Ein Auftrag auch an pädagogische FachkräfteWie Kinder Verantwortung lernen

Man kann es belegen und nachweisen: Die Entwicklung der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ist wesentlich abhängig von den Erfahrungen, die Kinder in ihrer Umwelt machen. Grund genug, sich auch in Kita und Kindergarten mit Fragen dazu auseinanderzusetzen.

Der Beitrag in 150 Wörtern

Verantwortung kann als der grundlegende Bezugsrahmen für alle Werte verstanden werden. Die Fähigkeit zur Verantwortung ist in jedem Menschen als Potenzial angelegt, die Entwicklung dieses Potenzials ist jedoch abhängig von den Erfahrungen, welche die heranwachsende Person in ihrer kulturellen und sozialen Umwelt macht. Daraus ergibt sich:

  • Verantwortung ist lernbar und auf Lernen angewiesen. Dabei lassen sich verschiedene Wege des Lernens unterscheiden.
  • Grundlegend für den Erwerb von Verantwortlichkeit sind in der Lebensphase der frühen Kindheit Formen des impliziten und indirekten Lernens. Sie gehen insbesondere aus der Erfahrung von Verbundenheit und Anerkennung in den gelebten Beziehungen mit Erwachsenen und aus der Erfahrung von Gegenseitigkeit in den Beziehungen mit Gleichaltrigen (und Geschwistern), aus der Identifizierung mit und der Nachahmung von Vorbildern sowie aus der Erfahrung von Gemeinsinn und Autonomie durch Partizipation und die Einübung fürsorglicher Verhaltensweisen hervor.

Diese impliziten und indirekten Lernprozesse erschaffen das motivationale Fundament, auf welchem verantwortungsvolles Fühlen, Denken und Handeln zur Entwicklung gelangen können. Erst auf dieser Basis kann der dritte Weg des Lernens – Formen des bewussten und intentionalen Lernens – gelingen; er betrifft die Einsicht in die Notwendigkeit von Fürsorglichkeit und Verantwortung und die bewusste Übernahme von Pflichten.

Man kann es belegen und nachweisen: Die Entwicklung der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ist wesentlich abhängig von den Erfahrungen, die Kinder in ihrer Umwelt machen. Grund genug, sich auch in Kita und Kindergarten mit Fragen dazu auseinanderzusetzen.

Jede Familie, jede Einrichtung oder Institution ist darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder füreinander einstehen, sich umeinander kümmern und sorgen, ja für andere und sich selbst verantwortlich denken und handeln.

Alle Formen von Verantwortung gehen von der Voraussetzung aus, dass sich jeder einzelne Mensch zugleich als „Mensch-in-Gemeinschaft“ - also sich in Beziehung zu anderen begreifen und verhalten soll. Die Orientierungsmuster für das Denken und Handeln, die damit angesprochen sind, werden üblicherweise als „Werte“ bezeichnet. Solche Werte sind z.B. Einfühlungsvermögen, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Mitgefühl, prosoziales Verhalten, Solidarität, Gerechtigkeit. Ich spreche im Folgenden nicht von Werten, sondern von Verantwortung, weil ich diese als das Fundament oder auch das übergreifende Dach aller Werte verstehe.

Verantwortung kann, ja muss gelernt werden

Es ist nicht nur wünschenswert, nein, unser Gemeinwesen ist darauf angewiesen, dass die nachwachsende Generation bereit und fähig ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Frage ist: Welche Voraussetzungen bringt der Mensch dafür von Geburt an mit - und was unterstützt ihn dabei in seinem Lebenslauf?

Die erste Voraussetzung lässt sich aus der Erkenntnis ableiten, dass nur gelernt werden kann, was im Menschen als Möglichkeit angelegt ist. Das gilt für den aufrechten Gang, für Sprechen und Denken und es gilt auch für die Grundlagen sittlichen Verhaltens einschließlich von Verantwortung. Es gibt in der Entwicklungsbiologie Hinweise auf biologische Anlagen zum Mitgefühl, zur Empathie und zum Altruismus (vgl. Gierer 1998). In die gleiche Richtung weist die Entdeckung der „Spiegel-Neurone“ in der Hirnforschung (vgl. z.B. Roth 2001, S. 205 und 385); diese scheinen Imitationslernen, aber auch Empathie zu ermöglichen. Experimente im Rahmen der evolutionären Psychologie haben gezeigt, dass bereits Säuglinge ab dem 9. Lebensmonat Verhaltensweisen entwickeln, mit deren Hilfe sie sich auf Erwachsene einstellen und andererseits Erwachsene dazu bringen, sich auf sie einzustellen (vgl. Tomasello 2002, S. 79). Alle diese Befunde sprechen dafür, dass eine Reihe von Verhaltensdispositionen, die als Vorläuferfähigkeiten für Verantwortung gelten können, in der biologischen und kulturellen Evolution des Menschen angelegt sind. Demzufolge kann Verantwortlichkeit gelernt werden.

Die zweite Voraussetzung ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Entwicklung von Verhaltensdispositionen und Fähigkeiten nicht auf einem Reifungsprozess beruht. Vielmehr stellt die Entwicklung von Strukturen des Denkens und Fühlens sowie von Fähigkeiten aller Art eine aktive Leistung der heranwachsenden Person dar. Diese Leistung ist abhängig von der sozialen Mit- und Umwelt. Man muss nicht Pädagoge sein, um die große Bedeutung von Selbsttätigkeit und Erfahrung in und mit der Umwelt für die menschliche Entwicklung zu betonen. Die Hirnforschung beispielsweise belegt die „aktivitätsabhängige“ und „erfahrungsabhängige“ Entwicklung von Hirnstrukturen (vgl. Singer 2002, S. 47). Aus diesen und vielen weiteren Befunden lässt sich folgern: Die Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen (bzw. die dafür relevanten Verhaltensdispositionen), müssen gelernt werden.

Die beiden genannten Voraussetzungen dafür, dass die nachwachsende Generation die Bereitschaft und Fähigkeit entwickelt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, stehen nur scheinbar im Widerspruch zueinander. In Wirklichkeit bilden sie einen unauflösbaren, wenn auch spannungsreichen Zusammenhang: Anlage und Umwelt, Natur und Kultur / Gesellschaft, Erben und Erwerben stehen in Wechselwirkung miteinander. Das heißt: Entwicklung und Erwerb der im Menschen angelegten Verantwortungsfähigkeit sind auf Lernen und auf Erziehung i. S. v. Lernhilfen angewiesen. Es kann aber auch Erziehungseinflüsse geben, die Entwicklung beeinträchtigen oder sogar verhindern. Die Anlage zur Verantwortungsfähigkeit kann demnach durch Erziehung zur Entfaltung gebracht, sie kann aber auch verschüttet werden.

Auf welche Weise kann Verantwortung gelernt werden?

„Lernen“ wird heute als eine selbsttätige, „aktivitätsabhängige“ und konstruktive Leistung verstanden. Der Begriff des Lernens beschreibt einen Prozess der Erfahrung (vgl. Prange 1979), der in sozialen Beziehungen und Situationen angesiedelt ist. Er ist an Eindrücke, Inhalte, Informationen und damit an die Umwelt gebunden und führt dazu, dass sich Verhaltensweisen entwickeln bzw. verändern (vgl. Weidenmann 1989, S. 996).

Lernen kann verschiedene Formen annehmen:

  • „Implizites Lernen“ verweist auf unbewusste Lernprozesse, die aus gelebten Beziehungen hervorgehen. Es kann dazu beitragen, dass sich Verhaltensdispositionen entwickeln, die für Verantwortung grundlegend sind. Diese Lernform beschreibe ich an den Beispielen der frühen Bindungserfahrungen des Kindes sowie der kooperativen Moral in den Beziehungen der Kinder untereinander.
  • „Indirektes Lernen“ betrifft jene - ebenfalls überwiegend unbewussten - Lernprozesse, die durch die pädagogische Gestaltung der Umwelt angeregt werden. Indirektes Lernen kann dazu anregen, dass Verantwortung praktisch eingeübt wird. Diese Lernform erläutere ich am Beispiel von Partizipation.
  • „Intentionales Lernen“ kennzeichnet Prozesse des bewussten und strategischen Lernens, die durch gezielte Maßnahmen der Erziehung angeregt werden (oder selbstinitiiert stattfinden können z.B. durch Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen durch Dialog und Aufklärung sowie durch Zumutung von Pflichten). Nur beim intentionalen Lernen wird Verantwortung explizit zum Thema bzw. Inhalt des Lernens.

Alle drei genannten Lernformen sind bedeutsam dafür, dass sich die Bereitschaft und Fähigkeit zur Verantwortung entwickeln. Nur analytisch lassen sie sich klar trennen - im Leben und Erleben gehen sie häufig ineinander über oder stehen in einer mehr oder weniger starken Verbindung. Vieles spricht dafür, dass eine Form des Lernens für sich genommen nicht ausreicht, um Kinder zur Verantwortlichkeit gelangen zu lassen. Beispielsweise können Kinder sich das Vorbild der Erwachsenen zueigen machen, können es aber auch übersehen, vernachlässigen oder gar ablehnen. Es bedarf daher auch der Aufforderung zur Verantwortung aufseiten der Erwachsenen sowie der Einsicht und Entscheidung aufseiten der Kinder. Umgekehrt läuft die Aufforderung zur Verantwortung ins Leere, wenn Erwachsene den Kindern kein Vorbild für verantwortliches Handeln sind.

Lernen ist in verschiedenen sozialen Kontexten angesiedelt. Neben der Familie als der ersten, dauerhaftesten und nachweislich auch wirksamsten Lernumwelt gehe ich auf die Gruppe der Gleichaltrigen und auf Tageseinrichtungen für Kinder ein (vgl. Liegle 2006, S. 51 ff.; Tietze /Rossbach/Grenner 2005).

Lernen ist außerdem in den Lebenslauf eingebettet. Das bedeutet einerseits, dass Lernen während des gesamten Lebens möglich ist und tatsächlich stattfindet. Andererseits lassen sich in verschiedenen Phasen des Lebens neben allgemeinen auch spezifische Merkmale hinsichtlich der Formen und sozialen Kontexte des Lernens beobachten. Beispielsweise sind erst im Alter von etwa 6 Jahren die kognitiven Voraussetzungen für intentionales Lernen voll entwickelt (vgl. Hasselhorn 2005). Aus diesem Grund haben in der frühen Kindheit die Wege des impliziten und indirekten Lernens Vorrang; sie erschaffen das motivationale Fundament, auf welchem sich verantwortungsvolles Fühlen, Denken und Handeln entwickeln können.

Implizites Lernen von Verantwortung im Kontext von gelebten Beziehungen

Das implizite, unbewusste, gleichsam nebenbei aus der Teilhabe an gelebten Beziehungen hervorgehende Lernen ist nicht nur die lebensgeschichtlich erste, sondern wahrscheinlich insgesamt die wichtigste und wirksamste Form des Lernens. Dabei lassen sich zwei Aspekte unterscheiden:

  • die Erfahrung von Verbundenheit und
  • das Lernen durch Nachahmung von Vorbildern.

Die Erfahrung von Verbundenheit in der Familie

Die umfassende elterliche Sorge für den Nachwuchs ist der Ursprung der Idee von Verantwortung überhaupt. Eltern, die diese unbedingte Verantwortung angemessen wahrnehmen, ermöglichen dem ins Leben tretenden Kind, Fürsorglichkeit und Verbundenheit, Verlässlichkeit und Vertrauen, Anerkennung und Liebe zu erfahren. Diese Erfahrung begründet „Urvertrauen“, das im Verständnis von Erikson (1966, S. 62ff.) Vertrauen in die Welt und Vertrauen in die eigene Person umfasst. Wer als Kind diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht hat, erwirbt damit die für Verantwortung grundlegende Bereitschaft und Fähigkeit, diese Erfahrung auch mit anderen Menschen zu teilen und ihnen mit Fürsorglichkeit und Verbundenheit, Verlässlichkeit und Vertrauen, Anerkennung und Liebe zu begegnen. Diese Folgerung legen jedenfalls die Befunde der Bindungsforschung nahe. Sie zeigen, dass die in der frühen Kindheit erlebten Formen der Bindung zu „inneren Arbeitsmodellen“ entwickelt werden, die im weiteren Lebenslauf für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen von entscheidender Bedeutung sind (vgl. z.B. Grossmann/Grossmann 2001). Umgekehrt gibt es Hinweise darauf, dass eine der wichtigsten lebensgeschichtlichen Wurzeln für unverantwortliches Verhalten wie z.B. Fremdenfeindlichkeit in mangelnden oder traumatischen Bindungserfahrungen zu finden ist (vgl. Heitmeyer u. a. 1992).

Die Bedeutung der Verbundenheit in Tageseinrichtungen für Kinder

Nicht nur im Rahmen der Familie, sondern auch im Kontext der öffentlichen Erziehung bildet die Erfahrung von Verbundenheit eine wesentliche Grundlage, damit Kinder lernen. Für die Fachkräfte ergibt sich daraus die Aufgabe, auf jedes Kind achtsam und feinfühlig einzugehen und ihm Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Das klingt eher nach Mütterlichkeit als nach Professionalität und die Empiriker werden fragen, ob und wie dies denn gemessen werden könne. Und doch haben die genannten Wege der indirekten Erziehung auch in die Qualitäts- und Wirkungsforschung Eingang gefunden. Im Bericht über eines der aufwendigsten frühpädagogischen Forschungsprojekte heißt es:
„Die Qualität der Erzieherinnen- Kind-Interaktion erweist sich als besonders bedeutsam. Dort, wo Mitarbeiterinnen emotionale Wärme zeigen und aufmerksam auf die individuellen Bedürfnisse von Kindern eingehen, kann bei den Kindern eine höhere Sozialkompetenz festgestellt werden.“ (Sylva u. a. 2004, S. 159)

Die Bedeutung von Vorbildern

Nachahmung gehört zu den mächtigsten Antrieben für Lern- und Bildungsprozesse. Es liegt auf der Hand, dass Kinder sich besonders dann Verhaltensweisen, Kompetenzen und Einstellungen zueigen machen, wenn ihnen diese von Personen vorgelebt werden, mit denen sie sich emotional verbunden fühlen, mit denen sie sich identifizieren. Und ebenso liegt - unter dem Aspekt der Professionalität - auf der Hand: Vorbildsein setzt ebenso wie Bindungsperson-Sein voraus, dass die Fachkräfte sich selbst beobachten und sich selbst erziehen. Die Art und Weise, wie Erwachsene füreinander und für Kinder Verantwortung wahrnehmen - beispielsweise durch Feinfühligkeit, Respekt und Anerkennung, in der Vereinbarung von Regeln des Gemeinschaftslebens, im Umgang mit Regelverletzungen, in der Bearbeitung von Konflikten - kann für Kinder zum Modell für das eigene Handeln werden.

Die Bedeutung der Erfahrung von Freundschaft und Geschwisterlichkeit

Alle gelebten Beziehungen sind auf Wechselseitigkeit angelegt. Wechselseitigkeit bestimmt auch die Prozesse des (impliziten) Lernens und der (impliziten) Erziehung. Kinder lernen nicht nur von Erwachsenen; umgekehrt lernen auch Erwachsene von Kindern. Zugespitzt kann man daher sagen: Nicht eine Person „erzieht“ eine andere Person, sondern die gelebten und erlebten Beziehungen „erziehen“.

Wechselseitigkeit gewinnt eine besondere Qualität in den Beziehungen der Kinder untereinander. Die Gleichaltrigengruppe (und auch die Geschwistergruppe) ist im Gegensatz zu den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht durch einseitige Abhängigkeit, sondern durch prinzipielle Gleichrangigkeit gekennzeichnet. Aus diesem Grund gilt sie als derjenige soziale Ort, an dem Regeln in einer Weise ausgehandelt und gelernt werden, die einer demokratischen Gesellschaftsordnung entspricht: im Sinne der Verständigung und Absprache unter Gleichen. Die Beziehungen zwischen Gleichaltrigen spielen daher eine entscheidende Rolle dafür, dass moralische Urteile im Sinne einer „kooperativen“ und autonomen Moral zur Entwicklung gelangen (vgl. Piaget 1932/1973, S. 223ff.).

Insbesondere in Freundschaften haben Kinder die Chance, unter Bedingungen der Gegenseitigkeit Verantwortung zu lernen. Dabei meint Verantwortung, für die Folgen des eigenen Verhaltens einzustehen, für die Belange der Anderen und die wechselseitige Anerkennung von Regeln und Pflichten einzutreten.

Indirektes Lernen von Verantwortung durch Partizipation

Maria Montessoris Pädagogik stellt mit der „vorbereiteten Umgebung“ an die Stelle von Belehrung die Ausstattung des Kinderhauses oder der Schulklasse mit Lernmaterialien, welche die Kinder zum selbsttätigen Erwerb von Fertigkeiten und Fähigkeiten herausfordern. In diesem Sinne betrachte ich Partizipation als Anregung, um Verantwortung praktisch einzuüben. Partizipation kann und muss in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand der Kinder und vom sozialen Kontext des Lernens verschiedene Formen annehmen. Es lassen sich aber auch allgemeine Voraussetzungen für und Merkmale von Partizipation benennen, die das indirekte Lernen von Verantwortung unterstützen, wie z.B.: die Ermutigung dazu, die eigenen Belange, Interessen und Bedürfnisse geltend zu machen, und deren angemessene Berücksichtigung; die Aufforderung, Belange, Interessen und Bedürfnisse Anderer abzuwägen; das Zugeständnis bzw. die Zumutung von Eigenverantwortung für bestimmte Tätigkeiten; die aktive Teilhabe an gemeinsamen Projekten und gemeinsamem Tun; die aktive Mitwirkung bei der Festlegung von Zielen, der Wahl der Mittel und der Gestaltung von Rahmenbedingungen hinsichtlich der Lebensführung in einer Gemeinschaft (vgl. z.B. Güthoff /Sünker 2001).

Partizipation in der Familie

Partizipation und Verantwortung von Kindern gibt es nicht erst in heutigen Familien. Allerdings haben sich deren Verständnis und Erscheinungsformen gewandelt. Beispielsweise war es in bäuerlichen und Handwerkerhaushalten selbstverständlich, dass Kindern bereits in frühem Alter Mitverantwortung in der Familienwirtschaft zugemutet wurde. Für die Gegenwart könnte man sagen, dass als wichtigste verpflichtende Verantwortung der Kinder ihre Lernarbeit für die Schule gilt. Im Übrigen scheint an die Stelle der Zumutung von Pflichten immer stärker das Zugeständnis von Rechten zu treten. Für das Lernen von Verantwortung bedeutet dies beispielsweise: Kinder werden einbezogen, um Regeln für das Familienleben festzulegen; es besteht eine hohe Anforderung an wechselseitiges Einfühlungsvermögen; Eltern betonen als Ziel der Erziehung Selbstständigkeit, insbesondere im Sinne von Selbstkontrolle; es wird den Kindern viel Eigenverantwortung zugestanden, z.B. in der Wahl von Freunden, in ihren Freizeitaktivitäten, in Kaufentscheidungen und in der Mediennutzung (vgl. z.B. Ecarius 2002).

Partizipation in Tageseinrichtungen für Kinder

Als Beispiel für Ansätze der Partizipation können die Bildungs- und Erziehungsempfehlungen für Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz dienen. Sie enthalten einen eigenen Abschnitt zum Thema „Selbstständiges Lernen und Partizipation von Kindern“. Darin heißt es: „Die pädagogische Arbeit soll so angelegt sein, dass die Kinder zu selbstständigem Handeln und Lernen angeregt werden. Die Kinder sollen lernen, eigene Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Durch Partizipation im Alltag der Kindertagesstätte erleben Kinder zentrale Prinzipien von Demokratie. Partizipation setzt eine entsprechende Haltung von Erzieherinnen und Erziehern voraus, die sich in alltäglichen Handlungen und in besonderen Methoden wie z.B. der Kinderkonferenz widerspiegeln.“ (Ministerium für Bildung 2004, S. 85)

Als Voraussetzungen und Formen des impliziten Lernens von Verantwortung werden u. a. genannt, dass

  • den Kindern das Material zur freien Auswahl zur Verfügung steht;
  • die Kinder über Art und Dauer einzelner Aktivitäten in der Regel frei entscheiden können;
  • die Kinder kleine Gruppen bilden und sich für Einzeltätigkeiten spontan entscheiden können;
  • die Erzieherinnen die Wünsche und Interessen der Kinder ernst nehmen und mit ihnen zusammen planen;
  • Normen und Gebote den Kindern verständlich gemacht werden, wobei die Kinder die Zweckmäßigkeit infrage stellen können und
  • Regeln mit Kindern gemeinsam ausgehandelt werden.

Intentionales Lernen von Verantwortung durch Dialog und die Zumutung von Pflichten

Die kognitiven Voraussetzungen für intentionales, bewusstes und systematisches Lernen sind bei Kindern im Vorschulalter noch nicht voll entwickelt (s. o.). Dennoch gilt: Auch Kinder im Vorschulalter sind fähig zur Einsicht, z.B. bezüglich der Forderung, Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen Ethnien und Religionen wechselseitig anzuerkennen; sie sind fähig, Argumente zu verstehen und selber hervorzubringen, z.B. warum ein behindertes Kind besonderer Fürsorge bedarf; sie sind fähig, Regeln des Gemeinschaftslebens zu vereinbaren und bewusst anzuwenden; sie sind fähig, bewusst kleinere Pflichten zu übernehmen. Diese Fähigkeiten gezielt anzuregen und einzuüben gehört zu den Aufgaben der Fachkräfte. Im Rahmen eines kontinuierlichen Dialogs können und sollten sie die Kinder zu verantwortungsvollem Denken und Handeln auffordern. Denn alles spricht dafür, dass die Formen des bewussten und intentionalen Lernens - zusätzlich zu den Formen des impliziten und indirekten Lernens - zu den Voraussetzungen dafür gehören, dass Kinder Verantwortlichkeit als Richtschnur für ihr Denken und Handeln verinnerlichen.

Gelegenheiten zum bewussten Lernen von Verantwortung sind beispielsweise:

  • Die Aufnahme eines neuen Kindes in die Gruppe wird zum Thema gemacht;
  • die Außenseiterstellung eines Kindes wird besprochen, und es wird gemeinsam überlegt, wie dieses integriert werden kann;
  • leidvolle Erfahrungen von Kindern (z.B. ein Todesfall in der Familie) werden besprochen, und es wird gemeinsam überlegt, ob und wie Trauer hilfreich begleitet werden kann;
  • es wird eine abwechslungsweise Übernahme kleiner Ämter und Pflichten im Gruppenleben (z.B. Tischdienst) vereinbart, und die diesbezüglichen Erfahrungen werden gemeinsam besprochen.

Bei der gezielten Herausforderung bewussten Lernens von Verantwortung besteht die Gefahr, dass diese von den Kindern als moralischer Appell oder sogar Druck erlebt wird und in der Folge ihren eigenen Antrieb, Verantwortung zu übernehmen, eher schwächt als stärkt. Dieser Gefahr kann dadurch begegnet werden, dass die Zumutung von Verantwortung in eine Praxis der Partizipation und des Engagements in konkreten Projekten eingebettet ist, und insbesondere dadurch, dass die impliziten Lernprozesse dazu angetan sind, die Kinder Verbundenheit und die Anerkennung ihrer Person erfahren zu lassen.

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