf dem Papier. Der gute Samariter war jemand, der einem Ausländer geholfen hat. Wir müssen uns außerdem eines besonders vor Augen führen: Wir sind sehr glücklich über die Vorteile der globalisierten Welt, dass wir Produkte aus allen Ländern haben und als Touristen überall hin reisen können. Vielleicht sollten wir auch unsere Nächstenliebe ein bisschen globalisieren.

Die Kirche engagiert sich nicht nur über die Bistümer in der Flüchtlingshilfe – wie unterstützen Sie beispielsweise Ordensleute und weitere katholische Einrichtungen?

Von Beginn an hat die Sektion für Flüchtlinge und Migranten ihre Hand in Richtung verschiedener katholischer Orden, Institutionen und Organisationen ausgestreckt, die im Bereich der Migration ihren Dienst tun. Manche, die mir gerade einfallen – auf die Gefahr hin, einige zu vergessen –, sind die Internationale Katholische Migrationskommission, Caritas Internationalis, der Malteserorden, der Jesuiten Flüchtlingsdienst, das Internationale Migrationsnetzwerk Scalabrini, und Talitha Kum, das internationale Netzwerk religiöser Schwestern gegen Menschenhandel. Wir beraten uns und tauschen uns über Sorgen und Einsichten betreffend wichtiger Prozesse wie der Ausarbeitung der Global Compacts der Vereinten Nationen aus. Darüber hinaus teilen wir uns Ressourcen wie die 20 Pastoralen Handlungsleitlinien oder das hilfreiche Video, in dem der Heilige Vater unsere grundsätzliche Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen erklärt.

Was war der Beitrag des Heiligen Stuhls zu den Global Compacts on Migrants and Refugees, die noch in diesem Herbst von den Vereinten Nationen unterzeichnet werden sollen?

Unsere Sektion hat eine Handreichung mit 20 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Migranten und Flüchtlingen in die Verhandlungen eingebracht. Darin geht es um den Ausbau legaler und sicherer Einreisemöglichkeiten für Migranten und Flüchtlinge, den Schutz der Menschenrechte und -würde weltweit, die Bekämpfung von Fluchtursachen wie Kriegen, Katastrophen und dem Klimawandel, sowie um Empfehlungen zur Integration und Partizipation. Der nächste wichtige Schritt nach deren Unterzeichnung wird die Umsetzung der Global Compacts sein, denn die Vereinbarungen werden noch keinen rechtlich verbindlichen Effekt haben.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass diese Vereinbarungen von den Staaten tatsächlich aufgenommen und umgesetzt werden? In Deutschland zum Beispiel wurde jüngst klar, dass auf Bundes- und EU-Ebene vereinbarte Klimaziele wohl leider nicht erreicht werden können.

Deutschland mag in Ihrem Beispiel zwar seine Ziele nicht erreichen. Andere Länder oder Regionen oder Städte innerhalb Deutschlands aber schon. Sie sehen: Auch nichtverbindliche Vereinbarungen motivieren die Menschen. Es gibt einzelne Städte, die vorangehen und umweltfreundlicher sind als das Land, in dem sie liegen. In den USA gibt es viele Städte, die sich zusammentun und viel für Flüchtlinge tun – das bedeutet natürlich viel Arbeit, ist aber eine wunderbare Sache.

Ihre eigene Familie ist 1948 aus der Tschechoslowakei geflohen, als sie zwei Jahre alt waren. Dafür musste jemand eine Bürgschaft für Ihre Familie übernehmen. Wie ist Ihre Familie damals in Kanada aufgenommen worden?

Wir waren Teil der Emigrationswelle nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir wurden gut behandelt, aber natürlich hat es auch Probleme und Vorurteile uns gegenüber gegeben. Wir fühlten uns manchmal als Fremde, als Eindringlinge. Diese Gefühle bleiben sogar dann bestehen, wenn objektiv gesehen alles gut gelaufen ist. Die allerwichtigste Integrationserfahrung für meinen Bruder und mich war die Schule. Selbst wenn wir innerhalb unserer Familie in einem anderen kulturellen Milieu gelebt haben: In der Schule waren wir mit den anderen kanadischen Kindern zusammen. Dort – und in der Gemeinde – haben wir am schnellsten und am besten gelernt, wie Kanada funktioniert. Gleiches gilt für meinen Vater und seine Arbeitsstelle, wenn auch in geringerem Ausmaß.

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