EntwicklungFrühkindliche Sexualität

Häufig tabuisiert und dennoch nicht wegzuleugnen: die sexuelle Entwicklung von Kleinstkindern. Welche Phasen zeichnen sie aus? Und wie können pädagogische Fachkräfte die Jüngsten dabei begleiten, sich und andere erstmals im sexuellen Kontext zu erfahren?

Frühkindliche Sexualität
© Marysik/iStock

Für den Begriff Sexualität existieren zwei unterschiedliche Definitionen. Das engere Verständnis von Sexualität bezieht sich allein auf den Lustaspekt. Die umfassendere Definition, auf die sich dieser Text stützt, umfasst neben dem rein körperlichen Begehren auch soziale und personale Bedürfnisse – drei Bereiche, die untrennbar miteinander verbunden sind. Schon für Kleinkinder ist es entscheidend, dass sie in ihrer sexuellen Entwicklung durch Eltern und pädagogische Fachkräfte altersangemessen begleitet werden. Dieser Text gibt einen Überblick, welche körperlichen, personalen und sozialen Aspekte in dieser Altersgruppe zum Tragen kommen.

Haut und Berührung

Die ersten frühkindlichen Erfahrungen sind sinnlich-körperliche Vorgänge, etwa die zärtlichen Interaktionen mit der Mutter. Sie vermitteln dem Kind Liebe, Angenommensein und Geborgenheit. Aber auch Ablehnung, Ekel und Angst seiner Bezugspersonen werden von einem jungen Kind über die Haut aufgenommen und haben Auswirkungen auf seine weitere psychische Entwicklung (Rohrmann/Wanzeck-Sielert 2018, S. 17). „Die Qualität der Berührungen, ein stimmiger Körperkontakt ist für die Entwicklung von Körpergefühl und Beziehungsfähigkeit von besonderer Bedeutung. Ausschlag gebend ist, dass dies auch tatsächlich als stimmig erlebt wird und der Körperkontakt nicht nur an den Bedürfnissen der Bezugspersonen orientiert ist“ (Wanzeck-Sielert 2012, S.112).

Psychosexuelle Entwicklung

Kindliche Sexualität muss von Erwachsenensexualität klar unterschieden werden. Kleinkinder leben ihre Sexualität egozentrisch, d. h. auf sich selbst bezogen, etwa in Form von körperlichen Selbsterkundungen mit lustvollen Befriedigungserfahrungen. Dabei dominieren Unbefangenheit, Spontaneität und Neugier ihr Handeln. Kinder wollen herausfinden, was sich angenehm oder unangenehm anfühlt. Gleichzeitig steckt dahinter der Forscherdrang, sich selbst besser kennenzulernen: Wie sehe ich überhaupt aus? Wie unterscheide ich mich von anderen?

Körperliche Welterkundung

Der Mund kann im ersten Lebensjahr als Lustorgan eines Kindes angesehen werden. Mit dem Mund entdeckt es die Welt. So nimmt der Säugling Schnuller, Schlüssel, Tücher, seine Finger und Zehen in den Mund – und das nicht nur, um diese zu erforschen, sondern nicht zuletzt auch, um sein Wohlbefinden zu steigern. Vor allem auch das Saugen an der Brust der Mutter oder an der Flasche wird von Babys in einem sehr umfassenden Sinn als befriedigend und lustvoll erlebt. Die Erregbarkeit des Säuglings in Bezug auf Lust und Befriedigung „ist nicht angeboren, ist nicht Teil einer genetischen Ausstattung des Säuglings, sondern wird in der Beziehung zur Mutter erworben“ (Quindeau 2012, S. 34). Hier wird deutlich, dass dem lustvollen Aspekt des Saugens zunächst das Bedürfnis des Sattwerdens vorausgeht.

Sexuelles Körperbewusstsein

Säuglinge genießen zudem das Nacktsein und die Berührungen im Rahmen von Pflegehandlungen. Besonders beim Wickeln des Kleinkinds bleibt es nicht aus, dass pädagogische Fachkräfte dessen Geschlechtsorgane berühren. Die Kinder entdecken ihre Genitalien beim Baden und Windelwechseln aber auch selbst, berühren und reiben diese. Wie Erwachsene darauf reagieren, registrieren die Mädchen und Jungen genau. Sie nehmen einen gelassenen Umgang mit ihren intimen Berührungen ebenso wahr wie eventuelle Unsicherheiten ihrer Bezugspersonen. Die jeweils gewonnenen Eindrücke beeinflussen das sexuelle Körperbewusstsein der Kinder.
In dieser Phase erfährt das Kind auch, dass sein Bedürfnis nach Haut-Kontakt nicht jederzeit befriedigt werden kann. Vor allem das Abstillen stellt einen oft schwierigen aber zukunftsweisenden Lernprozess dar: Das Kind wird im Laufe seines Lebens immer wieder Nähe und Distanz austarieren müssen.

Körperliche Selbstwirksamkeit

Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr sind Kinder mehr und mehr in der Lage, ihren Schließmuskel zu kontrollieren und entwickeln ein Bewusstsein für ihre Körperausscheidungen. Das „Loslassen“ und „Festhalten“ derselben erzeugt bei ihnen eine gewisse Spannungslust. Diese neu gewonnene Autonomie – ich bestimme über meinen  Körper – kann durch eine rigorose Sauberkeitserziehung starke Einschnitte erfahren und zu einem Machtspiel zwischen Kind und Erwachsenen führen, bei dem Scham und Zweifel immer mehr Raum gewinnen. Auch wenn der kleinkindliche Umgang mit Reinlichkeit und damit evtl. verbundene Sexualregungen ambivalente Gefühle bei Erwachsenen auslösen, sollten diese die körperliche Selbstwirksamkeit der Mädchen und Jungen positiv unterstützen.
In diesem Alter wissen die Kinder auch schon, dass Jungen einen Penis und Mädchen eine Scheide haben. „Sie werden sich des körperlichen Unterschieds der Geschlechter bewusst, vergleichen sich und entdecken die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Mutter und Vater“ (Sielert 2005, S. 103). Zudem spielt ab dem dritten Lebensjahr der Spracherwerb eine wichtige Rolle für die sexuelle Entwicklung. So lernen Kinder nicht nur die Bezeichnungen für ihre Geschlechtsorgane, sondern stellen auch Fragen zu Geschlechtsunterschieden, auch wenn sie sich ihrer eigenen Geschlechtsidentität noch nicht ganz sicher sind.

Grenzen achten

Ab dem dritten Lebensjahr durchlaufen Kleinkinder viele wichtige körperliche und kognitive Entwicklungsschritte im Hinblick auf ihre Sexualität: Sie zeigen nun immer häufiger Interesse an den vielen Facetten des Sexuellen. So betrachten sie etwa neugierig die Geschlechtsorgane von Eltern, Geschwistern, anderen Kindern und von sich selbst. Bei gegenseitigen Körpererkundungen, besonders sehr junger Kinder, kann es zu sexuellen Grenzverletzungen kommen. Diese ereignen sich überwiegend nicht vorsätzlich, sondern im Überschwang. Dennoch ist es wichtig, dass pädagogische Fachkräfte solche Situationen registrieren und dabei den Kontext, die Interaktionsdynamik und die emotionalen Befindlichkeiten aller Beteiligten berücksichtigen. Schwierige Situationen, die Krippenkinder im Überschwang verursachen, sollten zum Anlass genommen werden, sie dabei zu unterstützen, einen achtsamen Umgang miteinander zu lernen. Keineswegs sollten sie dazu führen, den Mädchen und Jungen künftig sexuelle Erfahrungsräume zu verwehren. Denn körperliche Interaktionen tragen zur Identitätsfindung und Selbstregulation der Kinder bei, stärken ihr Selbstwertgefühl und fördern ihre körperlich-sinnliche Wahrnehmung.

Die Literaturliste erhalten Sie auf www.kleinstkinder.de oder auf Anfrage bei der Redaktion. 

Info

Psychosexuelle Entwicklungsphasen im 2. und 3. Lebensjahr

  • Kleinkinder werden sich ihrer selbst bewusst. Sie erleben, dass sie sich als Person, mit ihrem Körper und in ihrem Aussehen von anderen Kindern und von den Erwachsenen unterscheiden (Entwicklung der Identität).
  • Sie haben ein großes Bedürfnis nach Körperkontakt. Sie lieben es zu schmusen und auf dem Schoß von vertrauten Personen zu sitzen.
  • Sie lernen, dass sie Jungen und Mädchen sind (Entwicklung der Geschlechtsidentität) und dass mit dieser Zuordnung unterschiedliche Erwartungen verbunden sind (Entwicklung des Geschlechtsverhaltens).
  • Sie entwickeln ein großes Interesse an ihrem Körper und an den Körpern anderer Menschen. Sie untersuchen häufig intensiv ihre Genitalien und zeigen diese gerne anderen Kindern und Erwachsenen (Schau- und Zeigelust).
  • Sie berühren manchmal absichtlich ihre Genitalien und stimulieren sich selbst, weil sie sich dabei beruhigen und wohlfühlen.
  • Sie entdecken die Macht über ihren Körper. Häufig kommt es in diesem Zusammenhang zu Machtkämpfen (Trotz).
  • Sie interessieren sich für ihre Körperausscheidungen. Das bewusste Festhalten und Loslassen ihrer körpereigenen „Produkte“ ist für sie eine lustvolle Erfahrung.
  • Sie stellen Fragen zu Geschlechtsunterschieden und lernen erste Begriffe für die Geschlechtsorgane. Die Genitalien werden mit der Ausscheidungsfunktion in Verbindung gebracht.
  • Kleinkinder entwickeln ein Gefühl für ihren persönlichen Bereich und die Privatsphäre anderer Menschen (Schamgefühl). So möchten sie z. B. nicht mehr von jedem auf die Toilette begleitet werden.
  • Kleinkinder lernen, was erlaubt ist und was nicht und dass sie bestimmte (Körper-)grenzen einhalten müssen (soziale Regeln und Normen).

Quelle: Jörg Maywald: Sexualpädagogik in der Kita. Verlag Herder 2018

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