Weihnachten – Fest der Verbundenheit und des Miteinander

Vor genau einem Jahr hat Anselm Grün OSB mit der Arbeit an seinem neuen Buch begonnen: „Kein Mensch lebt nur für sich allein“. Für ihn war dabei wesentlich die Erfahrung der Mystiker: dass wir in der Tiefe eins sind und den Mut haben sollten, daraus Konsequenzen zu ziehen. Mit Rudolf Walter, dem Herausgeber des einfach-leben-Briefes, spricht er darüber, was das – gerade auch in schwierigen Zeiten – für die Vorbereitung auf Weihnachten bedeuten kann.

einfach leben: Im Zentrum Ihres neuen Buches steht die Sehnsucht nach Verbundenheit, Sie benennen aber auch Defizite im Zusammenleben und stellen die Frage nach glückenden Beziehungen. Was hat Sie gerade in der Vorweihnachtszeit für dieses Thema sensibilisiert?
Anselm Grün: In dieser Zeit wird ja traditionell nicht nur die Verbundenheit in der Familie besonders erlebt. Schon wenn alle sich auf ein gemeinsames Fest vorbereiten, erfahren wir das Miteinander. Da ist dann in der Stadt eine spürbar emotional andere Atmosphäre, die nicht nur vom Kommerz bestimmt ist. Und es gibt jetzt eine stärkere Aufmerksamkeit für andere, auch für Menschen am Rand. Dem wollte ich in diesem Buch grundsätzlicher nachgehen und danach fragen, wie das über Weihnachten hinaus fruchtbar gemacht werden kann, wie wir dieser Sehnsucht auch im Alltag Geltung verschaffen können.

Wenn Sie jetzt ein Jahr zurückblicken: Was hat sich seither geändert?
Die Grundprobleme sind geblieben. Es gibt viel Leid in Beziehungen. Und dieses Jahr ist überschattet von dem andauernden Ukrainekrieg, und dann auch von dem in Israel und Palästina ausgebrochenen Krieg, dem Hass und der Gewalt. Wenn gerade in Bethlehem, wo mit der Geburt Jesu alles begann, Krieg herrscht, ist das besonders bedrückend. Seit Jahrzehnten ist gerade hier kein Frieden. Aber auch in unserer eigenen Gesellschaft hat sich etwas geändert. Da gibt es nicht nur einen politischen Rechtsruck, sondern damit verbunden auch ein großes Wutpotenzial. Menschen fühlen sich nicht wahrgenommen, nicht gehört, abgehängt.

2000 Jahre Weihnachten – und „alle Jahre wieder“ die gleiche Sehnsucht. Und auch das gleiche Defizit?
Der Friede, den die Engel auf den Feldern Bethlehems besungen haben, ist noch nicht Wirklichkeit. Der von den Römern damals gebrachte Friede war ja gewaltsam und aufgezwungen. Gerade weil die Zeiten heute so schwierig sind, wächst die Sehnsucht. Und auch die Motivation, das Versprechen von Weihnachten einzulösen. Heuer ist bei vielen das Gefühl besonders stark, nicht nur für sich zu feiern. Wir denken an die Menschen in Not, damit auch bei ihnen Weihnachten werden möge. Die Umstände wandeln sich – unter denen die Hoffnung auf Frieden, auf Versöhnung und Verbundenheit lebendig wird. Die Sehnsucht bleibt.

Ist nicht eine Gefahr unserer Weihnachtsvorstellung die Flucht in die Idylle?
Der Kern von Weihnachten, theologisch gesprochen, ist die Rettung der Welt durch Liebe und die Hoffnung auf einen Frieden, der nicht aus äußerer Macht kommt. Dieser Friede, der in dem ohnmächtigen Kind in der Krippe aufleuchtet, hat seine Kraft in der Überzeugung, dass Liebe stärker ist als der Hass. Daher ist es gerade in so konfliktbeladenen Zeiten wie heute wichtig, Weihnachten bewusst zu feiern. Das ist dann keine Flucht in die Idylle. Wir halten vielmehr die Sehnsucht nach Verbundenheit aller Menschen wach. Die Weihnachtsgeschichte erzählt im Übrigen ja keine Idylle. In den Evangelien ist nicht nur vom Frieden die Rede. Da gibt es staatliche Zwänge und die wirtschaftlich-soziale Not des Einzelnen. Da ist die Rede von einer Geburt unter Umständen der Unbehaustheit. Jesus wird von Herodes verfolgt. Das Evangelium erzählt von den Kindermorden. Jesus muss in die Fremde fliehen. Die Friedensbotschaft des Evangeliums leuchtet auf dem Hintergrund der politischen Realität. Gerade weil der Friede damals aufgezwungen war, wuchs die Sehnsucht nach einer anderen Qualität von Frieden. Ein Frieden, der von Innen kommt und nicht von einer äußeren Gewalt.

Feste und Feiern sind gemeinschaftsbildend, in der rituellen Wiederholung, in der Erinnerung. Ist das Weihnachtsfest also ein spiritueller Weg zur Stärkung des Miteinander?
Erinnerung gibt Hoffnung. Wenn wir uns nicht erinnern, überwältigt uns die Gegenwart mit ihrer Macht. Das jüdische Volk hielt auch in Zeiten der Verfolgung an den Festen fest, am Sabbat, an der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. So sollten wir Weihnachten feiern: Als Protest gegen die Missstände und als Verheißung, dass etwas Anderes, Neues möglich ist. Solche Erinnerung ist nicht wehmütige Nostalgie. Sie hält Hoffnung gegenwärtig, macht bewusst, was möglich ist.

Der Advent führt auf das Fest hin: Was könnte man denn in dieser Zeit tun, damit Gemeinschaft oder Verbundenheit gestärkt werden?
Es ist die Zeit der gemeinsamen Sehnsucht und der Ahnung, dass noch etwas anderes möglich ist. Es ist eine Zeit des gemeinsamen Wartens. Warten können heißt auch: Aushalten können, dass die Welt nicht ideal ist. Aber wir haben jetzt einen anderen Blick auf unsere Umgebung. Wenn in dieser Zeit unsere Städte schön geschmückt sind, dann ist das ja Ausdruck der Sehnsucht: dass diese Städte nicht nur funktionale, kalte Orte von Konflikt und Kommerz sind. Auch das verbindet. Martin Walser hat einmal gesagt: Wenn du etwas schön findest, bist du nie allein.

Weihnachten ist das klassische Familienfest. Familien sind die Orte, wo der Wert des Zusammenhalts erfahrbar ist, wo aber auch Brüchigkeit sozialer Beziehungen besonders schmerzlich erlebt wird. Gerade an Weihnachten. In Ihrem neuen Buch beleuchten Sie die Familienkonstellationen besonders: insbesondere die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die Rolle von Geschwistern, von Vätern und Müttern. Wieso? 
Gerade, wenn man schnell „Familie erleben“ will, ist die Gefahr groß, dass Spannungen hochkommen. Wir sollten nicht zu schnell „auf Frieden machen“. Sonst ist die Enttäuschung umso größer. Advent wäre dazu Gelegenheit. Diese Zeit meint ja nicht nur passives Warten, sondern aktives Vorbereiten, damit dann im Miteinander ein Fest möglich wird. Die Adventszeit wäre – zum Beispiel – eine Zeit, Beziehungen zu klären. Warum nicht eine Versöhnungsfeier in der Familie machen? Man könnte da fragen, wie das vergangene Jahr war. Wofür sind wir dankbar? Was ist nicht so gut gelaufen? Wo möchte sich jemand entschuldigen? So etwas kann auch schwierige Beziehungen verwandeln und auf ein neues Fundament stellen.

Und wenn es nicht klappt? Wie damit umgehen? Was heißt Weihnachten, wenn es nicht die vertraute Familienfeier ist?
Viele bleiben allein, gerade Ältere, die nicht mehr von den Kindern eingeladen werden. Das ist herausfordernd. Ich kann mich aber dann fragen: Was bedeutet denn das Wort der Mystik, dass „Gott in mir geboren“ wird? Was verwandelt das in mir selber? Wie kann ich ganz „ich selber“ werden? Wenn ich bei mir daheim sein kann? Und auch in der Sehnsucht nach Verbundenheit mit anderen Menschen ist ja Verbindung erlebbar.

Weihnachten als ein mystisches Fest – das ist ja kein individualistisch-privatistisches Verständnis.
Im Gegenteil. Es ist eine tiefere Form der Verbundenheit: Dass Gott in mir geboren wird, bleibt immer Geheimnis. Es ist die Ahnung, dass in mir ein Geheimnis ist, das größer ist als ich selber. Zudem: Mystik ist nicht ohne Solidarität, Solidarität mit allen Menschen. Die alten Mönche waren überzeugt: Wenn es in mir heller wird, wird auch die Welt um mich herum heller

Weihnachten heißt: Alles wird neu. Was soll denn neu werden? In der Gesellschaft? In uns?
Dass wir nicht an den alten Konflikten klebenbleiben, dass wir Altes begraben können, damit Neues aufblühen kann. Die Hoffnung, dass neues Miteinander, neue Verbundenheit möglich ist. Wenn ich glaube, dass Gott in der Seele, in meiner und der des anderen, geboren wird, verändert das die Beziehung untereinander. Ich kann dem anderen dann neu begegnen.

In dem Kapitel Ihres Buches „Was Verbundenheit ausmacht und ermöglicht“, nennen Sie nicht nur Haltungen wie Mitgefühl oder Toleranz, sondern am Ende: die Stille. Das ist ja nun keine soziale Haltung oder Tugend. Da erlebe ich doch zunächst und zuerst nur mich selber: Ich „bin“ still…
Auch wenn ich auf den Grund meiner Seele gehe, fühle ich mich verbunden. Und auch wenn ich mit anderen still bin, entsteht eine neue und tiefe Qualität von Verbundenheit, jenseits aller Worte.

Stille beschreiben Sie als Voraussetzung für gelingende Gemeinschaft. Zu festlicher Verbundenheit gehört auch das Singen. Vielleicht ein Grund, warum „Stille Nacht“ das Lieblingsweihnachtslied nicht nur der Deutschen ist. Was ist denn Ihr Lieblingsweihnachtslied?
 „Es ist ein Ros entsprungen“: ein altes mystisches Lied. Da ist die Rede davon, dass „mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“ eine zarte Blume mit ihrem hellen Schein die Finsternis vertreibt. Damit verbindet sich für mich auch die Hoffnung, dass die Kälte der Gesellschaft sich wandelt und wir neue Verbundenheit und Lebendigkeit erfahren dürfen

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