Spielerische körperliche Auseinandersetzung als präventiver Weg gegen GewaltRingen und Raufen - aber mit Respekt!

Die Bedeutung eines respektvollen Umgangs miteinander lässt sich ganz besonders am Thema „Ringen, Raufen, miteinander kämpfen“ erlebbar machen. Kinder können in vielerlei Hinsicht davon profitieren.

Während der Kindergartenzeit, in der sich Kinder körperlich, kognitiv, sprachlich und sozial rasant entwickeln, ergeben sich weitere Aufgaben, deren Bewältigung nur durch eine angemessene Verhaltens- und Gefühlsregulation möglicht ist. Dies geschieht natürlicherweise mit Auseinandersetzungen, Unruhe und Konflikten wie in jedem System, in dem Menschen zusammen leben, und gehört zum Alltag des Kindergartens. Rangeleien und körperliches Kräftemessen, zeitweiliges Verweigern, bestimmten Aufgaben und Pflichten nachzukommen, sind weder Kennzeichen von Gewaltbereitschaft oder einer aggressiven Verhaltensstörung noch behandlungsbedürftig.
Beachtet werden sollte jedoch, „dass Gewalt in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen objektiv wie subjektiv sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Was aus der Sicht der Erwachsenen als nicht hinnehmbare Gewalttat aussieht, mag aus der Perspektive der beteiligten Kinder oder Jugendlichen eine normale bzw. akzeptable Form des körperbetonten Ausraufens von Statuspositionen und des Austestens von Grenzen der Fairness oder schlicht als Ausagieren von Lebendigkeit erlebt werden. Derartige Unterschiede der Bedeutungszuschreibung von Gewalt sind nicht nur eine Frage des Alters, sondern – wie zahlreiche Studien belegen – in besonderem Maße Ausdruck heterogener kultureller Milieus (…). Deshalb gilt insbesondere im Kindes- und Jugendalter, dass es zwar gesellschaftlich anerkannte legitime und illegitime Formen der Gewalt gibt; diese Grenzen sind jedoch nicht nur fließend, sondern sie müssen von Kindern und Jugendlichen erst erfahren und gelernt werden.“ (Lüders/Holthusen, Gewalt als Lernchance 2007, S. 2f.)

Ringen und Raufen bilden und beugen Gewalt vor

In den länderspezifischen Orientierungs- und Bildungsplänen für den Elementarbereich finden sich unter dem übergeordneten Auftrag „Entfaltung der Persönlichkeit“ zahlreiche konkretere Ziele, die für die gesunde geistige, körperliche, soziale und emotionale Entwicklung aller Kinder sorgen sollen. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um eher „klassische Bildungsziele“ (wie der Erwerb sprachlicher, mathematischer, motorischer und naturwissenschaftlicher Grundkenntnisse und Kompetenzen), während auf der anderen Seite Ziele im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung im Allgemeinen formuliert werden (z.B. Aufbau eines positiven Selbstbewusstseins, Entwicklung von Eigenständigkeit und Autonomie, emotionale Stabilität und sozial kompetentes Verhalten). Darüber hinaus soll Erziehung und Förderung im Kindergarten ausgleichend bei individueller und sozialer Benachteiligung wirken und zum Abbau von Verhaltensproblemen beitragen.
Bei der Realisierung dieser Zielsetzungen wird im Kindergarten seit langem der „Psychomotorik“ als in den Alltag integriertes Prinzip und/oder als zugrunde liegendes Konzept der elementaren Bewegungserziehung zugetraut, umfassende Hilfestellung zu leisten. Die Wirksamkeitshoffnungen richten sich dabei u. a. auf positive Zusammenhänge zwischen Bewegen und Lernen sowie motorischem Kompetenzerleben und Stabilisierung der Persönlichkeit über erfolgreiche Bewegungshandlungen. Von Beginn an wurde Psychomotorik auch als ein Angebot verstanden, das über bewegungsbezogene Erfahrungen in der Gruppe sozial unangemessenem, aggressivem und gewaltbereitem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen begegnen will, allerdings meist nicht als spezielles „Antigewaltprogramm“ oder verhaltenstherapeutische Intervention, sondern als ein Förderbereich neben anderen im Rahmen eines spielerischen und bewegten Geschehens.

Begriffsbestimmung „Ringen und Raufen“

„Ringen und Raufen“ ist keine (Kampf-)Sportart, sondern ein eigenständiges, hochmotivierendes, aktivierendes und zugleich entspannendes wie sozialisierendes Handlungsfeld, in dem an frühe natürlich-kindliche Formen der spielerisch vollzogenen körperlichen Begegnung und Auseinandersetzung angeknüpft wird. Im oftmals engen Körperkontakt entstehen Situationen, in denen Jungen und Mädchen gemeinsame Grenzerfahrungen machen, Vertrauen in sich selbst und in andere aufbauen und festigen können und die zum gegenseitigen Respekt sowie zur Sicherheit und Kontinuität von Beziehungen beitragen. Das wechselvolle Geschehen von körperlichem und seelischem „Berührt-Werden“, welches nicht zwingend resultatsbezogen ist, bietet Raum für spielerisches, experimentierendes sowie exploratives Handeln, das weitgehend unabhängig von Alter und Geschlecht und auch vom motorischem Leistungsvermögen ist. Unverzichtbare Voraussetzung für das Tun und freudvolles Erleben sind das Einhalten von Regeln, der gegenseitige Respekt sowie Sensibilität und Verantwortungsgefühl im Umgang mit dem jeweiligen Gegenüber.
Ringen und Raufen wird hier als ein (mögliches) Element einer psychomotorisch orientierten Bewegungserziehung im Kindergarten verstanden, das nicht auf ein eigenständiges Programm zur Gewaltprävention reduziert oder als ein solches instrumentalisiert werden darf. Was diesen Bereich jedoch noch näher an die Gewaltprävention heranrücken lässt als die Psychomotorik insgesamt und ihn somit als geeignetes Anwendungs- und Erfahrungsfeld zur Stärkung der kindlichen Persönlichkeit und zum Einüben bzw. Festigen sozialverträglicher Umgangsweisen auszeichnet, sind spezifische Themen und Inhalte, die die Bedeutung eines menschlichen Miteinanders unmittelbar erleb- und erfahrbar werden lassen. Dazu gehören u. a.

  • jemandem unter- oder überlegen sein
  • jemandem nahe oder zu nahe sein, sich annähern
  • etwas in Angriff nehmen, angreifen, sich behaupten
  • Grenzen erkennen, anerkennen, ziehen, verschieben, mit Grenzverletzungen umgehen
  • etwas wagen, begründen und verantworten
  • den Körper nutzen und einsetzen, um etwas durchzusetzen
  • sich selbst und andere im Griff haben
  • Regeln aushandeln, verbindlich machen, einhalten, überprüfen, gemeinsam verändern
  • um eine Position kämpfen, eine Position einnehmen
  • Halt geben und Halt finden
  • sich mit fairen Mitteln verteidigen, sich befreien
  • aufgeben können, Niederlagen verwinden
  • tragen, ertragen, getragen werden
  • Von jemandem/etwas berührt werden
  • aus dem Gleichgewicht geraten und dieses wieder finden

Was Kinder erfahren – wovon sie profitieren

Ringen und Raufen können unter einer allgemeinen gewaltpräventiven Perspektive Kinder dabei unterstützen,

  • den eigenen Körper und sich selbst zu „beherrschen“,
  • sich selbst und andere in seinen bzw. ihren Stärken und Schwächen wahrzunehmen und zu akzeptieren,
  • sich selbst und anderen – auch in kritischen Situationen – zu vertrauen und
  • Verhaltensweisen zu erlernen, Werte zu übernehmen, die einen menschlichen wie respektvollen Umgang miteinander wahrscheinlicher machen.

Zahlreiche Bewegungsformen im Ringen und Raufen (wie Rollen, Wälzen, Krabbeln, Drehen) und die vielfältigen Bewegungssituationen bzw. -aufgaben entwickeln nicht nur die motorischen Basiskompetenzen isoliert voneinander (Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer Koordination, Gleichgewicht…), sondern erweitern das gesamte Bewegungsrepertoire. Außerdem können spezifische Techniken erlernt werden (Rollen, Fallen, Halten…), mit deren Hilfe die (eigene) Bewegung besser kontrolliert und sicherer werden kann. Dies kommt vor allem den Kindern entgegen, denen ein Übermaß an „Bewegungshunger“ zu eigen ist, die impulsives und wenig aufmerksames Verhalten zeigen.
Sich selbst wahrnehmen, als „reflexive Wendung auf die eigene Person“, und wahrnehmen von anderen, als ein Vorgang, der sich auf das soziale Geschehen, den gegenseitigen Umgang miteinander sowie auf die Interpretation des (gemeinsam) Erlebten und Wahrgenommenen bezieht (vgl. Funke 1983), sind gerade bei Ringen und Raufen eng miteinander verwoben. In einem Kampf treffen immer mindestens zwei Partner aufeinander und dies ist insofern jederzeit ein sozialer Vorgang. Ein Kampf führt aufgrund des heftigen, oft großflächigen Körper- und Hautkontaktes zu Wahrnehmungen und Erlebnissen, die mit allen Persönlichkeitsbereichen verbunden und in mehrfacher Hinsicht grenzwertig sind. Nur wenn Grenzen wirklich gelten (etwas wert sind), wenn Grenzverletzungen und Umgangsformen damit (schon im Vorfeld) thematisiert werden, entsteht die Sicherheit, die für ein freudvolles Miteinander-Gegeneinander- Kämpfen notwendig ist. Partnerschaftlichkeit, Fairness, Höflichkeit und Respekt sind Ziele und gleichzeitig Voraussetzungen, um freudvoll (und u.U. heftig) miteinander zu kämpfen. Diese Werte sind unverzichtbar zum Aufbau und zur Festigung positiver Beziehungen. Und deren Übernahme bedeutet eine klare Ablehnung von Gewalt. Gelingender Umgang miteinander zeigt sich noch während des Kämpfens darin, dass die Partner trotz des Siegeswillens respekt- und rücksichtvoll miteinander umgehen. Dazu gehört es, sofort auf verabredete Zeichen oder entsprechende Aufforderungen zum Aufgeben bzw. Abbrechen des Kampfes, möglichst aber auch schon auf erste Signale des Unwohlseins, zu reagieren. Nach dem Ende des Kampfes darf in keiner Weise das Prinzip der „Partnerschaftlichkeit“ zur Disposition stehen. Respekt bedeutet auch, den Sieg nicht zu Ungunsten bzw. zur Schmähung des Partners auszukosten.

Wie die Umsetzung des Bewegungsangebotes gelingt

Eine spezielle Methodik des Ringens und Raufens gibt es nicht. Gerade im Kindergarten geht es nicht um das Erlernen von Kampf- oder sportartspezifischen Techniken mithilfe von Übungsreihen und Bewegungsanweisungen, sondern darum, dass Kinder sich dieses Bewegungsfeld möglichst selbstständig und selbstverantwortlich erschließen. Es empfiehlt sich, eine Angebotsstruktur zu schaffen, die zunächst die allgemeinen Bewegungsbedürfnisse der Kinder berücksichtigt und sodann über primär kooperative Spiele und Übungen ohne und mit Körperkontakt das Thema zum Kämpfen hin allmählich erweitert. Von zentraler Bedeutung sind allerdings bestimmte Strukturen und Rahmenbedingungen, für deren Aufbau und Einhaltung der Erwachsene Sorge tragen muss.

  • Es gelten einige wenige, allerdings unverzichtbare und nicht außer Kraft zu setzende Prinzipien und Regeln. Freiwilligkeit ist dabei oberstes Prinzip. Jedes Kind muss für sich entscheiden, ob es sich auf das Geschehen einlässt oder nicht. Auch das zeitweilige Herausgehen aus der Situation wird fraglos eingeräumt.
  • Die Regel, die als umfassendste den Umgang miteinander und das Kampfgeschehen bestimmt, lautet: „Es ist alles verboten, was weh tut!“ (positiv formuliert: „Es ist alles erlaubt, was nicht weh tut!“). Dieses „Nicht-Wehtun“ bezieht sich dabei sowohl ausdrücklich auf die eigene wie auf die Person des Gegenübers. Die Bezeichnung „Gegner“ wird dabei vermieden. Gekämpft wird „mit einem Partner“, dem Respekt und Höflichkeit entgegengebracht werden soll.
  • Eine weitere wichtige Regel besagt, dass jede(r) jederzeit das Recht hat, einen Kampf bzw. eine Übung abzubrechen, aus welchen Gründen auch immer. Dies kann über verbale Äußerungen und/oder bestimmte Zeichen – wie „Abklopfen“ – erfolgen.
  • Bestimmte Rituale (z.T. entnommen aus dem Regelwerk der Kampfsportarten) erleichtern die Durchführung und geben gerade jüngeren Kindern Sicherheit und Orientierung. Dazu gehören u. a. Konzentrationsphasen zu Beginn und Ende der Stunde sowie ein Begrüßen und ein Abgrüßen des Partners vor dem Beginn bzw. nach Ende eines Kampfes. Auf weitere methodische Hinweise, die sich auf die äußeren bzw. materiellen Rahmenbedingungen
  • beziehen, wird an dieser Stelle nur kurz verwiesen.
  • Wichtig ist ein geeigneter Untergrund. Viele Übungen und Spiele lassen sich auf dem normalen Hallenboden durchführen. Zum eigentlichen Kämpfen können alle verfügbaren Matten (Weichböden, Turnmatten, Judomatten) eingesetzt werden, solange sie nicht wegrutschen. Ideal sind die mit glatten Oberflächen versehenen Judomatten, da sie weder zu hart noch zu weich und gut transportierbar sind.
  • Die übliche Sportkleidung ist zu dünn und nicht reißfest. Hier können Griffe nur direkt am Körper ansetzen. Durch eine stabile Jacke (oder ein altes Sweatshirt), kann diese selbst als direktes „Angriffsobjekt“ für Griffe mit einbezogen werden. Ein Judogürtel steigert die Vielfalt der Angriffs-, Halte- und Ausweichmöglichkeiten. Eine lange Hose ist gerade für Aktivitäten im Knien oder Robben auf den Matten zur Schonung der Knie sinnvoll.
  • Schmuck sowie Armbanduhren sollten selbstverständlich abgelegt werden, ebenso Haarspangen, Brillen etc., da sie die freie Bewegungsmöglichkeit zum Teil erheblich einschränken und zu unangenehmen Verletzungen führen können.

Bewährter Aufbau und Abfolge für die Praxis

Die im Folgenden angegebene Abfolge hat sich bei der Umsetzung für Kinder, die noch keine Erfahrungen mit dem Thema haben, bewährt (vgl. Beudels/Anders 2002).

  • Bewegungsfreude entwickeln, Bewegungshunger stillen
  • Körperkontakt aufnehmen und akzeptieren
  • Vertrauen entwickeln und stabilisieren
  • Von kleinen Kämpfchen zum komplexen Kampfgeschehen

Spielvorschläge und Hinweise für die Umsetzung können bei der Redaktion angefordert werden.

Fazit

Nicht der konfliktfreie Kindergarten ist das Ziel gewaltpräventiver Maßnahmen, sondern die Vermittlung eines Verhaltens bzw. einer Verhaltensdisposition, die einen sozial angemessenen Umgang miteinander ermöglicht. Sie geben vor allem den Kindern Hilfestellung und Orientierung, bei denen eine Häufung von Risikofaktoren auf die Entwicklung aggressiven bzw. gewaltbereiten Verhaltens hindeutet. Das Thema Ringen und Rangeln setzt als ein eher unspezifisches Angebot an der Stärkung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes wie an der Vermittlung basaler Kompetenzen an und ergänzt bzw. unterstützt damit in geeigneter Weise spezifische gewaltpräventive Programme. Als weitgefächertes Erfahrungsfeld können Kinder spielerisch den Umgang mit „Nähe und Distanz“ üben und eigene Grenzen entdecken. Die Erfahrungen tragen zum Aufbau eines positiven Selbstbildes bei und stabilisieren das Vertrauen in sich und andere. Gewalt? Nein Danke!

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