Ist die Zukunft brasilianisch?

Brasilien, wo vom 23. bis 28 Juli in Rio de Janeiro der Weltjugendtag stattfindet, hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine rasante wirtschaftliche Entwicklung hinter sich gebracht. Der Wirtschaftshistoriker Michael Huhn, Archivar, Bibliothekar und Referent für Brasilien bei Adveniat, beschreibt die weiterhin bestehenden sozialen Spannungen und die Veränderungen im Katholizismus der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt.

"Die Zukunft hat sich brasilianisiert." Was der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro in fünf Worte fasst, ist mehr als ein Bonmot: Sprachlich ein Paradox, eine Aussage über Künftiges im Perfekt, gibt sich der Satz als Feststellung, nicht als Prognose. Er spielt mit einem anderen oft zitierten Ausdruck, der die Wörter "Zukunft" und "Brasilien" verbindet: "Brasilien. Ein Land der Zukunft", so der Titel eines 1941 erschienenen und sogleich ins Portugiesische übersetzten Buches von Stefan Zweig († 1942). Mit diesem Essay, das ein romantisch-ideales Bild einer als exotisch wahrgenommenen Neuen Welt zeichnet, versuchte Stefan Zweig, sich - auf seine Weise - das Land zu eigen zu machen, in das er sich im Jahr zuvor geflüchtet hatte, und die wehmütige Erinnerung an die Alte Welt zu lindern: "Europa hat unermesslich mehr Tradition und weniger Zukunft, Brasilien weniger Vergangenheit und mehr Zukunft!"

Ein Land boomt - und bestimmt die Zukunft

Die Zusicherung eines Ausländers, dass ihr Land zukunftsträchtig sei, tat den Brasilianern wohl. Denn das Bürgertum in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro und im aufstrebenden São Paulo sah sich eher von Rückständigkeit umfangen als imstande, das Vorbild europäischer Modernität einzuholen. In ihrer archaischen und frommen Lebensweise waren die Menschen im Nordosten ihren fortschrittlichen Landsleuten im Süden derart peinlich, dass das "aufgeklärte" Brasilien es schließlich nicht mehr hatte ertragen können und im "Krieg am Ende der Welt" in Canudos, in der Halbwüste des Sertão, das "falsche" Brasilien vernichtete. Euclides da Cunha schildert die grausamen Feldzüge gegen Canudos in der dokumentarisch­poetischen Erzählung "Os Sertões", dem 1902 erschienenen Meisterwerk der brasilianischen Literatur1. Es ist auch ein Zeugnis der Verstörtheit der Entwickelten angesichts derer, die sich nicht entwickeln lassen wollen. Und Amazonien erschien ohnehin zu unermesslich, um es überhaupt zu versuchen. "Brasilien ist viel zu groß, um sich entwickeln zu können", pflegte Stefan Zweig noch zu hören.

Dann, ein Jahrhundert nach Euclides da Cunha, zwei Generationen nach Stefan Zweig, die Kehrtwende von Eduardo Viveiros de Castro: "Die Zukunft hat sich brasilianisiert." Denn er schreibt das Zweigsche Begriffspaar nur vordergründig fort. Tatsächlich stellt er es auf den Kopf, zeitlich wie sachlich. Statt der Prognose "Brasilien hat Zukunft" nun die Diagnose "Die Zukunft ist bereits brasilianisch"; statt eine Zukunft für Brasilien zu eröffnen, gibt Brasilien jetzt der Zukunft vor, was Zukunft ist: Brasilien. Ein Paukenschlag.

Was ist dran an dieser Behauptung? Ein Blick auf das Brasilien des Jahres 2013 und der Vergleich mit dem Brasilien der Jahrtausendwende bietet viele gute Gründe, Eduardo Viveiros de Castro Recht zu geben, jedenfalls dem, der "Zukunft" mit "Veränderung" verbindet. Denn das Land und seine Gesellschaft, die Städte, die Straßen und die Straßenbilder, der Alltag der Brasilianer verändern sich in einem Tempo, das den deutschen Beobachter staunen macht. "Die Brasilianer" selbst - hier muss ich vereinfachen - staunen schon (fast) nicht mehr, sondern schauen auf die Dynamik ihres Landes mit der Zufriedenheit aus guter Gewohnheit. Ein Brasilianer staunt eher, wenn er nach längerer Zeit wieder nach Deutschland kommt: "Alles wie gehabt bei euch, ein gemütlich-gemächlicher Trott." Die Dynamik seiner Heimat wird einem brasilianischen Gast offenkundig, wenn er seine Heimat dem (vermeintlich) behäbigen Deutschland gegenüberstellt.

Eine Treibkraft der Veränderung ist das seit Ende der 1990er Jahre anhaltende Wirtschaftswachstum, getragen von der Landwirtschaft (Brasilien hat die USA als größten Exporteur von Agrargütern hinter sich gelassen), vom Bergbau, von der Erdöl- und Erdgasförderung und von der produzierenden Industrie (Brasilien stellt mehr Autos her als Großbritannien und Frankreich zusammen)2. Am Bruttoinlandsprodukt gemessen, überflügelte Brasilien im Jahr 2011 zwei weitere Länder, Großbritannien und Italien, und ist nun die sechstgrößte Volkswirtschaftskraft weltweit. Brasiliens Handelsbilanz weist hohe Überschüsse auf: Der einstige Schuldner ist zum Gläubiger geworden, bei dem sich nicht zuletzt die USA immer tiefer verschulden. Der brasilianische Real zählt zu den stärksten Währungen der Welt. Sein Kurs gegenüber dem Euro stieg seit 2003 um 32, gegenüber dem US-Dollar um 66 Prozent. Retteten reiche Brasilianer ihr Vermögen einst vor der Inflation ins Ausland, so haben sich die Geldströme zu einer "Flucht in den Real" umgepolt.

All das sind (auch) Erfolge der Wirtschaftspolitik der beiden seit zehn Jahren regierenden Präsidenten der Arbeiterpartei: Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (seit 2011). Ihre Regierungen sorgten dafür, dass nun auch die Reichen ihre Steuern zahlen - jedenfalls mehr als zuvor. Das wachsende Steueraufkommen ermöglichte die Programme Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa Família (Familienbeihilfe), die Millionen von Brasilianern aus existenzieller Not befreiten.

Vor allem wuchsen mit der Wirtschaft die Beschäftigungschancen. Da es nach Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit nun an qualifizierten Arbeitskräften mangelt, steigen die Reallöhne, zum Beispiel die der Bauarbeiter zwischen 2002 und 2012 inflationsbereinigt um 220 bis 280 Prozent (je nach Region), wie Stichproben aus den Abrechnungen der von Adveniat geförderten Bauprojekte zeigen. Wenn man, wie in Brasilien üblich, den Begriff "Mittelschicht" weit fasst, nämlich Monatseinkommen zwischen 520 Euro, dem Doppelten des Mindestlohnes, und 2000 Euro zugrunde legt, dann stiegen im letzten Jahrzehnt 40 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht auf.

Armut - Bildung - Demografie

Das alles heißt nicht, dass die Armut überwunden ist, im Gegenteil: In weiten Teilen der nordöstlichen Bundesstaaten (in der Reihenfolge des geringsten Bruttoinlandsproduktes: Maranhão, Piauí, Alagoas, Paraíba und Ceará) herrscht Massenarmut3. Noch immer schuften Tagelöhner auf den Plantagen unter sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen. In den Städten bleibt Millionen Brasilianern nichts anderes übrig, als von Tag zu Tag ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor zu suchen. Die Ungleichheit ist erdrückend, regional (denn "das" Brasilien gibt es nicht, nur eine Fülle von "Brasilianitäten") wie sozial: krasser Reichtum neben krasser Armut. Der Gini-Koeffizient, ein Maß der relativen Ungleichheit von Pro-Kopf-Einkommen, lag 2011 für Brasilien bei dem selbst im lateinamerikanischen Vergleich erschreckend hohen Wert von 0,5594.

Eine Altlast, der sich erst - viel zu spät - die Regierungen der Arbeiterpartei zu widmen begannen, ist das marode Bildungssystem. Es ist der Flaschenhals, der jeden weiteren Aufschwung Brasiliens jetzt schon behindert und künftig verhindern wird. Bei allen Vergleichen der Leistungen von Schülern in den 34 OECD-Staaten liegt Brasilien auf einem der untersten drei Plätze, bei Mathematik und den Naturwissenschaften gar auf dem letzten. An den Hochschulen sieht es kaum besser aus. Zwei Drittel der brasilianischen Hochschulen sind privat, und das bedeutet in Brasilien: um Klassen schlechter als die öffentlichen. Die privaten Hochschulen sind Unternehmen zum Erwerb eines Titels ohne akademischen Anspruch. Eine Untersuchung im Jahr 2004 hatte ergeben, dass nur elf Prozent der Lehrkräfte an den privaten Universitäten promoviert waren5. Um dem Ruin der Hochschulen durch deren Kommerzialisierung zumindest etwas entgegenzuwirken, ließ Präsident Lula ein Dutzend Bundesuniversitäten gründen und schuf Stipendienfonds für begabte Studenten6.

Eine Zukunftslast sind schon jetzt die demografische Entwicklung und deren Folgen. Brasilien erscheint einem europäischen Besucher als ein "junges" Land, voller Kinder und Jugendlicher. Doch auch Brasilien altert, und zwar sehr schnell. Der "demografische Übergang" von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten, der in Deutschland ein Jahrhundert währte, vollzog sich in Brasilien in nur der halben Zeit. Noch 1960 brachten brasilianische Frauen durchschnittlich 6,3 Kinder zur Welt. 50 Jahre später sind es noch 2,0 Kinder7. Brasilien ist unter die demografische Reproduktionsrate von 2,1 Kindern je Frau gefallen. Die brasilianische Bevölkerung wächst nur noch dank der Einwanderung aus den Nachbarländern.

Einerseits ein Problem, anderseits jedoch - und das überwiegt - eine Lösung vieler Probleme ist die Binnenmigration. Zu Recht sprach man vor Jahrzehnten von "Landflucht", und Landflucht gibt es immer noch, besser gesagt: Landvertreibung. Denn im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft fielen und fallen riesige Flächen dem "Landgrabschen" (Landgrabbing) anheim. Teils sind es einheimische, teils ausländische, zumal chinesische Investoren - in diesem Fall spricht man in Brasilien von "Estrangeirização" (Verausländerung) -, die Land kaufen oder langfristig pachten, um Monokulturen anzulegen, die eine hohe Rendite versprechen. Die ansässigen Kleinbauern und ihre Gehöfte werden "abgeräumt". Die meisten sehen nur einen Ausweg: in die Stadt8.

Landflucht und Landvertreibung sind Push-Faktoren der Binnenmigration. Stärker ist jedoch der Pull-Faktor: die Anziehungskraft der Ankunftsstädte9. Dort suchen gerade junge Menschen Arbeit und Bildung - und finden dies meist auch, jedenfalls weit häufiger als auf dem Land. Ein Ende der Verstädterung Brasiliens ist nicht abzusehen. Doch schon jetzt ist gerade in seinen Metropolen zu sehen, wo und wie sich die Zukunft brasilianisiert: megastädtisch.

Von katholischer Volksfrömmigkeit zu Basisgemeinden

Brasilianisiert hat sich auch die Zukunft der Religion. Jahrhundertelang meinte "Religion" in Brasilien - neben den Religionen der Indigenen und den afrobrasilianischen Kulten und mit diesen wechselseitig verwoben - vor allem die katholische Volksfrömmigkeit. Von Stützpunkten in den Städten und den Kirchspielorten aus sollten wenige Priester riesige Landstriche "betreuen"10. Das für die Seelsorge allgemein gebräuchliche, die Verhältnisse bezeichnende Wort war "desobriga" (Entpflichtung).

Denn angesichts einer ohnehin unerfüllbaren Aufgabenfülle waren die Priester bemüht, wenigstens denjenigen Pflichten nachzukommen, die sie als vorrangig ansahen, nämlich die Sakramente zu spenden. So kam in Brasilien ein sakramentalistisches Missverständnis des Christseins auf. Die Weitergabe des Glaubens erfolgte weniger durch "apostolisches Personal" als "kapillar": durch die Mütter, die Generation für Generation mit ihren Kindern den Rosenkranz und vor dem Heiligenbild in der Stube beteten, sowie durch das Lebensbeispiel der Familie, der Paten und der Nachbarschaft11. Mit der Übernahme von Verantwortung durch Laien (und der Übertragung von Verantwortung an sie) steht und fällt das Gemeindeleben bis heute. Mindestens 70 Prozent der Gemeindegottesdienste am Sonntag werden von Laien geleitet, berichtete ein in Brasilien tätiger Missionar beim Kontinentaltreffen der Fidei-Donum-Priester im Januar 2013 in Lima; höchstens 30 Prozent aller Sonntagsgottesdienste werden als Heilige Messe gefeiert.

Im Mittelpunkt der Wortgottesdienste stand das Hören auf Gottes Wort in der Heiligen Schrift. Aus den Bibelkreisen, die sich seit den späten 1950er Jahren bildeten, entstanden die Basisgemeinden. In ihren Basisgemeinden begab sich die katholische Kirche dorthin, wohin sie in Jesu Nachfolge immer schon gehört hätte: an die Seite der Armen und der Ausgegrenzten.

Die Religion, so hatte Karl Marx 1844 geschrieben,

"ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks."12

Durchweg wird nur das Ende dieses Satzes zitiert, und auch das fast immer falsch ("Opium für das Volk"). Religion lindert jedoch nicht nur wie ein Opiat die Schmerzen, sondern bäumt sich gegen das Elend auf - manchmal als laute Protestation, manchmal nur mit einem Seufzen (vgl. Röm 8,22).

In einer herzlosen Welt ist Religion Barmherzigkeit, angesichts geistloser Zustände wächst in und aus der Religion auch Widerstandsgeist. Dieses Glaubens- und Lebenszeugnis von Laien, Ordensschwestern, Priestern und Bischöfen vor allem in den Jahren der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 machte die katholische Kirche Brasiliens weit über die Grenzen hinaus bekannt und inspirierte und ermutigte auch in Deutschland Katholiken in ihrem Einsatz für Gerechtigkeit. Heute erfährt die katholische Kirche Brasiliens im eigenen Land wie auch weltweit aus vielerlei Gründen weit weniger Aufmerksamkeit. Die Schlagzeilen machen eher andere brasilianische Kirchen.

Katholiken gehen - Pfingstkirchen kommen

Bei der ersten Volkszählung in Brasilien im Jahr 1872 war die Anzahl der Nicht-Katholiken zu gering, um überhaupt erfasst zu werden. Infolge der europäischen Einwanderung wurde bei der Volkszählung 1890 erstmals die Konfession erhoben: 99 Prozent der Brasilianer waren katholisch, ein Prozent protestantisch. 1960 war der Anteil der Protestanten auf 3,5 Prozent gestiegen. Der Rückgang des katholischen Anteils beschleunigte sich seit den 60er Jahren, wenngleich die absolute Zahl der Katholiken zunächst noch, bis zur Jahrtausendwende, wuchs. Bei der Volkszählung im Jahre 2000 erklärten sich noch 74 Prozent der Brasilianer für katholisch, bei der letzten Volkszählung 2010 nur noch 65 Prozent13. Zwischen 2000 und 2010 verließen im Jahresdurchschnitt 1,8 Millionen Katholiken ihre Kirche. Zum Vergleich: Im Jahr 2010, dem Jahr, in dem das Ausmaß des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester offenbar wurde, zählte man in Deutschland 181 000 Kirchenaustritte, ein Zehntel dessen, was sich in Brasilien Jahr für Jahr vollzieht.

Entsprechend zugelegt haben die "Evangélicos". Die Gewinner waren seit den 60er Jahren allerdings nicht mehr die in Brasilien sogenannten "historischen Kirchen". Dieser Begriff bezeichnet die spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts durch Einwanderung und/oder Mission verwurzelten Kirchen, die dadurch zum historisch gewachsenen konfessionellen Bestand gehören, wie Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten und Adventisten. Doch nicht ihnen verdankt sich das Wachstum der "Evangélicos", sondern den "Evangélicos pentecostais" - den Pfingstkirchen. Ihre Dynamik ist, wie sie sagen, die Dynamik des Heiligen Geistes, der in ihnen wirkt: im Zungenreden, durch die Gabe des Heilens (Wunder und Heil als Heilung sind Grunderfahrungen der Pfingstchristen). Die Rationalität der abendländischen Theologie, die die Kirchen des Westens mitgeprägt hat, tritt hinter der Emotionalität des Glaubenserlebens zurück. So vollzieht sich der Lobpreis zum Beispiel im Geschehen der Glossolalie, als Ausdruck des Körpers, und nicht als "Inhalt" in Texten. Im pfingstkirchlichen Gottesdienst ist Gott weder durch ein approbiertes Messbuch noch durch ein Liturgisches Institut davor geschützt, mit "unpassenden" Worten verehrt zu werden.

Die Ermächtigung und Sendung durch Gottes Geist ist das Gemeinsame und die Antriebskraft aller Pfingstkirchen. Darüber hinaus kann man von "den" Pfingstkirchen nicht sprechen. Vielmehr zeigt sich in Brasilien eine kaum noch überschaubare Fülle großer und kleiner, lokaler und globaler pentekostaler Kirchen, Gemeinschaften und Bewegungen. Den Anfang machten Missionare der Pfingstbewegung in den USA, die 1910 nach Brasilien kamen. Größeren Zulauf erhielten die damals noch "Sekten" genannten Gemeinschaften erst seit den 50er Jahren. Die Industrialisierung Brasiliens zog Millionen von Landarbeitern in die Städte. Mit ihrer Heimat gaben viele auch ihre Konfession auf. Denn in den Ankunftsstädten suchten sie ihre katholische Kirche - und fanden sie meist nicht, wohl aber eine pfingstkirchliche Gemeinde in nächster Nachbarschaft, deren Mitglieder die Neuankömmlinge aufsuchten, sie als Schwestern und Brüder begrüßten und zum Gottesdienst einluden.

Der zweite Grund ihres Erfolges ist die Einfachheit pfingstkirchlicher Verkündigung und die Vereinfachung unüberschaubarer Verhältnisse. Religion ist die Antwort auf die Frage, weshalb es auf viele Fragen des Lebens keine Antwort gibt. Viele pfingstkirchliche Prediger aber haben auf alles eine Antwort, eine Haltung, die sie "super-fé" (Super-Glauben) nennen. Für viele, die ansonsten eher Missachtung als Wertschätzung erfahren, ist ein dualistisches Weltbild verlockend. Gerade denen, die das Leben beutelt, verschafft es Genugtuung, sich letztlich - letztlich insofern, als es am Ende, vor Gott, nur darauf ankommt - auf der richtigen Seite zu wissen: wir, die "Guten", im Kampf gegen die "Bösen" (d. h. "alle anderen"). Mit dem Geist kehren die Geister zurück. Viele Pfingstkirchen pflegen eine Dämonologie, in der sie sich in ihrem "geistlichen Feldzug" samt Teufelsaustreibungen als Werkzeuge des Geistes Christi gegen die von Paulus beschworenen "Gewalten und Mächte" (Eph 6,12) sehen. Deshalb sind, Befragungen zufolge, pfingstkirchliche Christen weit öfter als Katholiken davon überzeugt, dass nur die eigene Konfession die richtige ist. Brasilianische Katholiken sind in dieser Hinsicht - und in vielen anderen - weit toleranter. Auch das ist verlockend: sich sicher zu sein.

Die dritte Anziehungskraft ist ihre strenge Ethik, die hohe Ansprüche an die alltägliche Lebensführung ihrer Gläubigen stellt. So fühlen diese sich ernst genommen. Die katholische Kirche hingegen steht im Ruf, eine "Sonntagsreligion" zu sein: "lau" oder gar "liberal". Ganz anders bei den Pfingstkirchlern: Wenn ein Mann "Jesus als seinen Erlöser annimmt", wird er nicht mehr saufen und huren, sondern arbeiten und für die Kinder sorgen. Viele Frauen sehen in der Hinwendung zu Pfingstkirchen den einzigen Weg, ihre Ehe und Familie zu retten: Entweder wir bekehren uns, oder diese Ehe und diese Familie zerbricht. Auch deshalb werden vor allem Frauen von den Pfingstkirchen angezogen, wenn sie in der Nachbarschaft erleben, wie die "Neugeburt im Geiste" eine Ehe und eine Familie verwandelt. Frauen sind die erfolgreichsten pfingstkirchlichen Missionare.

Was für die Lebensführung gilt, gilt allgemein und ist ein vierter Grund ihrer Attraktivität: Pfingstkirchen verlangen ihren Gläubigen weit mehr ab als die katholische Kirche, auch mehr Engagement in den Gemeinden. In vielen Pfingstgemeinden kommen sonntags mehr als 90 Prozent der Gläubigen zu den Gottesdiensten; ihre Kirchgangshäufigkeit übertrifft die der Katholiken bei weitem14. Sie verlangen auch einen hohen finanziellen Beitrag, nicht bloß ein "Scherflein", sondern oft den Zehnten im wörtlichen Sinn. Die Mitglieder fühlen sich wertgeschätzt: Auf mich kommt es an, von meinem Mitmachen und meinen Gaben lebt meine Gemeinde. Attraktiv sind Kirchen, die weniger geben oder "anbieten" als fordern, die selbst Arme für wert erachten zu geben.

Theologie des Wohlstands

Innerhalb des breiten pentekostalen Spektrums in Brasilien waren es in den 80er und 90er Jahren die Neopentekostalen, die am schnellsten wuchsen. Die weltentsagende Grundhaltung der frühen brasilianischen Pfingstbewegung haben sie abgelegt, ganz im Gegenteil: Die neopentekostale Theologie, deren Schlüsselwort "Erlösung" ist (nicht "Befreiung"!), ist ganzheitlich. Es geht um "Leben in Fülle" (Joh 10,10). Erlösung aus der Armut in den Wohlstand gehört dazu. So verkünden die Neopentekostalen die teologia da prosperidade, die Theologie des Wohlstands: "Gott will, dass es dir gut geht." Erfolg, Gesundheit, Glück und Wohlstand - all das kann und wird Gott geben, wenn der Gläubige Gott dies ermöglicht: durch Gottvertrauen, Gebet und Opferbereitschaft (womit vor allem die Spenden an die eigene Kirche gemeint sind). Insofern die teologia da prosperidade lehrt, dass Gott belohnt, wenn der Mensch zuvor seine guten Werke vollbracht hat, stellt sie Martin Luthers Rechtfertigung aus dem Glauben geradezu auf den Kopf. Manche neopentekostale Gewissheiten und Praktiken stellen selbst den spätmittelalterlichen Ablasshandel in den Schatten. Obwohl die Neopentekostalen in der brasilianischen Konfessionsstatistik unter "Igrejas Evangélicas" gelistet werden, da sie kirchengeschichtlich der Reformation entstammen, haben sie theologisch nichts mehr damit gemein.

"Gott will deinen Wohlstand!" ist eine Verheißung, die viele Arme begierig hören, jedenfalls lieber als einst die gesellschaftskritischen Analysen der Theologie der Befreiung. Tatsächlich gelingt Familien, deren Väter sich die pfingstkirchliche Arbeitsethik zu eigen machen und ihren Verdienst nicht durchbringen, sondern ihren Frauen abliefern und sich um die Bildung ihrer Kinder kümmern, oft der Aufstieg in die Mittelschicht - und ihr Beispiel wirkt als überzeugendste Verkündigung unter den Nachbarn. Die Pfingstkirchen sind "Kirchen von unten". Excluídos, von der Gesellschaft Ausgeschlossene, werden zu incluídos, in die Gemeinschaft Aufgenommene. Soziologisch gesehen sind sie (auch) ein "social upward movement", ein Fahrstuhl nach oben. Die Mitgliedschaft der Pfingstkirchen ist, verglichen mit der brasilianischen Bevölkerung insgesamt, überdurchschnittlich arm, unterdurchschnittlich gebildet, überdurchschnittlich weiblich, überdurchschnittlich städtisch und überdurchschnittlich afrobrasilianisch (denn die Begeisterung pfingstkirchlicher Gottesdienste spricht Afrobrasilianer an).

Wer den Aufstieg nicht schafft, wer von seinem Prediger enttäuscht oder getäuscht wurde, kehrt in die katholische Kirche zurück oder wechselt in die Kirche nebenan. Seit gut einem Jahrzehnt gewinnen die Pfingstkirchen neue Mitglieder weniger durch die Abwerbung von Katholiken oder Protestanten "historischer" Kirchen, als, wie in einem Drehtüreffekt, durch Übertritte aus konkurrierenden Pfingstkirchen. Findet der Kunde ein besseres Angebot, wechselt er den Anbieter. In Brasilien wird dies "zapping religioso" genannt.

Marketing religioso

In Zeiten des Kapitalismus wird alles zur Ware. Auch die Religion erliegt dem "Warencharakter" (Karl Marx). Erfolg hat, wer die religiöse Nachfrage durch das marktgängigste religiöse Angebot bedient. Die Herrschaft der Marktgängigkeit ist ein Bruch mit der europäischen Tradition, in der die konfessionelle Bindung Teil der Identität war. Wem in der Alten Welt die Kirche, in der er aufwuchs, nicht mehr behagt, der tritt eher aus als zu einer anderen über. Anders in Brasilien. Für die meisten Brasilianer wäre ein Leben ohne Gott und ohne eine Gemeinschaft, in der man Gott preisen kann, kein Leben. In welchen Gottesdienst man geht, hängt jedoch weniger davon ab, "wo man hingehört", als wo man sich im Singen und Beten als zugehörig erfährt.

Für den, der dieses Geschäft zu bedienen weiß, wird die Gründung einer Pfingstkirche zur Goldgrube. Sie sind (auch) Kommerz. Dutzende Pfingstkirchen und deren Inhaber brachten es dank des Zehnten und der Opfer der Gläubigen zu Reichtum. Auch wenn das einzelne Gemeindeglied arm ist: In der Summe kommen gewaltige Beträge zusammen. Brasilianische Zeitungen machten Fälle publik, in denen der Prediger eine gut gehende Gemeinde gegen eine Ablösesumme an den Nachfolger zu veräußern suchte, dem Ertrag gemäß, den diese abwirft. Simonie ist keine Sünde mehr, sondern Geschäftsgebaren. Viele Gläubige aber sind stolz, einer Kirche anzugehören, die von Gott sichtlich auserwählt ist, erfolgreich zu sein. Wer assoziiert sich nicht lieber mit dem Erfolg als mit dem Mangel?

Um marktgängig zu werden bzw. zu bleiben, bedienen die meisten brasilianischen Pfingstkirchen ein spezifisches Milieu. So ist die pfingstkirchliche Bewegung äußerst spezialisiert und damit fragmentiert: Für jedes Milieu haben sich "passende" Pfingstkirchen gebildet: Neun von ihnen sind so groß, dass ihre Mitgliedschaft bei der Volkszählung 2010 eigens erfasst wurde: Assembléia de Deus (Gottes Versammlung), Congregação Cristã do Brasil (Christliche Kongregation Brasiliens), Igreja Universal do Reino de Deus (Weltkirche vom Reich Gottes), O Brasil para Cristo (Brasilien für Christus), Igreja do Evangelho Quadrangular (Kirche des viereckigen Evangeliums), Igreja Casa da Benção (Haus des Segens), Igreja Deus é Amor (Gott ist Liebe), Igreja Nova Vida (Neues Leben) und Igreja Maranata. Die drei Erstgenannten sind Großkirchen mit je zwei Millionen Mitgliedern und mehr15. Fast so groß ist die erst 1986 gegründete Igreja Apostólica Renascer em Cristo (Apostolische Kirche der Wiedergeburt in Christus), die so schnell wächst, dass sie bei der Vorbereitung der Volkszählung 2010 noch nicht im Blick war. Ihr "Marketing religioso" ist professionell. Dazu kommen Abertausende kleiner Pfingstkirchen: die "Evangelische Kirche der Abscheu vor dem krummen Leben", die "Pfingstliche Kirche der letzten Einschiffung zu Christus", der "Evangelische Kreuzzug von Pastor Waldevino Coelho dem Allerhöchsten", die "Kirche Ich Will Auch Den Segen" usw.16

Der Sog des Charismatischen

So turbulent das Auf und Ab der Konjunkturen unter den konkurrierenden Pfingstkirchen auch ist und wer auch immer sich als Marktführer erweisen wird: Die Pfingstbewegung hat das konfessionelle Gefüge Brasiliens von Grund auf und auf Dauer verändert - und zwar nicht bloß quantitativ, sondern auch qualitativ: Selbst die traditionellen Kirchen geraten in den charismatischen Sog. So haben sich große Teile der methodistischen Kirche Brasiliens "charismatisiert". Der charismatische Flügel gewann schließlich bei Wahlen die Synodenmehrheit und übernahm die Kirchenleitung. Das zieht enorme Spannungen nach sich - bis an die Grenze zur Spaltung. Auch die katholische Kirche wird durch eine einflussreiche charismatische Strömung verändert, die Renovação Carismática Católica (RCC). Manche Bischöfe der älteren, von der Theologie der Befreiung geprägten Generation fragen sich und den RCC, ob vor lauter "Mein Gott und ich" der soziale und politische Einsatz für ein Brasilien der Gerechtigkeit nicht zu kurz komme.

Denn wirtschaftliche Entwicklung ist wie ein Zug, der viele mitnimmt, andere stehen lässt und manche überfährt. Es bleibt die Aufgabe der Christen aller Konfessionen, beides zu tun: sich der Zurückgelassenen und der Überfahrenen anzunehmen und die "Mehrheitsgesellschaft" daran zu erinnern, wie viele weiterhin stehengelassen und überfahren werden. Wenn sich die brasilianische Gesellschaft an Wachstum und Fortschritt berauscht, muss ihr die Kirche als lästiger Mahner auf den Nerv gehen und von den Kehrseiten der rasanten Modernisierung sprechen. Als Fürsprecherin der Armen bleibt sie - deshalb von manchen als ewige Nörglerin verschrien - ein notwendiger Störsender im Nachrichtenschwall immer neuer Erfolgsmeldungen.

2013 - 2014 - 2016: Selbstbewusste Zuversicht

Zunächst aber wird Brasilien feiern: im Juli 2013 den Weltjugendtag17, 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Spiele. Feiern, wohlgemerkt - nicht bloß durchführen. In Deutschland hätte es eine große Debatte darüber gegeben, ob man sich drei Großveranstaltungen in vier Jahren zumuten könne und vor welche Probleme man sich dadurch stelle. Vermutlich wären eine oder gar zwei der Großveranstaltungen dabei durchgefallen. Als ich einen Brasilianer fragte, wie sich sein Land alle drei zugleich aufladen könne, widersprach er schon beim Wort "sich aufladen": "Wir laden uns nichts auf, sondern laden Gäste ein. Das schultern wir schon." Selbstbewusste Zuversicht: Das ist Brasilien 2013.

120 Jahre sind seit dem Beginn der Massaker des "fortschrittlichen" Brasilien in Canudos vergangen. Dieses Land hat einen weiten Weg zurückgelegt, nein: durcheilt. Brasilien hat die Zukunft brasilianisiert.

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