Celan und Heidegger in TodtnaubergEin Gedicht im Streit der Interpretationen

Für Uwe Justus Wenzel

I

Paul Celan (1920–1970), der am 23. November dieses Jahres seinen hundertsten Geburtstag begangen hätte, hat in vielen seiner Gedichte versucht, den verstummten Opfern der Shoah einen Erinnerungsort in der Sprache zu verschaffen. Man hat seine Gedichte daher als poetische Kenotaphe bezeichnen können, als Textgräber für die unbestatteten Toten, besonders auch seine Eltern. Als jüdischer Dichter, der im französischen Exil in Paris in der Sprache der Mörder seiner Mutter Gedichte geschrieben hat, suchte er immer wieder Kontakt zu deutschen Schriftstellern. Bei einem Treffen der Gruppe 47 in Niendorf bei Lübeck 1952, an dem er auf Vermittlung von Ingeborg Bachmann teilnehmen konnte, hat er die Todesfuge und einige andere Gedichte gelesen. Die Reaktion war verhalten bis ablehnend. Man hat seinen pathetischen Rezitationsstil nach Art der Wiener Burgschauspieler der 1930er Jahre nicht nur mit einem «Singsang wie in einer Synagoge», sondern sogar mit «Göbbels»1 verglichen. Die Wahrnehmungsunterschiede zwischen den westdeutschen Literaten der Nachkriegszeit, von denen viele ehemalige Wehrmachtssoldaten waren, und dem jüdischen Lyriker aus der Bukowina wurden schlagartig deutlich. Doch damit nicht genug, bei einer deutsch-französischen Schriftstellertagung in Vézelay war es 1956 zu einer offen antisemitischen Äußerung gekommen, die auch bei den rheinischen Freunden Celans Irritationen hervorrief. Im Nachgang dazu äußerte Celan in einem Brief an den Kölner Publizisten Paul Schallück, dass er als zufällig Überlebender ein billiges Verzeihen, das einem Vergessen gleichkäme, nicht gewähren könne und wolle:

Der Jude Paul C. wird gerne verzeihen. Aber er findet, dass es ihm dabei nicht leicht gemacht wird. Denn warum soll er verzeihen müssen, was sich so hartnäckig weigert, das zu Verzeihende bei seinem wahren Namen zu nennen? Der Jude P.C. ist als Jude ein (mehr oder minder zufällig) Überlebender. Er darf, wenn er richtig verzeihen soll, nicht vergessen, im Namen wessen er, der als Jude angesprochen ist, mitverzeiht. Ein billiges Verzeihen ist dem billig um Verzeihung Bittenden gegenüber kein Verzeihen mehr; den anderen, also jenen gegenüber, die nicht mehr verzeihen können, und auch jenen, den Juden und Nichtjuden, die um all das wissen, gegenüber, ist es Verrat.2

Die in Celans Brief angeschnittenen Fragen sind komplex. Sie berühren historische, politische, moralische und letztlich auch theologische Aspekte. Ein leichtes Verzeihen, dass vergisst und verdrängt, ist eine Ohrfeige für die Opfer und ihre Angehörigen. Es lässt die Täter und Mitläufer, die nichts gesehen und nichts gehört haben wollen, ohne Konfrontation mit ihrer Schuld davonkommen. Aber auch ein schweres Verzeihen, das sich der Vergangenheit stellt und die Vergehen im Sinne einer Reinigung des Gedächtnisses durcharbeitet, wirft Fragen auf: Müssen die Täter zuerst ihre Schuld bekennen und Reue zeigen, bevor ihnen vergeben werden kann? Oder werden sie gerade durch den zuvorkommenden Akt der Vergebung in die Lage versetzt, von der Verdrängung und Verleugnung ihrer Schuld loszukommen, sich von sich selbst zu distanzieren und zu bereuen? Darf ihnen überhaupt vergeben werden, da die Opfer, die sie ermordet haben, ja nicht mehr sprechen können und niemand sich anmaßen darf, in ihrem Namen zu sprechen? Wie gehen Nachfahren von jüdischen Opfern und deutschen Tätern mit diesen Fragen um?

II

Als zufällig Überlebender ringt Celan je neu um eine ethische Haltung gegenüber denen, die aus Täter-Zusammenhängen stammen oder selbst in die NS-Ideologie verstrickt waren. Das gilt insbesondere für sein Verhältnis zu Martin Heidegger, der von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP war und sich als Rektor der Universität Freiburg für die Einführung des Führerprinzips an den deutschen Universitäten stark gemacht hat. Celan ist seit 1951 ein intensiver Leser der Schriften Heideggers, über Hölderlin, Rilke und Trakl gibt es eine gewisse Nähe im Sprachverständnis, er weiß um die politischen Verfehlungen und kann über die Freiburger Rektoratsrede nicht einfach hinweggehen, gesteht dem Verfasser von Sein und Zeit aber zu, an seiner Schuld zu «würgen» und «nicht so zu tun, als habe er nie gefehlt, der den Makel, der an ihm haftet, nicht kaschiert»3. Ab 1957 schickt Celan Heidegger seine Gedichtbände zu, weigert sich aber, an der Festschrift zu seinem 70. Geburtstag im Neske Verlag mitzuwirken, da ihm die Namen der an der Festschrift Beteiligten im Vorfeld nicht zugänglich gemacht werden. Im Juli 1967 kommt es in Freiburg zur ersten persönlichen Begegnung zwischen dem Dichter der Todesfuge und dem deutschen Philosophen. Celan war der Einladung des Germanisten Gerhart Baumann gefolgt und hatte im bis auf den letzten Platz gefüllten Auditorium maximum der Universität Freiburg eine Lesung gehalten. Bereits im Vorfeld hatte Heidegger Baumann geschrieben: «Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennenzulernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag.»4 Heidegger ist als Ehrengast bei der Lesung anwesend. Unmittelbar vor der Veranstaltung kommt es zu einer Begebenheit, die das schwankende Verhältnis Celans zu Heidegger gleichnishaft zum Ausdruck bringt. Ein gemeinsames Presse-Foto mit dem Philosophen lehnt der Dichter zunächst schroff ab, ist dann aber wenige Augenblicke später doch bereit dazu. Auch nimmt er die Einladung zu einer gemeinsamen Exkursion in den Schwarzwald am Folgetag an. So kommt es zum Besuch Celans in Heideggers Schwarzwaldhütte und einer Wanderung im Hochmoor, die wegen regnerischen Wetters vorzeitig abgebrochen werden muss. In einem Brief an seine Frau berichtet Celan über die Ereignisse: «Die Lesung in Freiburg ist ein außergewöhnlicher Erfolg gewesen. […] Heidegger war auf mich zugekommen – am Tag nach meiner Lesung bin ich mit Herrn Neumann [dem Assistenten von Gerhart Baumann] in Heideggers Hütte gewesen. Dann kam es im Auto zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich klare Worte gebraucht habe. Herr Neumann, der Zeuge war, hat mir hinterher gesagt, dass dieses Gespräch eine epochale Bedeutung hatte. Ich hoffe, dass Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus eine Warnung sein werden.»5 Das Gedicht Todtnauberg, das am 1. August 1967 in Frankfurt entstanden ist,6 kann als poetische Verdichtung dieser denkwürdigen Begegnung zwischen dem jüdischen Dichter und dem deutschen Philosophen gelesen werden, es lautet:

Todtnauberg

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,

in der
Hütte,

die in das Buch
– wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? –,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,

Krudes, später, im Fahren,
deutlich,

der uns fährt, der Mensch,
der‘s mit anhört,

die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,

Feuchtes,
viel.    (GW II, 255)

Der Titel des Gedichts hält den Begegnungsort im Schwarzwald, an dessen Rand Heideggers Hütte gelegen ist, fest. Das Gedicht nennt mit «Arnika», «Augentrost» und «Orchis» Pflanzen des Hochmoors, die eine vielschichtige Semantik mit sich führen. Die Heilpflanze Arnika spielt vielleicht auf Heideggers Bemerkung an, «es könnte heilsam sein, Celan den Schwarzwald zu zeigen.»7 Arnika wird mit «Augentrost» zusammen genannt – ein botanischer Name, der nahelegt, die Pflanze könne die Tränen, das Feuchte, abwischen (vgl. Jes 25, 8). Für Celan weckt die Pflanze zugleich Erinnerungen an seine Zeit im Lager, wie er seiner Frau gegenüber in einem Brief mitgeteilt hat: «Etwas weiter – die Wiesen waren bald mit Zeitlosen übersät –, als ich die Straße verließ, um den Ziegenscheunenweg zu nehmen, stand eine andere Blume da: der Augentrost – l’euphraise – wovon ich Dir ziemlich oft, wie ich glaube, erzählt habe. Im Krieg, in der Moldau, war ich, mit zwei Eimern (Wasser? Suppe?) beladen, die ich, vor Mittag, in die kleine Stadt holengehen sollte, um sie zur ‹Baustelle› zu bringen, diesem Augen-Trost begegnet.»8 Die Wendung «Orchis und Orchis» ruft Knabenkräuter auf, die «einzeln» dastehen. Sie könnte symbolisch für den jüdischen Dichter und den deutschen Denker stehen, zwei Männer, die sich bei aller Annäherung fremd bleiben und nicht wirklich zueinander finden.

Es folgt ein poetisches Stenogramm, das den Besuch in der Hütte und den Ausflug ins Moor festhält. Von außen, dem «Brunnen» mit dem «Sternwürfel», der wie das gelb blühende Arnika an Jüdisches erinnern mag, lenkt es den Blick ins Innere. Statt andere Einrichtungsgegenstände wie Möbel oder Bilder zu nennen, wird die Aufmerksamkeit auf das «Buch» in der Hütte gelenkt. In dieses wird der «Name» eingetragen – unterbrochen durch die Frage, welche Namen wohl sonst noch im Hüttenbuch verzeichnet stehen. Die in Parenthese eingeschobene Frage lässt sich als vorsichtiges Distanzsignal lesen, das sich auf die politische Einstellung Heideggers und der vorherigen Gäste bezieht. Die Mitwirkung an der Heidegger-Festschrift hatte Celan abgelehnt, weil sich darin falsche, belastete Namen finden könnten.9 Dann wird Celans Hüttenbucheintrag – poetisch leicht erweitert – aufgenommen: jene handgeschriebene Zeile von einer Hoffnung «auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen». Das Kommende spannt einen Raum der Erwartung auf, in dem sich etwas ereignen könnte, was bislang aussteht und fehlt. Reminiszenzen an die Wanderung sowie die Rückfahrt schließen sich an. Die Rede von «uneingeebneten Waldwasen» könnte andeuten, dass unter den Wiesen etwas begraben ist, was verdeckt bleiben soll und nicht ans Licht kommt. Die Verstörung, die – mit Martin Buber gesprochen – aus der Begegnung eine «Vergegnung» werden lässt, wird in die Wendung gefasst: «Krudes, später im Fahren, / deutlich.» Mag sein, dass Celan hier auf Adornos Jargon der Eigentlichkeit anspielt, der bei Heidegger «die krude Vorstellung von der Archaik der Sprache»10 bemängelt hat. Aber damit ist die Frage noch nicht geklärt, was das Krude im Zusammenhang mit dem Gedicht meint. Wolfgang Emmerich versucht eine Antwort: «Hat Celan Heidegger gegenüber ‹krude› gesprochen, salopp ausgedrückt, ihm ordentlich die Meinung gesagt? Oder haben beide krude und deutlich zueinander gesprochen, ohne zu einem Konsens zu kommen? Oder hat nur Heidegger gesprochen und Celans Erwartung einer Erklärung seines Handelns seinerseits ‹krude› abgewiesen?»11 Der Zeuge, der mithört und als «Mensch» ausgewiesen, ja geadelt wird, der Fahrer Gerhard Neumann, hat später, viel später über die gemeinsame Fahrt in seinem VW Käfer berichtet, die beiden, der Dichter und der Philosoph, hätten sich auf der Rückbank angeschwiegen.12 Seiner Frau und seinem Zürcher Freund Franz Wurm gegenüber hat Celan anderes berichtet.13 Das Gedicht endet: «Feuchtes / viel» – eine Wendung, die über den sumpfigen Moorboden und die regnerische Witterung hinaus noch andere Bedeutungsschichten evoziert. «Zum / Aug geh, zum feuchten», heißt es in der Engführung.

Celan hat sein Gedicht Todtnauberg im Januar 1968 in einer bibliophilen Sonderausgabe in 50 Exemplaren drucken lassen. Die Nummer 1 hat er dem Philosophen umgehend zukommen lassen – durchaus nicht ohne Hoffnungen. Heideggers Antwortbrief vom 30. Januar 1968 bleibt allerdings feierlich und vage, das Wort des Dichters sei «Ermunterung und Mahnung zugleich» und bewahre «das Andenken an einen vielfältig gestimmten Tag im Schwarzwald» auf. «Seitdem haben wir Vieles einander zugeschwiegen.»14 Die Hoffnung Celans auf «ein kommendes (un- / gesäumt kommendes) / Wort»15, das Klärung im Blick auf die Schatten der Vergangenheit hätte bringen können, läuft damit vorerst ins Leere. Heidegger hatte zwar bereits in seinen Bremer Vorträgen, in denen er das Wesen der modernen Technik als ‹Ge-Stell› bezeichnet, die fabrikmäßige Tötung in den Vernichtungslagern angesprochen.16 Aber über die jüdischen Opfer der Shoah, die konkrete Schuld der Täter und seine persönliche Verstrickung in die NS-Ideologie hat er ebenso hartnäckig geschwiegen wie über sein unrühmliches Verhalten gegenüber seinem Lehrer Edmund Husserl.17

Man hat in diesem Zusammenhang von Heideggers «Unfähigkeit zu trauern»18 gesprochen. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard ist noch weiter gegangen und hat das anhaltende Schweigen Heideggers über die Judenvernichtung als den eigentlichen Fehl seines Denkens bezeichnet, diese Leerstelle wiege schwerer als die ideologischen Verfehlungen im Dritten Reich. Er schließt sein Buch Heidegger und «die Juden» kaum zufällig mit einem Verweis auf das Gedicht Todtnauberg: «‹Celan› ist weder der Anfang noch das Ende Heideggers, er ist dessen Fehl: woran ihm fehlt, was er verfehlt und dessen Fehlen ihm fehlt.»19 Der Verfasser von Seit und Zeit, der die Seinsvergessenheit der abendländischen Onto-Theologie herausgestellt hat, hat selbst versäumt und «vergessen», dem Leiden der jüdischen Opfer ein Gedächtnis zu geben. Der judenfeindliche Subtext des Seinsdenkens ist durch die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte aus dem Nachlass noch augenfälliger geworden.20

III

Bemerkenswert ist, dass Jacques Derrida in seinem Essay über Vergeben auf die viel kommentierte Begegnung zwischen dem jüdischen Dichter und dem deutschen Philosophen eingeht und davor warnt, das Gedicht Todtnauberg auf ein allzu simples Narrativ mit folgendem Muster zu reduzieren: Celan sei mit der klaren Erwartung in den Schwarzwald gekommen, dass Heidegger im Namen «der» Deutschen «die» Juden um Vergebung bitten würde, der deutsche Philosoph habe das erwartete Wort nicht gesprochen, also sei der Dichter enttäuscht wieder abgereist und habe diese Enttäuschung wenig später in einem Gedicht aufbewahrt.21 Das Gedicht Todtnauberg ist für Derrida anderes und mehr als ein poetisches Protokoll einer enttäuschten Erwartung. Es ist für ihn aber auch anderes und weniger als eine «Prüfung»22 Heideggers durch Celan oder gar die wohlkalkulierte Inszenierung einer «Abrechnung»23, ja eines «Gerichts der Toten»24 über den deutschen Philosophen, wie Jean Bollack gemeint hat. Die Signatur im Hüttenbuch, von der das Gedicht spricht, zeuge davon, dass der Dichter seinen Namen hinterlassen und die Gastfreundschaft angenommen habe – trotz einer gewissen Beunruhigung, welche anderen, möglicherweise historisch belasteten Namen dort wohl sonst noch verzeichnet stehen. Aber er hat im Vorfeld seines Besuches keine Bedingung ausgesprochen. Hinzu komme die Rede von einer «Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen». Diese Hoffnung berühre den Raum des Unverfügbaren und könne nicht in das Schema von Bitte und Gewähr gepresst werden, sie halte den Horizont offen für etwas Kommendes, die Gabe eines Wortes, mit dem nicht zu rechnen sei und das daher auch ausbleiben könne. Celans Gedicht Todtnauberg sei selbst Zeugnis einer Begegnung und Gabe, auf die Heidegger als Erstempfänger – aber auch jeder andere Leser – nicht spekuliert haben kann. Die Möglichkeit des Unmöglichen, die Vergebung des Unvergebbaren habe, so scheint Derrida andeuten zu wollen, zwischen dem 47jährigen jüdischen Dichter, der seine Eltern in der Shoah verloren hat, und dem 78jährigen deutschen Philosophen, der in das NS-Regime verstrickt war, zumindest im Raum gestanden. Das entspricht in etwa der Einschätzung von George Steiner, der meint, Celan sei bei dem Treffen «das Risiko eines äußersten Vertrauens in die Möglichkeit der Begegnung»25 eingegangen.

Es ist unklar, ob Derrida davon wusste, dass Heideggers briefliche Antwort auf die Zusendung eines bibliophilen Sonderdrucks des Gedichts Todtnauberg Celan nicht befriedigt hat. Der sich in seiner Existenz als jüdischer Dichter bedroht fühlende Celan hatte mehr als ein paar freundliche, aber letztlich unverbindlich bleibende Zeilen erwartet. In einer späten an Heidegger adressierten, aber nicht versandten Notiz hat er festgehalten, «daß Sie das Dichterische, und so wage ich zu vermuten, das Denkerische, in beider ernstem Verantwortungswillen, entscheidend schwächen»26. Obwohl die Hoffnung auf ein klärendes Wort des Denkers sich nicht erfüllt, ist Celan weiteren Begegnungen mit Heidegger im Sommer 1969 und März 1970 nicht aus dem Weg gegangen.27 Das hätte Derrida gegen Bollacks These von einem kalkuliert inszenierten «Tribunal der Toten» über den Philosophen, den «Meister aus Deutschland» (Rüdiger Safranski), anführen können.

Wie dem auch sei, Derridas Unterscheidung zwischen dem Unverjährbaren, das juristisch verfolgt werden muss, und dem Unvergebbaren, das Vergebung allererst auf den Plan ruft, kommt mit Celans Absage an ein billiges Verzeihen darin überein, dass echtes Vergeben an die schmerzliche Durcharbeitung des Vergangenen gebunden ist und daher nicht mit Vergessen oder Verdrängen verwechselt werden darf. Selbst wenn das Unmögliche möglich würde und Überlebende im Täter den vergebungsbedürftige Menschen sehen könnten, dann dürften sie nach Celan nicht vergessen, in wessen Namen sie im Falle der Vergebung mitverzeihen. Letztlich ist der Akt des Verzeihens unvertretbar und auch die Überlebenden können den Tätern nicht im Namen der Opfer verzeihen. An dieser Stelle wird deutlich, dass es aporetisch ist, eine kollektive Größe um Vergebung zu bitten oder im Namen eines Kollektivs Vergebung zu gewähren, und kaum zufällig passiert Derridas Gedankengang hier die Grenze ins Theologische, wenn er schreibt: «Das ist vielleicht einer der Gründe, wenn nicht der einzige Grund dafür, dass häufig Gott um Vergebung gebeten wird. Und zwar nicht etwa deshalb, weil nur Gott allein zur Vergebung, zu einem Vergeben-Können fähig wäre, das dem Menschen umso unzugänglicher wäre, sondern deshalb, weil in Ermangelung der Singularität eines Opfers, das bisweilen nicht einmal mehr da ist, um die Bitte um Vergebung entgegenzunehmen oder Vergebung zu gewähren, oder in Abwesenheit des Verbrechers oder des Sünders, Gott der einzige Name, der Name des Namens einer absoluten und als solche benennbaren Singularität ist. Des absoluten Stellvertreters. Des absoluten Zeugen, des absoluten überlebenden Zeugen.»28

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