Kompass des Herzens

Das Unglück der Welt komme daher, hat Pascal gesagt, dass es die Menschen nicht allein in ihrem Zimmer aushalten. Das kann sein. Aber manchmal fällt einem die Decke auf den Kopf. Man spürt nur noch Mauern, und die Sehnsucht wird übermächtig. Was dann passieren kann, davon erzählt dieses Themenheft.

Wer pilgert, will etwas erfahren. Und das wollen immer mehr: Die Wege nach Santiago de Compostela sind überlaufen. Der Franziskusweg wird wiederentdeckt, der seit der Reformation verpönte Olafsweg im protestantischen Norwegen von immer mehr Menschen begangen. Die Pilgerbewegung ist die größte spirituelle Bewegung des neuen Jahrtausends – weit über die verfassten Kirchen hinaus. Pilgern hat immer zu den großen Religionen gehört. Im Islam, im Buddhismus genauso wie im Hinduismus. „Die aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ sind ein Klassiker der orthodoxen Frömmigkeit aus dem vorletzten Jahrhundert. Aber bei uns? Heute, im säkularen Westen?

Mit den traditionellen Wallfahrten hat der neue Trend nicht immer viel zu tun. Oft ist nicht klar: Ist da mehr als eine spirituelle Spielart des Out-door-Aktivismus? Mehr als Selbsterfahrungstripps, allein und zu Fuß? Promis und Unbekannte, Junge, die das Leben noch nicht richtig vor sich sehen und Rentner mit einer langen Biographie, Fromme, Esoteriker und Aussteiger, Asketen und Menschen in der akuten Lebenskrise – was verbindet sie? Was ist das Neue an dieser Bewegung? Und was uralte Sehnsucht?

Der Barockdichter Andreas Gryphius hat in einem Gedicht das Leben als „Rennebahn“ beschrieben. Heute erleben das viele in ihrer hektischen Alltagswelt: mit ihrer Mobilitätsanforderung, mit den atemlosen, sich ständig steigernden Leistungsansprüchen. Mit hohem Tempo im Kreis herum, ohne klares Ziel. Pilgern ist das Gegenmodell: ganz bewusst ein Ziel angehen, das jenseits der materiellen Zwecke ist. Langsam, Schritt für Schritt. Die Bruchstücke des Lebens wieder zusammenfinden lassen: Leib und Seele, Gefühl und Verstand, Natur und Tradition. Fragen, was das Ganze soll. Offen sein für Veränderung. Und auch wenn man allein geht: Sich verbinden mit denen, die vor Jahrhunderten schon auf dem gleichen Weg gingen, mit dem Strom des Lebens, mit der Geschichte einer großen Suche, der Orientierung am Heiligen. Teilhaben an einer größeren Gemeinschaft. Zeit als wesentlich erfahren. Wie fängt das an? Die Wurzel einer erfüllten Pilgerschaft ist der Entschluss zum Aufbruch. Aber auch das Unterwegssein und das Durchhalten, trotz allen Schwierigkeiten. Und schließlich die Rückkehr. „Das Ende der Welt ist erreicht, aber der Camino geht weiter. Jeden Tag.“

Es gibt dazu eine alte Geschichte: Zwei Mönche brechen auf aus ihrem Kloster, jahrelang nehmen sie auf der Suche nach dem Heiligen alle möglichen Strapazen auf sich. Endlich sind sie am Ziel – und merken: Sie stehen wieder vor ihrer Zelle. Ist das die Situation der Pilger heute: dass der Weg sie nach innen führt? Dass sie letztlich, verwandelt, bei sich selber ankommen? Dann muss man vielleicht gar nicht mehr weggehen, um anzukommen.

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