Gottesdienst am 12. März 2023Hoffnung für Judas Iskariot

Okuli Lukas 22,47-53

Bei der Wahl des Namens für ihr Kind geben sich Eltern oft große Mühe und beweisen dabei erstaunliche Kreativität. Jedoch ist längst nicht alles erlaubt, was gefällt. Das deutsche Namensrecht schließt Vornamen aus, die dem Kindeswohl widersprechen, weil sie entweder lächerlich klingen oder aber negativ vorgeprägt sind. Als lächerlich gelten zum Beispiel die Namen Möhre oder Schnucki. Negativ besetzt sind unter anderem Namen wie Störenfried, Satan oder Judas. Wer also sein Kind Judas nennen wollte, würde bei den deutschen Standesämtern auf Widerstand stoßen.

Das leuchtet auch ohne weiteres ein. Denn Judas ist mehr als ein Name. Judas ist geradezu ein Synonym geworden für Treulosigkeit und gemeinen Verrat. Das liegt an einem einzigen Träger dieses Namens: an Judas Iskariot, dem Verräter Jesu. Dass in biblischer Zeit der Name unbelastet und außerdem weit verbreitet war, wird darüber häufig vergessen. Unter den zwölf Aposteln gab es noch einen zweiten Jünger dieses Namens, Judas Thaddäus. Auch ein leiblicher Bruder Jesu hieß Judas. Und schließlich sei an Judas Makkabäus erinnert, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert den nach ihm benannten jüdischen Aufstand gegen die Seleukiden anführte. Judas war also zur damaligen Zeit ein gängiger männlicher Vorname, wie heutzutage bei uns vielleicht Noah oder Fynn. Aber seit Judas Iskariot haftet diesem Namen eben ein negativer Beigeschmack an. Judas – nein, mit diesem Namen täte man seinem Kind wahrhaftig keinen Gefallen.

Denn Verrat gilt landläufig als eines der schlimmsten Vergehen überhaupt oder, um es neudeutsch zu formulieren, als moralisches No-Go. Es hat mit dem Missbrauch von Vertrauen zu tun und stellt einen eklatanten Loyalitätsbruch dar. Ich denke zum Beispiel an Brutus und Cassius, die Mörder von Julius Cäsar. Oder an Günter Guillaume, den persönlichen Referenten des Bundeskanzlers Willy Brandt, der Staatsgeheimnisse an die DDR verriet. Oder, um ein bekanntes Beispiel aus der Literatur zu nennen, an den Macbeth von William Shakespeare. Sämtlich zwielichtige Gestalten.

Allerdings ist die Sache längst nicht immer so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Was ist mit dem gescheiterten Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der davon überzeugt war, als gemeiner Verräter in die deutsche Geschichte einzugehen? Heute wird er als ein Vorbild an Zivilcourage gefeiert; sogar Kasernen sind nach ihm benannt. Oder was ist mit dem berühmtesten Verräter unserer Tage, mit Edward Snowden? Hat der ehemalige NSA-Mitarbeiter Landesverrat begangen oder hat er nicht vielmehr der ganzen Welt einen großen Dienst erwiesen, indem er die Überwachungspraktiken der Geheimdienste publik machte? Da mag das Urteil je nach unserer ganz persönlichen Wahrnehmung sehr unterschiedlich ausfallen.

Bei Judas Iskariot jedoch gibt es gewöhnlich keine zwei Meinungen. Schließlich hat dieser Mann nicht irgendeinen x-beliebigen Menschen ans Messer geliefert, sondern den Sohn Gottes. Und dies für schnöden Mammon, für dreißig Silberlinge, den geradezu sprichwörtlich gewordenen Judaslohn. Dreißig Silberlinge, das war damals in etwa der Gegenwert eines kleinen Ackers oder eines Esels. Auf unsere Verhältnisse übertragen also schätzungsweise zwei- bis dreitausend Euro. Und als wäre das immer noch nicht alles, verriet Judas seinen Herrn und Meister durch einen Kuss. Ausgerechnet durch einen Kuss – welch eine infame Heuchelei! Der Evangelist Lukas macht uns in seinem Bericht zu Zeugen des Verrats.

Lukas 22,47–53

Judas, der Verräter. Judas, der Habgierige. Judas, der Heuchler. Er scheut sich nicht, höchstpersönlich das Sondereinsatzkommando anzuführen, das gekommen ist, um seinen Herrn und Meister zu verhaften. Welche Strafe, liebe Gemeinde, wäre wohl angemessen für eine solche Tat? 

Der italienische Dichter Dante Alghieri hat auf diese Frage seine ganz persönliche Antwort gegeben. Vielleicht kennen Sie sein Meisterwerk aus dem 14. Jahrhundert mit dem Titel „Die göttliche Komödie“. In diesem Buch, das nebenbei bemerkt alles andere als lustig ist, unternimmt Dante eine Phantasiereise durch die Hölle. Und er tut dies in einer so martialischen Weise, dass man die Bilder, die er aufruft, kaum wieder aus dem Kopf bekommt. Insgesamt schildert er neun Kreise der Hölle. In ihrem innersten Kern, wo es am entsetzlichsten zugeht und noch dazu bitterkalt ist, trifft der Dichter auf Luzifer. Dieser ist dabei, den Verräter Judas und zusätzlich auch noch die Cäsarmörder Brutus und Cassius zwischen seinen Zähnen zu zermalmen und darüber hinaus mit seinen Krallen ihre Rücken zu zerfetzen. Eine grausige Szene, die in der Folgezeit so manchen Maler zu ausdrucksstarken Darstellungen inspiriert hat.

Nach Meinung des Dichters Dante kommt für Judas nur die härteste Strafe in Frage. Aber stimmt das tatsächlich, liebe Gemeinde? Je länger ich über Judas nachdenke, desto mehr zweifle ich, ob sein zutiefst negatives Image wirklich gerechtfertigt ist. Bei genauem Hinsehen weist die Geschichte, die die Evangelien von ihm erzählen, nämlich einige Ungereimtheiten auf. Zum Beispiel die: Sollte Judas wirklich allein aus purer Habgier seinen Verrat begangen haben? Er war, wie wir wissen, innerhalb der Jüngerschar der Kassenwart. Mit einer solchen Aufgabe wird normalerweise nur jemand betraut, der als besonders vertrauenswürdig gilt. Falls es Judas nur ums Geld gegangen wäre – hätte er dann nicht einfach mit der Kasse durchbrennen können? Noch ein weiterer Umstand bringt mich ins Grübeln. Wieso bedurfte es im Garten Gethsemane eines Kusses, um Jesus für die Häscher zu identifizieren? Die Hohenpriester und Hauptleute des Tempels waren doch dabei; sie hätten Jesus von seinen täglichen Auftritten im Tempel her zweifellos auch ohne den Kuss erkannt.

In dem Musical Jesus Christ Superstar wird übrigens eine ganz eigene Version der Verratsgeschichte präsentiert. Dort ist es so, dass Judas deshalb zum Verräter wird, weil Jesus vor lauter Liebe und Himmelschwärmerei den Freiheitskampf gegen die Römer vernachlässigt. Möglicherweise ist es tatsächlich so gewesen, dass sich im Laufe der Zeit in Judas eine gewisse Unzufriedenheit mit Jesus aufgestaut hat. Er mag sich gedacht haben: „Wenn ich Jesus in eine Lage bringe, in der er gezwungen ist, endlich Farbe zu bekennen, dann wird der Umsturz gelingen. Falls Jesus wirklich der Messias ist, braucht er vielleicht nur einen kräftigen Stoß, um aus der Deckung zu kommen und den Römern öffentlich die Stirn zu bieten.“ Diese Interpretation wird zusätzlich gestützt durch den Beinamen des Judas: Iskariot. Das könnte ein Indiz dafür sei, dass Judas zu den sogenannten Sikariern gehörte. Die Sikarier waren, ähnlich wie die Zeloten, eine militante antirömische Gruppierung.

Letztlich, liebe Gemeinde, werden wir nie genau erfahren, was Judas getrieben haben mag. Falls es ihn denn überhaupt gegeben hat. Es gibt durchaus ernstzunehmende Theologen, die in ihm eine rein fiktive Figur sehen, weil eine Lichtgestalt wie Jesus schon aus literarisch-dramaturgischen Gründen nach einem dämonischen Gegenspieler verlangt habe. So weit, die Historizität des Judas in Zweifel zu ziehen, möchte ich jedoch nicht gehen. In meinen Augen war er durchaus eine reale Person. Allerdings eine, deren eigentliche Motive im Dunkel bleiben. Und die es deshalb auch nicht verdient hat, im innersten Kreis der Hölle ewige Qualen zu durchleiden.

Im Übrigen: Müsste, wer Judas in die Hölle steckt, nicht auch die anderen Jünger dorthin schicken? Hat nicht der komplette Zwölferkreis seinen Herrn im Stich gelassen? Und hat Petrus im Hof des Hohepriesters nicht dreimal Stein und Bein geschworen, Jesus nicht zu kennen? War das etwa kein Verrat und Treuebruch? Es wäre doch absurd, Judas als einzigen zu verdammen, während die übrigen elf Jünger, die in der Stunde der Not ebenfalls versagt haben, bis in unsere Gegenwart hinein hohe Anerkennung genießen und in vielen Kirchen gar als Heilige verehrt werden. 

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wer Judas verdammt, müsste eigentlich auch sich selbst verdammen. In jeder und jedem von uns steckt ein kleiner Judas. Verrat gehört zum menschlichen Alltag dazu. Das fängt in der Kindheit an und hört bis ins Greisenalter nicht auf. Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat es einmal auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Wenn ich mich selbst erlebe, dann erkenne ich, dass ich auch nicht anders bin als jeder andere Mensch, dass ich der Sünder, der Heilige, der Hoffende und der Verzweifelnde bin, dass ich jedermann bin.“ Recht hatte er. Insofern ist Judas kein Sonderfall. Er ist vielmehr unser aller Fall. Genau dies meinte auch der Apostel Paulus, wenn er schrieb: „Es ist hier kein Unterschied: Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen.“ (Römer 3,23).

Weil das so ist, darum sind wir alle miteinander auf Vergebung angewiesen. Der Verräter Judas sollte nicht schlechter gestellt werden als wir. Und wenn Gethsemane die Stunde der Finsternis und der Schuld war, dann kann Gottes Stunde nur diejenige des Lichts und des Erbarmens sein. Der berühmte italienische Bildhauer Gian Lorenzo Bernini hat es mal so schön gesagt: „Ich vertraue der Gnade eines Herrn, der nicht mit Pfennigen rechnet.“ Das tue ich auch. Gott ist kein Pfennigfuchser. Er ist viel größer als unser Herz. Darum habe ich Hoffnung für Judas Iskariot, wie ich auch Hoffnung für jeden und jede von uns habe – jetzt und in Ewigkeit.

Kollektengebet:

Guter Gott, du kennst uns besser, als wir uns selbst kennen. Du weißt, wie oft wir uns schwer tun mit dem Glauben, wie leicht wir verzagen. Komme nun zu uns in dieser Stunde. Öffne unsere Herzen für dein Wort, damit wir aufatmen können und frei werden. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.

Fürbittengebet:

Barmherziger Gott, du bist Anfang, Mitte und Ziel unseres Lebens. Im Vertrauen auf dich bitten wir dich für alle Menschen, die sich in tiefe Schuld verstrickt haben. Schenke ihnen Einsicht und Wege aus dem Dunkel. Für alle Menschen, die mit sich selbst nicht zurechtkommen. Lass sie Hilfe und Orientierung finden. Für alle Menschen, die trügerischen Hoffnungen und Träumen nachjagen. Gib ihrem Leben Nüchternheit und Klarheit. Für alle Menschen, die sich einsam und verlassen fühlen. Lass sie Gemeinschaft und Zuwendung erfahren. Für alle Menschen, die dich am heutigen Tag besonders brauchen. Gib ihnen die Gewissheit deiner Nähe. Barmherziger Gott, du bist Anfang, Mitte und Ziel unseres Lebens. Wir danken dir für deine Treue.

Psalmvorschlag: Psalm 34,16–23
Evangelium: Lukas 9,57–62
Epistel: 1. Petrus 1,13–21
Liedvorschläge: 168 (Du hast uns, Herr, gerufen)
97 (Holz auf Jesu Schulter)
354 (Ich habe nun den Grund gefun
den)
398 (In dir ist Freude)
171 (Bewahre uns, Gott, behüte uns,
Gott)
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