Die meisten Menschen wissen, dass es Wölfe in Deutschland gibt. Wie viele sind es denn ungefähr?
In Baden-Württemberg, meinem Zuhause, haben wir im Moment drei sesshafte Einzeltiere, also recht wenige. Auf ganz Deutschland gesehen sieht es aber schon anders aus: Die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) gibt 184 Rudel für das letzte abgeschlossene Monitoringjahr 2022/2023 für ganz Deutschland an. Weil es gerade bei Jungtieren eine hohe Sterblichkeit durch Verkehr oder Krankheiten gibt, ist die Zahl der Rudel verlässlicher als die Zahl an Einzeltieren. 184 Rudel umfassen rund 370 erwachsene Wölfe und schätzungsweise über 700 bis 1.100 Jungtiere, aber da ist eine gewisse Dynamik drin.
Das sind gar nicht so wenige. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Kita-Gruppe – in einer Wald-Kita oder bei einem Waldausflug – auf einen Wolf trifft?
Für diese Frage ist es natürlich interessant, wo man sich in Bezug auf die Wolfsverbreitung befindet. In Baden-Württemberg mit nur drei Tieren und ein paar durchziehenden ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, zumal diese Wölfe riesige Gebiete als ihr Territorium nutzen. Diesen einen Wolf mit einer Kita-Gruppe zu treffen, ist sehr unwahrscheinlich. In anderen Bundesländern sind es deutlich mehr Wölfe. Dennoch gibt es auch dort Förster:innen, die täglich im Revier sind und jahrelang keine Wölfe sehen.
Dazu kommt, dass Kindergartengruppen in der Regel nicht lautlos unterwegs sind. Sie kündigen sich an; sie lachen, rufen und spielen. Das heißt, sie werden Wildtiere nicht überraschen, diese können sich rechtzeitig zurückziehen und somit sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung. Das kann man gut mit Wildschweinen vergleichen – die sieht man auch selten, obwohl sie viel häufiger sind als Wölfe.
Wenn es doch zu einer Begegnung mit einem Wolf kommt, wie sollten sich Kinder und Erzieher:innen verhalten?
Grundsätzlich ist Respekt angebracht. Wenn wir im Wald unterwegs sind, bewegen wir uns im Wohnzimmer der Wildtiere. Wir Menschen sollten uns Wölfen gegenüber verhalten, wie wir es auch gegenüber anderen Wildtieren tun: zunächst einmal stehen bleiben und abwarten. Wie reagiert das Wildtier? Es kann vorkommen, dass der Wolf auch stehen bleibt und schaut. Dann verschwindet er normalerweise, ohne dass man etwas tut. Wenn man sich in der Situation unwohl fühlt, dann kann man selbst die Distanz zu dem Tier vergrößern oder auch mal laut auf sich aufmerksam machen. Das machen Kindergartengruppen ja ohnehin meistens. Dann sind die Tiere in der Regel auch schnell wieder weg.
Gibt es auch Ausnahmen?
Junge Wölfe können manchmal ein bisschen interessierter sein. Das liegt an der jugendlichen Neugier, das kennen wir von jungen Hunden. In so einem Fall sollte man auch mal lauter werden, auf den Wolf zugehen und signalisieren: Du bist mir zu nah, ich möchte, dass du weggehst. Im Zweifel kann man etwas werfen. Generell gilt hier: Ruhe bewahren und nicht in Panik geraten. Das ist auch gar nicht nötig.
Sollten sich Kinder anders verhalten als Erwachsene, wenn sie einem Wolf begegnen?
Nein. Menschen fallen bei uns generell nicht ins Beuteschema der Wölfe, das muss man klar sagen. In anderen Regionen der Erde, in denen Menschen mit Wölfen um Futterquellen konkurrieren oder wenn Wölfe extrem in ihrem Lebensraum eingeschränkt sind, dann kann es zu brenzligen Situationen kommen – für Kinder ebenso wie für Erwachsene. In Indien beispielsweise wurden Menschen durch einzelne Wölfe verletzt und auch getötet. Denn natürlich sind Wölfe letztlich körperlich in der Lage, einen Menschen zu töten.
In Deutschland besteht diese Gefahr jedoch nicht?
Nein, in unserem Kulturkreis nicht, weder für Kinder noch für Erwachsene. Seit der Rückkehr der Wölfe nach Deutschland etwa im Jahr 2000 sind keine Menschen verletzt oder getötet worden. Seit über 20 Jahren leben wir also mit den Wölfen. Letztendlich gibt es nie eine hundertprozentige Sicherheit; die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, ist aber sehr, sehr gering.
Ist es denkbar, dass sich das Beuteschema des Wolfes im Laufe der Zeit verändert?
Der Wolf orientiert sein Beuteschema und seinen Lebensraum an der Verfügbarkeit von Wildtieren und greift gelegentlich Nutztiere an. Das ist auch in anderen Ländern so. Bei uns jagt der Wolf hauptsächlich Rehe, Rothirsche und Wildschweine. Wenn die nicht mehr verfügbar wären, dann müsste der Wolf eine Alternative suchen, aber das ist bei uns in Deutschland überhaupt nicht denkbar. Unsere Wildtierdichten sind sehr hoch und im Vergleich dazu ist die Wolfsdichte relativ niedrig. Es ist nicht zu erwarten, dass der Wolf hier sein Beuteschema ändern wird, schon gar nicht auf den Menschen ausgerichtet. Wölfe sind flexibel, sie fressen auch mal Früchte, Mäuse, Hasen und so weiter. Es gibt hier in Deutschland also eine große Auswahl an Wildtieren, von denen sich der Wolf ernähren kann.
Kann sich der Lebensraum ändern, rückt der Wolf näher an den Menschen heran?
Immer wieder werden Wölfe in unseren Kulturräumen gesichtet, also auf Straßen und in Siedlungen. Das löst natürlich Sorge aus. Aber dabei geht es nicht um die Suche nach Nahrung, sondern darum, dass Wölfe teilweise gar keine andere Wahl haben, wenn sie von A nach B kommen wollen. Sie sind nicht an uns oder der Siedlung interessiert, sondern wollen einfach nur ins nächste Waldgebiet und müssen dafür durch besiedelte Gebiete.
Sollten Wald-Kitas in Wolfsgebieten darauf achten, dass Kinder nicht unbeaufsichtigt spielen?
Wir haben in Deutschland schon Gebiete, in denen Wölfe sehr präsent sind. Von dort gibt es keine belegten Ereignisse, bei denen Gefahren für unbeaufsichtigte Kinder aufgetreten sind. Natürlich gehört es aber dazu, dass man aufklären muss, welche Gefahren es im Wald und im Gelände gibt. Der Wolf ist quasi ein neuer Mitbewohner im Wald und die Menschen haben noch wenig Erfahrung, wie mit diesem Wildtier umzugehen ist. Wenn sich also ein Waldkindergarten ein Territorium mit einem Wolfsrudel teilt, dann sollte man sich mit dem Thema auseinandersetzen, sich informieren und die Kinder aufklären, auch um Ängste abzubauen.
Die Fachkräfte sollten also mit den Kindern über Wölfe sprechen?
Ja, mit den Kindern und vor allem auch mit den Eltern. Hier erlebe ich, dass teilweise viele Sorgen und Unsicherheiten bestehen. Rotkäppchen ist nicht mehr aktuell, aber immer noch in den Köpfen verankert. Wir müssen einige Geschichten neu schreiben und uns darüber austauschen, welche Herausforderungen es gibt, wenn Wölfe vor Ort sind. Die liegen in der heutigen Zeit insbesondere im Schutz der Weidetiere.
Was können Fachkräfte tun, wenn Kinder große Ängste vor Wölfen entwickeln?
Es ist wichtig, das Thema nicht unter den Teppich zu kehren, sondern es wirklich mit den Kindern zu besprechen. In Baden-Württemberg gibt es beispielsweise Wildtierbeauftragte. Die gehen oft in Kindergärten und Schulen und erzählen über den Wolf, wie er sich verhält und wie er lebt. So können Kinder eine Vorstellung davon entwickeln, wer dieses Wildtier ist und wie wir mit ihm zusammenleben können. Auch aus dem regionalen Forst- und Naturschutzbereich kann man Expert:innen ansprechen, die Wissen über Wölfe an Kinder und Eltern vermitteln können.
Geht es bei Ihrer Aufklärungsarbeit auch darum, Kindern und Erwachsenen die Faszination und Schutzwürdigkeit von Wölfen zu vermitteln?
Nein, nicht unbedingt. Unser Ziel ist nicht, dass alle den Wolf toll finden müssen, darum geht es nicht. Ich sehe mich eher in einer Art Moderationsrolle. Wir als Gesellschaft haben uns dafür entschieden, unseren Lebensraum mit dem Wolf zu teilen; er hat die Berechtigung, hier zu sein. Unser Job ist es, Wissen zu erarbeiten und zu vermitteln, damit wir eine Grundlage haben für die Herausforderungen, die es mit dieser Tierart gibt. Indem wir Erfahrungen aus anderen Regionen und Ländern zusammentragen und dokumentieren, wie sich ein normaler, gesunder Wolf verhält, kann man vielen Menschen die Angst vor dem Wolf nehmen.
In einem niederländischen Naturpark kam es im letzten Jahr zu mehreren Konfrontationen von Wölfen mit Kindern. Gibt es dazu schon genauere Erkenntnisse?
Das ist natürlich auch für uns sehr interessant und ein Fall von höchster Brisanz, denn bislang konnten wir immer sagen, dass es bei uns keine Übergriffe auf Menschen gab. Sollte sich dies bestätigen, wäre es der erste belegte Fall in Zentraleuropa, bei dem sich ein Wolf, ohne bedrängt zu werden, annähert und ein Kind verletzt.
Zum aktuellen Zeitpunkt haben wir jedoch keine offizielle Dokumentation zu diesen Ereignissen. In den Medien kursieren sehr viele Varianten. Die DBBW ist aktiv und wird uns hoffentlich bald auf Stand bringen. Im Moment stellt es sich wohl so dar, dass kein Kind gebissen wurde, sondern dass der Wolf an einem mitgeführten Hund interessiert war und deshalb Kinder verletzt beziehungsweise umgestoßen wurden. Insofern kann ich da nichts mit Sicherheit bestätigen und auch nicht ausschließen. Es ist in jedem Fall besorgniserregend, wenn ein Wolf auf so eine geringe Distanz an die Menschen herankommt. In Deutschland gibt es kein vergleichbares Ereignis oder Szenario. Hier würde ein auffälliges Verhalten eines Wolfes durch das Monitoring der Länder auch schnell bemerkt und direkt zu entsprechenden Maßnahmen führen; im Zweifelsfall würde der Wolf geschossen werden. Die Sicherheit der Menschen steht da an erster Stelle.
Haben Sie schon einmal einen Wolf gesehen?
Ja, allerdings nicht in Deutschland, sondern in Norwegen, wo ich studiert habe. Es war ein Rudel mit Welpen, das auf einem zugefrorenen See spielte. Das ist schon eine ganz besondere, nicht alltägliche Erfahrung.