Begegnungen. Anselm Grün im GesprächDie Wunder im Alltag entdecken

Begegnung mit Anselm Grün: Die Wunder im Alltag entdecken
Anselm Grün geht in seinem neuen großen Buch über das Staunen der Frage nach dem einfachen und guten Leben nach.© Daniel Biskup - Verlag Herder

einfach leben: Das Internet erleichtert manches, es kapert aber auch unsere Zeit und Aufmerksamkeit. Die Leute haben immer weniger Zeit fürs Lesen, jedenfalls schrumpft die Zahl der Leser dramatisch. Und Sie schreiben ein Buch! Noch dazu über das Staunen. Warum?
Anselm Grün: Wenn man sieht, wie viele Menschen ständig auf ihr Mobiltelefon starren, kann man den Eindruck gewinnen, dass wir in Gefahr sind, uns zu verlieren. Wir sind im Alltag an vielen Orten zugleich, hören dem einen zu und starren dabei aufs Handy, weil jemand gerade eine Nachricht schickt. Oder holen uns eine Information aus dem Netz, während wir telefonieren. Ich erlebe viele, die sich von all diesen Impulsen treiben lassen. Aber de facto sind wir im Netz gefangen und zappeln. Viele hetzen durch ihr Leben – und verschlafen es dabei doch. Sie hetzen durch die Welt und sind nicht bei sich. Zerstreuung ist aber kein Weg zum Glück.

Staunen wäre eine Gegenkraft?
Staunen heißt ja: Stehenbleiben, Hetze und die Routine unterbrechen – und schauen. Staunen als Aufmerksamwerden, Sich-wundern ist auch eine Haltung, eine Einstellung – und die ist widerständig gegen alle Zerstreuung.

Glück sei einfach nur „die ruhige Zufriedenheit, die man spürt, wenn das Leben gerade stimmig ist.“, sagt ein Mann aus der Internetbranche, Mo Gawdat, Vize- Präsident bei Google X. Er hat sich nach dem Tod seines Sohnes viel mit der Frage nach dem Glück auseinandergesetzt und sogar eine „Formel für Glück“ entwickelt. Meinen Sie etwas anderes mit „Glück“?
Zufriedenheit mit dem Leben, wie es ist, ist sicher wichtig, aber es ist noch nicht Glück. Glück hat noch andere Aspekte: im Einklang sein mit sich, Ja sagen zu sich. Oder die innerliche Erfahrung des Gelingens, wenn etwa ein Gespräch, eine Begegnung, eine Operation gelingt. Und Glück meint auch die Intensität des Erlebens. Staunen ist intensives Erleben, in dem ich ganz bei mir bin. Glück meint nicht Sattheit. Und Staunen hält das Glück lebendig. Staunen ist immer Einbruch von etwas Wunderbarem.

Man spricht auch von „ungläubigem Staunen“…
„Ungläubiges Staunen“ ist ja nicht Unglaube, sondern ein Verwundern: „Kann das wirklich möglich sein? Ich kann es noch kaum fassen.“ Aber wer so staunt, ist offen für Überraschung, für Neues, für eine Wahrheit, die sich da auf einmal zeigt – auch für Wunder mitten im Alltag. Er durchbricht die Routinen.

„Staunen – die Wunder im Alltag entdecken“, also ein widerständiges Buch: gegen die Mentalität des „Schneller, Weiter, Mehr“?
Ich glaube tatsächlich an die subversive Kraft von Büchern. Wer liest, nimmt sich schon einmal Zeit für sich. Wenn wir lesen, an einem Text bleiben, dann hat das die Kraft, uns mit uns selber in Berührung zu bringen. Im Lesen halten wir inne, setzen uns etwas anderem aus, erweitern unsere innere Welt, da vertiefen wir uns. Das sollten wir bewusst verstärken.

Aber wir leben doch notwendigerweise alle auch in Routinen.
Natürlich: Wir stehen jeden Tag auf, putzen die Zähne, frühstücken, lesen Zeitung, gehen zur Arbeit, kommen wieder heim, gehen schlafen. Aber auch und gerade solchen Routinen des Alltags kann man mit Achtsamkeit begegnen, ihnen dadurch die Oberflächlichkeit nehmen und sie mit Lebendigkeit füllen. Dann ändert sich das Leben. Es wird sinnvoller. Achten Sie einmal darauf, dass Sie atmen. Oder wie Sie gehen. Oder stehen. Oder sprechen. Auf solche Dinge mache ich in diesem Buch aufmerksam.

Von Achtsamkeit sprechen alle Meditationslehrer, auch Psychologen. Was meinen Sie damit?
Wenn ich die Dinge achtsam wahrnehme, wenn ich innehalte und ihnen auf den Grund gehe, wird mein Leben reicher. Die Dinge, denen ich begegne, sprechen von sich. Aber auch von mir. Und zu mir. Sie zeigen, welcher Reichtum in meiner Seele ist. Die Routine, das bewusstlos, das achtlos Gelebte, verblasst: Ich merke gerade im Staunen: Ich bin, eigentlich immer, vom Wunderbaren umgeben. Das zu erfahren, macht Spiritualität aus.

Spiritualität – sozusagen das Salz in der Alltagssuppe?
Sie gibt jedenfalls einen neuen Geschmack. Ich kann quasi schmecken, mit allen Sinnen spüren: Leben ist mehr. Ich bin letztlich eingehüllt von einer Wahrheit, von einer Schönheit, von einer Liebe – die Gott ist. Spiritualität lässt mich nicht nur aufatmen und innere Freiheit erfahren. Sie verleiht auch dem Leben einen neuen Glanz: Die Mystikerin Mechtild von Magdeburg sagt einmal: „An dem Tag meines spirituellen Erwachens sah ich Gott in allen Dingen und alle Dinge in Gott.“

Ist das denn etwas Religiöses? Oder eher etwas Natürliches?
Ich würde das nicht trennen. Der Dichter W.H. Auden hat einmal von unserem Bügelraum, alles: vom Dach bis in den Keller.

Was meint Wunder? Muss man dazu gläubig sein, im traditionellen Sinn?
Manche meinen, Wunder müsse etwas Großes, Spektakuläres sein. Augustinus sagt: Das Wunder ist das tägliche Brot, das ich esse. Die Pflanze, die ich wachsen sehe. Die Blüte, die aufgeht. Im Griechischen Wort „thaumazein“, Staunen, steckt das Wort „thauma“: Wunder. Ich kann diese Wunder erleben beim Blick auf einen Sonnenuntergang. Oder beim Blick in eine schöne Landschaft, wenn ich innehalte und bewundernd nur sage: „Ah!“ Jeder kann so etwas erfahren.

Spirituell kann man also nicht nur am Sonntag sein in der Kirche?
Ich würde so sagen: Spiritualität ist ein lebendiges Bewusstsein, das alle Aspekte unseres Lebens durchdringt. Es ist kein isolierter Bereich, sondern wie ein Haus, das Haus unseres Lebens: Da ist nicht nur der Meditationsraum. Sondern die Küche, das Esszimmer, das Kinderzimmer und der Bügelraum, alles: vom Dach bis in den Keller.

Den Weinkeller eingeschlossen?
Auch der Wein ist eine Wohltat Gottes, Geschmack der Erde und Geschenk des Himmels, der uns, wenn wir ihn genießen können, auch erfüllt mit einer inneren Freude. Freilich, er muss genossen werden. Aber ich genieße auch einfaches, frisches, klares Wasser. An einem heißen Tag kühles Wasser aus der Quelle, Schluck für Schluck – auch das ist ein wunderbarer Geschmack.

Wie finden wir zurück in dieses Haus unseres Lebens?
Der Weg heißt: Einfach leben. Das meint nicht nur: Nicht im Luxus leben. Sondern eins sein: mit mir und meiner Umgebung, mit dem, was ich tue. Wahrnehmen, was mir begegnet. Zu dieser einfachen Form der Zuwendung zum Leben zurückfinden, das ist der Weg der Spiritualität.

Spiritualität kommt von spiritus, Hauch. Wie kann ein zartes Lüftchen einem starken Sturm – von Konsum, von materialistischen Heilsversprechen – trotzen, der wie ein Tsunami über uns hinwegfegt?
Das ist eine starke Macht, klar. Aber: Ob ich den Kräften, die so stark sind, Macht über mich gebe, liegt ja an mir. Spiritualität ist eine luftige Kraft. Aber sie lässt mich atmen, macht mich unabhängig, frei. Spiritualität nimmt dem Leben auch die Verbissenheit, die Erdenschwere. Sie ist auch eine heitere Kraft.

Den Blick für das Einfache: Kann man den lernen? Ist Ihr Buch über das Staunen eine Art Wegweiser dafür?
Ich verstehe es als Anregung: dass Menschen aufmerksamer durch ihren eigenen Alltag gehen, dass sie spüren: Wenn ich achtsam bin, wird das Leben reich! Wenn ich in meine eigene Welt eintauche, entdecke ich, wie viel in mir liegt. Dem kann man im Lesen nachspüren. Ich kann aber nur von meinen eigenen Erfahrungen auf diesem Weg erzählen. Gehen muss – und kann – jeder diesen Weg selber.  

Anselm Grün: Staunen - Die Wunder im Alltag entdecken, Verlag Herder 2018

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