Die neue Rilke-BiografieOffenbarende Lyrik

Manfred Koch gehört nicht zum Adorationsclub von Rainer Maria Rilke, ganz im Gegenteil. Er musste sich seinen Zugang zu Rilke erst mühsam erarbeiten. Er hatte als Student der Germanistik keinen Zugang zu Rilke, fand dessen Gedichte parfümiert und dessen religiösen Verkündigungston albern. Der Spott Gottfried Benns über Rilkes Poesie als „Reimplastillin“ und die Häme Bert Brechts, der Rilkes Gottesverhältnis als „schwul“ klassifizierte, standen ihm näher. Seine spätere Frau Angelika Overath empfahl Koch die Lektüre der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Das änderte Kochs Zugang fundamental. Die Frucht ist diese vorliegende opulente Biografie, die zum 150. Geburtstag des Dichters erscheint.

Die Pariser Jahre 1902 und 1903 bilden folgerichtig den Auftakt: Von Rilkes Erfahrung der Großstadt und ihren Abgründen ausgehend, vor allem aber aus der Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin erschließt Koch die berühmten Gedichte „Der Panther“ und „Archaischer Torso Apollos“. Rilke überträgt das Handwerk des bildenden Künstlers Rodin auf die Lyrik: So schafft er Kunst-Dinge, tötet ihre bloße Materialität, bevor er sie mit einer neuen Perspektive zum Leben erweckt. Dieses Kunstprogramm ist keine Masche, sondern fordert die Investition der Existenz.

Die Angst, dem nicht zu genügen, ließ Rilke nicht nur soziophob werden, sondern prägte auch seine Beziehung zu den Frauen, die man als „aversive Hingezogenheit“ beschreiben könnte. Eine Psychoanalyse lehnte er ab, weil er mit der „Austreibung der Teufel“ auch eine Beschädigung seiner Engel fürchtete. So wurde die Literatur für ihn zur „Selbstheilung der Seele“. Eine Therapie hätte er als Kapitulation des Dichters angesehen. Die poetische Selbstheilung führte im Februar 1922 zu einem Produktionsrausch. Er vollendete die Duineser Elegien, schrieb 55 „Sonette an Orpheus“ und verfasste den Essay „Brief eines jungen Arbeiters“, in dem er die Sexualfeindschaft des Christentums anklagt. Es habe das Geschlecht heimatlos gemacht anstatt zum Fest der Lebendigkeit.

Koch gelingt es, den Verdacht der „poetischen Ontodizee“, der Rechtfertigung des Seins durch die Dichtung, der zur religiösen Einhegung geführt hatte, durch den Hinweis auf ein ausgefeiltes Kunstprogramm zu entkräften.

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Manfred Koch

560 S., 34,00 € (D)