Jenseits des Funktionalismus

Baťův mrakodrap - architektonischer Funktionalismus
© Unsplash
Denn Gott ist sowohl ein Fortsein und weit entfernt,
ja das Sein selbst, und ein Hiersein, ganz nah, sage ich
Jon Fosse

 

Wir leben in einer Welt der funktionalen Imperative, die uns manchmal an den Rand der Erschöpfung bringt. Es ist gut, wenn etwas funktioniert – die Kaffeemaschine, der Aufzug, die öffentlichen Verkehrsmittel, das iPhone und vieles andere mehr. Auch ist es gut, wenn Pläne effizient umgesetzt, Leistungen gesteigert und Bilanzen optimiert werden können. Aber die Erwartung, dass wir immer funktionieren müssen, als wären wir Maschinen, ist eine Herausforderung. Wir werden müde und brauchen Pausen, erst im absichtslosen Spiel und in der Muße kommen wir zu uns selbst und machen überraschende Begegnungen mit anderen. Der wachsende Druck, in Schule und Beruf, in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft funktionalen Imperativen entsprechen zu müssen, kann überfordern. «Jenseits des Funktionalismus» – das meint daher zunächst ein Innehalten, eine Unterbrechung. Dabei geht es weniger um den eskapistischen Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft, sondern die Erinnerung daran, dass wir mehr und anderes sind als das, was wir schaffen und vorzeigen können. Wir sind Personen mit einer Würde, die uns nicht erst die anderen zuschreiben. Der Glutkern des biblischen Monotheismus ist auf das transfunktionale Geheimnis bezogen, das wir Gott nennen – und sein Ebenbild, den Menschen. Im Moment der Vorenthaltung, das zur Offenbarung des göttlichen Namens gehört, liegt eine Reserve gegenüber dem Diktat des Funktionalismus. Der Sabbat ist der Tag, der die Arbeit unterbricht und Gott gehört.

In seinem Buch Corpora (32020) hat Eckhard Nordhofen die Geschichte des Monotheismus eindrücklich als Mediengeschichte erzählt. Vom Kultbild über die Schrift zum Körper. Dabei geht es immer auch um Funktionalismus. Am Anfang stehen die Bilder. Sie sind die Medien des Polytheismus. Menschliche Bedürfnisse werden auf Götter projiziert. Nordhofen spricht vom Prinzip der Passung – und bringt dessen Mechanik in den Satz: «Kein menschliches Interesse ohne himmlische Adresse.» Der Polytheismus erscheint so als religiöser Funktionalismus. Wer den Göttern gibt, was er hat, darf erwarten, dass sie ihm geben, was er noch nicht hat, aber gerne hätte. Die Opfer werden als Tauschhandel gesehen. Als Göttinnen der Jagd, der Liebe und der Weisheit sind Artemis, Aphrodite und Athene für bestimmte Ressorts zuständig. Man muss ihnen geben, um zu empfangen. Diesen Funktionalismus legt Nordhofen kritisch offen und hebt sich dadurch von Stimmen ab, die den Polytheismus loben oder ihm eine interkulturelle Verständigungsleistung zusprechen. Der Ägyptologe Jan Assmann entgegnet, dass auch die Kultbilder auf Erfahrungen göttlicher Weltzuwendung zurückgehen, und würdigt, dass die Namen und Funktionen der Götter von einem Pantheon in das andere übersetzbar seien. Gerade diese Übersetzbarkeit sei die Grundlage von länder- und kulturübergreifenden Verträgen gewesen. Der biblische Monotheismus aber habe diese Grundlage durch seine Unterscheidung zwischen dem einen wahren Gott und den vielen falschen Göttern in Frage gestellt. Ohne die potentielle Intoleranz des Monotheismus zu bestreiten, die etwa im Opferwettstreit des Propheten Elia mit den Baalspriestern auf dem Berg Horeb deutlich wird, sieht Nordhofen gerade in der Götzenkritik der Propheten und ihrer Verteidigung des einen und einzigen Gottes einen genuin biblischen Beitrag zur Aufklärung.

Dabei betont er die Ambivalenz der Kultbilder. Ihre Sichtbarkeit ist ein Vorteil, aber die Bilder und Statuen können für die Götter selbst gehalten werden. Das ist ihr Nachteil. Diesen Mechanismus der Verwechselung – das Medium wird für den Gott gehalten – nimmt die Götzenpolemik der Propheten Israels aufs Korn. Sie spotten, dass man Götter aus Holz und Stein, die «von Menschenhand gemacht» sind, doch nicht anbeten könne. Dabei überspringen sie die Einwohnungsrituale, mit denen das Kultbild sakralisiert und aufgeladen wird.

Der Gott Israels ist anders, er ist nicht selbst gemacht. Seine Transzendenz verbietet es, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bemächtigen. Darin liegt seine anarchische Kraft. Er lässt sich nicht in das Pantheon einordnen, ist keine kosmische Macht, sondern steht der Welt gegenüber. Wenn das große Gegenüber nahekommt, bleibt er ungreifbar. Alteritätsmarkierungen zeigen seine Nähe an: der brennende Dornbusch, der nicht verbrennt, die Spur des Vorübergangs, die sich entzieht. Um jede Verwechslung mit der Welt der Geschöpfe auszuschließen, kommt es im exklusiven Monotheismus, der im babylonischen Exil durchbricht, zum Medienwechsel vom Kultbild zur Schrift.

Die Schrift ist ein Medium der Differenz. Das ist ihr Vorzug gegenüber dem Bild. Gott ist in der Schrift nicht gegenwärtig, er kann mit ihr nicht identifiziert werden. Allerdings ist er durch die Buchstaben, die er hinterlässt, als Abwesender doch da – zumindest indirekt. Das Buch Exodus erzählt, dass Gott selbst mit dem Finger die zehn Gebote auf die Tafeln geschrieben habe. Er hinterlässt seine Spur in der Inschrift der Tafeln. Diese sind «nicht menschengemacht». Die Schrift wird zur Heiligen Schrift, als Kultschrift löst sie das Bild ab, das Gesetz verspricht Freiheit, an die Stelle der Idolatrie tritt die «Grapholatrie». Diese Kennzeichnung ist heikel, weil mit der Betonung der pharisäischen Schriftfrömmigkeit leicht antijüdische Vorurteile aufgerufen werden, und die paulinische Rede vom Buchstaben, der tötet, und vom Geist, der lebendig macht, für Kontrastbildungen anfällig ist. Nordhofen, der schon in Corpora vom «guten Pharisäer» gesprochen und sich im Folgeband Media divina mit dem Antijudaismusproblem befasst hat, deutet den Streit zwischen Jesus und den Schriftgelehrten als Medienkonflikt. Der buchstabengetreuen Auslegung der Tora setzt Jesus einen Transfer ins Geistige gegenüber, ohne dadurch die Schrift zu relativieren oder annullieren. Dabei kommt es zu einer neuen Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Die Schriftgelehrten legen auf das Äußere wert, die Befolgung der Reinheitsvorschriften, des Sabbatgebots, Jesus hingegen komme es auf das Innere an, das Herz. Das ist schon bei den Propheten Israels vorgespurt, die von der Beschneidung des Herzens sprechen. In der Perikope von der Ehebrecherin wird dieser Medienkonflikt deutlich. Die Schriftgelehrten bringen die in flagranti ertappte Frau zu Jesus, der sich zur Causa äußern soll. Die Lage ist gespannt. Jesus steht in Verdacht, die Schrift zu relativieren, da seine Jünger die Reinheitsvorschriften und Sabbatgebote nicht so beachten, wie es erwartet wird. Jetzt aber scheint der Fall eindeutig: «Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen – was sagst du?» Anstatt auf die Frage einzugehen, tut Jesus etwas Unerwartetes. Er bückt sich und schreibt mit dem Finger in den Sand. Nur hier macht er vom Medium der Schrift Gebrauch. Die Geste unterbricht den Mechanismus der Verurteilung: alle gegen eine! Der schreibende Finger aber erinnert an den Gottesfinger auf dem Sinai. Nur wird diesmal nicht gesagt, was geschrieben wird – die Leerstelle bleibt ein Moment der Vorenthaltung. Dann folgt der berühmte Satz: «Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Dadurch lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Beschuldigten weg auf die Schuld der Beschuldiger – und schreibt erneut in den Sand. Denen, die meinten den Gotteswillen genau zu kennen und Steine werfen wollten, wird klar, dass auch sie auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen sind.

Im Prolog des Johannes-Evangeliums wird der Medienwechsel von der Schrift zum Körper vollzogen: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet» (Joh 1, 14). Das Christentum ist – anders als Judentum und Islam – keine Buchreligion! Nicht die Inlibration des Logos steht im Zentrum, sondern die Inkarnation. Die Inkarnation aber ist ein Ereignis, das in der Geschichte fortgesetzt werden soll. Und hier spielt der Körper der Frommen als Medium der Gottespräsenz eine wichtige Rolle. Über die Neudeutung der Brotbitte des Vaterunsers, die auch in Communio (IKaZ 46, 1/2017, 3–22) bereits vorgestellt wurde, verdeutlicht Nordhofen, wie der Gotteswille Fleisch werden kann. Er weist darauf hin, dass die geläufige Bitte «Unser tägliches Brot gib uns heute» nicht dem griechischen Original entspricht. Dort steht eine schwer übersetzbarere Neuschöpfung, die überhaupt nur einmal im ganzen griechischen Sprachschatz zu finden ist: epiousion. Es geht offensichtlich nicht um normales Brot, das sättigt, sondern um «überwesentliches» – wie der Begriff wörtlich heißt. Hieronymus setzt im Lateinischen treffsicher «supersubstantialis». Das hat sich nicht durchgesetzt. Zum einen war der Hunger eine zu elementare Erfahrung, zum anderen geht «supersubstantialis» nur schwer über die Lippen. «Unser himmlisches Brot gib uns heute» – Nordhofens Vorschlag käme dem ursprünglichen Sinn näher und träfe den gewohnten Rhythmus im Vaterunser. Sie passte auch gut in den Duktus des Gebets, in dem zuvor die Bitte geäußert wird, dass der Wille Gottes «wie im Himmel so auf Erden» geschehe. Es geht demnach um die Transposition des Gotteswillens ins Leben, um einen Kommentar im Fleisch. Das letzte Gottesmedium ist der Mensch. Er bleibt in der Spur Jesu, der den Seinen aufgetragen hat, zu seinem Gedächtnis den Ritus des Brotbrechens zu begehen. Wer das himmlische Brot empfängt, wird durch die Gabe der Gegenwart hineingenommen in die Gemeinschaft mit dem inkarnierten Logos, um selbst Medium der Gottespräsenz zu werden und dem Evangelium ein Gesicht zu geben. Die naheliegende Versuchung, sich selbst mit dem göttlichen Willen gleichzusetzen, wird im Vaterunser durch die sich anschließende Bitte um Vergebung pariert. Sie erinnert daran, dass wir vergebungsbedürftig sind und uns nicht anmaßen können Gott zu sein. Gottesbemächtigung – das wäre in der Tat usurpatorisch. Daher wirbt Eckhard Nordhofen für eine privative Theologie, die um das Geheimnis Gottes weiß, das nahekommt und doch entzogen bleibt. Diese «Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung» steht gegen jede Form von Fundamentalismus, sie macht die anarchische Kraft des Monotheismus aus. Sie widersetzt sich jeder Funktionalisierung durch menschliche Interessen. Wie Gott unverfügbar ist, so ist es auch der Mensch, sein Ebenbild. Er ist anderes und mehr als die Funktionen, die ihm andere zuschreiben.

In der Gegenwart wird die Mediengeschichte vom Bild über die Schrift zum Körper durch die Digitalisierung neu herausgefordert. Wir sind Zeugen einer wachsenden Desinkarnation, die mit der Realität des Virtuellen verbunden ist. Sprache und Schrift – Kulturtechniken, die bislang den Menschen ausgezeichnet haben – werden durch ChatGPT nahezu perfekt simuliert. Es lässt sich kaum noch unterscheiden, ob ein Text durch KI oder durch einen menschlichen Autor verfasst wurde. Die Maschine ist menschengleich geworden – so scheint es. Schon Heinrich Heine notierte 1834 in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland:

Es geht die Sage, daß ein englischer Mechanikus, der schon die künstlichsten Maschinen erdacht, endlich auch auf den Einfall geraten, einen Menschen zu fabrizieren; dieses sei ihm auch endlich gelungen, das Werk seiner Hände konnte sich ganz wie ein Mensch gebärden und betragen, es trug in der ledernen Brust sogar eine Art menschlichen Gefühls, das von den gewöhnlichen Gefühlen der Engländer nicht gar zu sehr verschieden war, es konnte in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen, und eben das Geräusch der innern Räder, Raspeln und Schrauben, das man dann vernahm, gab diesen Tönen eine echt englische Aussprache; kurz, dieses Automat war ein vollendeter Gentleman, und zu einem echten Menschen fehlte ihm gar nichts als eine Seele. Diese aber hat ihm der englische Mechanikus nicht geben können, und das arme Geschöpf, das sich solchen Mangels bewusst worden, quälte nun Tag und Nacht seinen Schöpfer mit der Bitte, ihm eine Seele zu geben. Solche Bitte, die sich immer dringender wiederholte, wurde jenem Künstler endlich so unerträglich, daß er vor seinem eignen Kunstwerk die Flucht ergriff. Das Automat aber nahm gleich Extrapost, verfolgte ihn nach dem Kontinente, reist beständig hinter ihm her, erwischt ihn manchmal und schnarrt und grunzt ihm dann entgegen: «Give me a soul!»

Was Heine imaginiert hat, ist heute zu einer akuten Herausforderung geworden. Diese nimmt Eckhard Nordhofen in seinem Eröffnungsbeitrag auf und stellt dem Diktat des Funktionalismus das Moment der Vorenthaltung entgegen, das mit dem Gottesnamen JHWH – dem absoluten Singular – verbunden ist. Der BibelwissenschaftlerLudger Schwienhorst-Schönberger sieht die Ambivalenz, dass das Opferwesen als Instrumentalisierung Gottes verstanden werden kann, er entwickelt aber eine alternative Sicht des biblischen Opferwesens, das er als heiligen Tausch, als Kommunikation zwischen den Menschen und Gott beschreibt. Der Philosoph Holger Zaborowski hingegen dekonstruiert die funktionalistische Metaphysik, die auch im nachmetaphysischen Denken der Postmoderne hintergründig wirksam sei, und setzt ihr das Zeugnis des Unbedingten entgegen. Er erinnert mit Kant daran, dass der Mensch Zweck an sich selbst, nie aber Mittel zu etwas anderem ist. Menschenwürde und Menschenrechte haben ihren Grund jenseits des Funktionalismus. Auch im Bereich der Pädagogik darf Bildung nicht einseitig an Leistungen gebunden werden. Klaus Mertes SJ wirbt dafür, in Schule und Unterricht den Sinn für das Übernützliche zu kultivieren, fügt aber das Paradox an, dass das Nutzlose nur nützt, wenn es nicht wegen des Nutzens angezielt wird. Die Kirche steht vor einem epochalen Strukturwandel. Hier werden oft externe Beratungsfirmen konsultiert, die Betriebsblindheit korrigieren und dysfunktionale Strukturen überwinden helfen sollen. Justin Arickal geht den Chancen und Grenzen von Unternehmensberatungen nach, ohne zu vergessen, dass mit der sakramentalen Wirklichkeit der Kirche ihre Unverzweckbarkeit gegeben ist. Das wird vor allem deutlich in der Feier der Liturgie als heiliger Handlung und ernstem Spiel. Liturgie ist nach Romano Guardini zwecklos und sinnvoll zugleich, woran Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in einem dichten Essay erinnert. Auch Kunst hat – nach einer Wendung Adornos – «die Funktion des Funktionslosen». Das Schöne ist absichtslos, das Erhabene und Hässliche auch, wie Ulrich Greiner an literarischen Beispielen eindrücklich zeigen kann. Die Perspektiven bringen ein Gespräch zwischen Walter Kasper und Jan-Heiner Tück über das Geheimnis des Karsamstags, das die theologische Bedeutung des Descensus Christi auslotet. Ein Beitrag von Cornelia Weber-Lehmann informiert über die archäologischen Untersuchungen des Grabes des Apostels Paulus in Rom.

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